Menü

Warum sich ein reproduktionsorientierter Ansatz statt am Geld an der Zeit orientieren sollte

Dieser Beitrag ist Teil der Dokumentation des Workshops "Jenseits von Corona – Arbeit, Reproduktion, Natur" auf der Attac Sommerakademie 2021 von Stefanie Hürtgen, Birgit Kraemer, Fritz Reheis, Ingrid Kurz-Scherf und Christa Wichterich.

These 1 

Wenn Lebensräume von Wildtieren zurückgedrängt und nach derzeitigem Kenntnisstand dadurch Zoonosen und letztlich Pandemien begünstigt werden (siehe v.a. Stefanie), wenn Ressourcen im Gesundheits- und Pflegewesen als lästige Kosten knapp gehalten werden, so dass die Bedürfnisse der dort arbeitenden Menschen genauso wie der Kranken und Pflegebedürftigen übergangen werden (siehe v.a. Christa), wenn die Politik in einem hektischen Hin und Her die Kontrolle über das pandemische Geschehen zu verlieren droht und so ihre Glaubwürdigkeit immer mehr verspielt (siehe v.a. Ingrid), wenn die Nationalstaaten auf eine globale gesundheitspolitische Herausforderung mit einem Wettlauf um nationale Schadensminimierung reagieren und wenn im privaten Alltag Menschen durch Hygieneregeln, Kontaktbeschränkungen, Multitasking-Zumutungen (Homeoffice und Homeschooling), berufs- und bereichsspezifische Lockdowns (oft mit der Konsequenz der Zerstörung von Lebenswerken) in die Erschöpfung getrieben werden – dann geht all dies mit Beschleunigungszwängen und Zeitverknappung einher. Corona aber, so wissen wir längst, macht nur besonders deutlich sichtbar, was im Grunde längst bekannt ist: Die herrschende Wirtschaftsweise erzeugt auf fast allen Ebenen systematischen Zeitdruck. 

Eine populäre Fassung des Zeitdrucks ist die 1748 von Benjamin Franklin in einem „Ratgeber für junge Kaufleute“ geprägte Formel „Zeit ist Geld“. Sie gilt insbesondere dann, wenn Geld als Kapital eingesetzt wird. Diese Gleichung bringt in der Tat den Zusammenhang zwischen der herrschenden kapitalistischen Wirtschaftsweise und dem damit verbundenen Umgang mit Zeit auf den Punkt. Befreiung vom Zeitdruck ist deshalb ohne eine   Befreiung vom Kapitalismus, verstanden als ein Wirtschaftssystem, das sich der Zwangslogik der Verwertung von Geld (Akkumulation) unterworfen hat, nicht möglich. Dies gilt vermutlich unabhängig davon, ob diese Befreiung als allumfassende oder als graduelle Transformation geschieht. 

These 2 

Ziel der Befreiung vom Zeitdruck ist die Wiederaneignung der Zeit, die im Kapitalismus weitgehend zum Mittel der Geldverwertung verkommenen ist. Dazu muss als erstes geklärt werden, was Zeit eigentlich ist, wenn sie nicht mit Geld gleichgesetzt werden kann. Zeit ist, so mein Ausgangspunkt, Leben. Die Wiederaneignung von Zeit müsste also zu allererst darin bestehen, die inhärenten Zeiten des Lebens (System- und Eigenzeiten) anzuerkennen: seine Geschwindigkeiten, Rhythmen und Synchronisationserfordernisse. Dabei unterscheide ich im Folgenden analytisch den Umgang mit der natürlichen Umwelt (Mensch-Natur-Verhältnis), der sozialen Mitwelt (Mensch-Mensch-Verhältnis) und der personalen Innenwelt (Selbst-Verhältnis) und versuche, die am Beispiel Corona analysierten Entwicklungen zu generalisieren.

In Bezug auf die natürliche Umwelt erfordert die Wiederaneignung von Zeit, die Notwendigkeit der Regeneration der Natur, also der natürlichen Quellen und Senken menschlichen Wirtschaftens, anzuerkennen und zum Maßstab der menschlichen Praxis zu machen. Das betrifft neben den Lebensräumen von Wildtieren und der Artenvielfalt die Wälder, Böden, Wasser- und andere Stoffkreisläufe (auch den des Kohlenstoffs, siehe Klimakatastrophe). Im Gegensatz zum Leitbild der Regenerativität im Umgang mit der natürlichen Umwelt steht der Ressourcen-Extraktivismus des Kapitalismus, der belebte und unbelebte Lebensgrundlagen ausbeutet, ohne sich um die längerfristigen Konsequenzen für das Leben insgesamt zu kümmern. 

In Bezug auf die soziale Mitwelt erfordert die Wiederaneignung von Zeit, die inhärenten Zeiten der zwischenmenschlichen Beziehungen zu respektieren. Aus einer materialistischen Perspektive betrifft dies zunächst die Arbeitsteilung im Zusammenhang mit der materiellen Produktion und Reproduktion (nach Sabine Hofmeister als „Reproduktionsring“ zusammenfassbar) der Lebensmittel in einem umfassenden Sinn, also einschließlich Kleidung, Wohnen, Kultur etc. Der Respekt vor inhärenten Zeiten betrifft aber genauso die nicht auf Materielles beschränkte Sorgearbeit für Menschen (Pflege, Bildung, Gesundheit) wie auch die Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform. Mit anderen Worten: So wie zum Zweck der Wiederaneignung von Zeit die Eingriffe in die natürliche Umwelt dem Prinzip der natürlichen Regenerativität folgen, muss sich der Umgang mit der sozialen Mitwelt am Prinzip der sozialen Reziprozität der Kooperierenden (Nehmen-Geben, Versorgtwerden-Sorgen etc.) und Kommunizierenden (Hören-Sprechen, Fragen-Antworten, Informieren-Bewerten, Deliberation-Willensbildung etc.) orientieren. Das impliziert, die Wirtschaft und die Demokratie fundamental zu demokratisieren (u.a. durch die Bildung von Räten, in denen Betroffene zu Beteiligten werden, und durch die Bereitstellung angemessener Zeiträume, um demokratische Prozesse überhaupt zu ermöglichen). Im Gegensatz dazu steht die kapitalistische Form der Vergesellschaftung, die die menschliche Fähigkeit zu Arbeit und Sorge für Mitmenschen nutzt, ohne für die Konsequenzen Verantwortung zu übernehmen (Sorge-Extraktivismus als Form der Aneignung der Arbeit anderer), und die dabei das Demokratieprinzip in sein Gegenteil verkehrt (Populismus, Technokratie, Autokratie).

In Bezug auf die personale Innenwelt bedeutet die Wiederaneignung von Zeit zunächst, die inhärenten Zeiten des Stoffwechsels zwischen der inneren und der äußeren Natur des Menschen zu respektieren (Atmung, Ernährung, Anstrengung-Entspannung etc.). Dazu gehören auch die inhärenten Zeiten von Gesundheit (als körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden). Dafür  ist entscheidend, dass der Mensch sein Leben als etwas Zusammenhängendes, Sinnvolles und Kontrollierbares erfahren kann (nach Aaron Antonovsky die „Kohärenz“ des Lebens). Das hängt damit zusammen, dass der Mensch, im Unterschied zu allen anderen Lebewesen, darauf angewiesen und dazu befähigt ist, sein Tun immer wieder zu reflektieren. Reflexion geht dabei weit über das Kognitive hinaus und umfasst auch das Emotionale und Körperliche. Mit anderen Worten: Wenn die Wiederaneignung von Zeit gelingen soll, müssen auch Pflege, Bildung und Gesundheit nicht nur sozial reziprok organisiert, sondern auch personal reflexiv erlebt und vollzogen werden. Diese personale Reflexivität in einem „leiblichen“ Sinn (Maurice Merleau-Ponty) äußert sich ganz zentral im menschlichen Streben nach Selbstwirksamkeit: Der Mensch will selbst Autor seines Handelns sein, Handlungszyklen abschließen und letztlich mit sich selbst ins Reine kommen – er will leben, nicht gelebt werden. Genau das verhindern kapitalistische Alltagsverhältnissen, sowohl in der Produktions- wie in der Reproduktionssphäre, indem sie den Menschen zum Mittel der Verwertung von Geld machen. 

These 3

Wiederaneignung von Zeit heißt konkret: Nicht das Kalkül von Finanzinvestoren, sondern das kompetente Wissen und Können der arbeitenden Menschen ist die Grundlage für das Gelingen ihrer Arbeit. Das gilt für die materielle Arbeit genauso wie für die soziale, für die zeitliche Dimensionierung der Versorgung von Böden und Pflanzen mit Nährstoffen (Landwirtschaft), für den Umgang mit Materie und Materialien (Handwerk, Industrie) und für den Umgang mit Menschen (Sorge als Für- und Vorsorge). Nicht das Kalkül von Finanzinvestoren, sondern die kommunikativen und kooperativen Kompetenzen sind die Grundlage für gelingende Kooperation und Kommunikation – im Kontext materieller Arbeit, sozialer Für- und Vorsorge wie auch der demokratischen Gestaltung der Regeln des Zusammenlebens in der Demokratie. Und nicht das Kalkül von Finanzinvestoren, sondern das kompetente Bewusstsein über die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Körper, Seele und Geist ist die Grundlage für Entscheidungen darüber, wieviel Zeit eine Gesellschaft etwa für die Prävention von Gefahren, die Heilung von Krankheiten und die Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen einräumen will. Wo all diese Kompetenzen bisher nur schlummern, können sie – mit Geduld – entfaltet werden. 

Exkurs: Zeit ist in der Welt des Geldes überhaupt etwas völlig anderes als in der Welt des Lebens. Das Geld „behandelt“ Zeit als etwas rein Quantitatives, das Leben zunächst vor allem als etwas Qualitatives. Die zeitliche Dynamik des sich selbst vermehrenden Geldes ist exponentiell, die des Lebens primär zyklisch, aber auch linear (wie etwa die Wachstumsringe und das Längenwachstum der Bäume zeigen). Und der Horizont des Geldbesitzers reicht nur bis zur Amortisation des vorgeschossenen Kapitals (return of investment), der Horizont des Lebens bis zum Tod des Lebewesens oder der Spezies. 

These 4

Zusammengefasst und als Metapher formuliert: Soll die „Symphonie des Lebens“ (Friedrich Cramer) hinter dem Lärm des Geldes hörbar werden, müssen Verhältnisse (Technologien, Institutionen, Regeln) und Verhalten (Lebensstil, Habitus) auf eine neue Grundlage gestellt werden. An die Stelle einer der Akkumulationsdynamik des Geldes folgenden finanzmarktorientierten Politik tritt dann eine dem Leben dienende umfassende Zeitpolitik. Sie sorgt für Regenerativität (natürliche Umwelt), Reziprozität (soziale Mitwelt) und Reflexivität (personale Innenwelt) – kurz für umfassenden Resonanzfähigkeit. Sie zielt letztlich auf ein neues Verständnis von Wohlstand: Wohlstand als Verfügung über selbstbestimmte Zeit (Zeitwohlstand) – natürlich auf der Basis einer angemessenen materiellen Grundversorgung („genug, für jeden, immer“). 

Zeitpolitik könnte einen Ausweg aus der Sackgasse der Formel „Zeit ist Geld“ eröffnen. Wichtig wären verbindliche Obergrenzen für das, was der Mensch der Natur, seinen Mitmenschen und sich selbst zumuten will. Zeitpolitik macht Geld zwar nicht zwingend überflüssig, lenkt es aber, wenn seine Vermittlungsfunktion für die Koordination von Arbeitsteilung und Sorgearbeit hilfreich ist (Umkehr der Beweispflicht!), durch geeignete Instrumente systematisch in den Aufbau von fundamentalen Infrastrukturen, die die menschliche Entwicklung vom nichtnachhaltigen Durchlauf- zum nachhaltigen Kreislaufmodus neu ausrichten. 
 

Weitere Beiträge aus dem Workshop:
0. Intro
1. Warum Corona kein externer Schock ist und warum es keine Rückkehr zur Normalität geben darf (Stefanie Hürtgen)
2. Warum die herrschenden gesellschaftlichen Naturverhältnisse und Sorgeverhältnisse auf der kapitalistischen (neoliberalen?) Form gesellschaftlicher Arbeit beruhen (Christa Wichterich)
3. Warum der Zusammenhang zwischen der äußeren und der inneren Natur des Menschen die Demokratisierung der Demokratie notwendig macht (Ingrid Kurz-Scherf)
4. Warum sich ein reproduktionsorientierter Ansatz statt am Geld an der Zeit orientieren sollte (Fritz Reheis)

 


Download als PDF