Menü

Gemeinnützigkeit: Attac erstreitet umfassende Akteneinsicht

Oberverwaltungsgericht zwingt Bundesfinanzministerium, weitere Dokumente herauszugeben

 

Zehn Jahre nach der Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit hat Attac einen wichtigen Sieg im Streit um Transparenz in dem Verfahren errungen: Das Bundesfinanzministerium (BFM) muss dem Netzwerk weitere Dokumente übergeben, in denen es um den „Fall Attac“ geht. Das hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem am heutigen Montag verkündeten Urteil entschieden. Die rund dreistündige mündliche Berufungsverhandlung war bereits am 18. April.

Die Richter*innen am Oberverwaltungsgericht haben damit nicht nur das Urteil der ersten Instanz von 2022 bestätigt, sondern sind zugunsten von Attac noch darüber hinaus gegangen. Die Berufung des Ministeriums wurde vollständig zurückgewiesen.

Besonders interessant unter den strittigen Dokumenten ist eine eineinhalb Seiten lange Liste aus dem Mai 2019, in der das Bundesfinanzministerium NGOs auflistet, deren Gemeinnützigkeit durch das drei Monate zuvor gefällte „Attac-Urteil“ des Bundesfinanzhofs ebenfalls bedroht sein könnte. Während die erste Instanz dem Ministerium Recht gab, das die Liste aus Gründen des Steuergeheimnisses nicht herausgeben wollte, urteilte das Oberverwaltungsgericht nun, dass das Ministerium die betreffenden Organisationen aktiv fragen muss, ob sie mit der Weitergabe einverstanden sind.

Ebenfalls herausgeben muss das Ministerium laut Urteil nun Sprechzettel, die darüber Aufschluss geben, wie Vertreter*innen des Finanzministeriums Bundestagsabgeordnete in Ausschuss- oder Fraktionssitzungen über den „Fall Attac“ informierten. Auch den Protokollentwurf einer Sitzung des Bundestags-Haushaltsausschusses, in der der „Fall Attac“ besprochen wurde, muss es herausgeben. Das Ministerium hielt diese Dokumente bisher mit Verweis auf die Geschäftsordnung des Bundestages zurück.

„Jahre lang hat das Bundesfinanzministerium versucht, seinen Einfluss auf den ‚Fall Attac‘ und dessen verheerende Konsequenzen für viele andere Organisationen herunterzuspielen. Wir werden die Dokumente, die ganze zwei Aktenordner füllen, nun in Ruhe auswerten und uns selbst ein Bild davon machen, welche Rolle das Ministerium beim Entzug unserer Gemeinnützigkeit spielte – wissend, dass es damit einen Präzedenzfall schafft, der die gesamte demokratische Zivilgesellschaft beeinträchtigt“, kündigte Dirk Friedrichs vom bundesweiten Attac-Koordinierungskreis nach der Verhandlung in Berlin an.

Nach dem „Attac-Urteil“ des Bundesfinanzhofs 2019 wollte Attac erfahren, welchen politischen Einfluss das Bundesfinanzministerium auf die rechtliche Auseinandersetzung um die Gemeinnützigkeit genommen hatte. Unter anderem interessierte sich Attac für die Kommunikation zwischen dem Ministerium und dem im „Fall Attac“ verfahrensführenden Bundesfinanzhof. Doch das Ministerium sperrte sich. Attac klagte und musste sich den Zugang zu nahezu jedem einzelnen Dokument mühsam vor Gericht erstreiten.

Dirk Friedrichs: „Dem Bundesfinanzministerium ist offenbar wenig daran gelegen, sein Handeln in einer Frage, die tausende gemeinnützige Vereine in Deutschland betrifft, offenzulegen. Das heutige Urteil ist ein wichtiger Sieg im Ringen um Transparenz – nicht nur für Attac, sondern für die gesamte demokratische Zivilgesellschaft.“

--
Der „Fall Attac“ – Hintergrund:

Mit seinem Bescheid vom 14. April 2014 aberkannte das Finanzamt Frankfurt Attac die Gemeinnützigkeit mit der Begründung, das Netzwerk agiere zu politisch. Insbesondere der Einsatz für eine Regulierung der Finanzmärkte, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer oder einer Vermögensabgabe sei nicht gemeinnützig, hieß es in dem Schreiben.

Eine erste Klage von Attac vor dem Finanzgericht Kassel im Jahr 2016 war erfolgreich. Als das Finanzamt die Sache daraufhin auf sich beruhen lassen wollte, schaltete sich das damals von Wolfgang Schäuble geführte Bundesfinanzministerium wies das Frankfurter Finanzamt an, Revision vor dem Bundesfinanzhof (BFH) beantragen. Dieser hob in seinem viel kritisierten „Attac-Urteil“ vom Februar 2019 das Urteil der ersten Instanz auf. Dabei steckte der BFH den Rahmen für politisches Engagement von gemeinnützigen Organisationen äußerst eng. Diesem Urteil des BFH folgend mussten die Richter*innen der ersten Instanz die Klage von Attac erneut verhandeln und gegen ihre eigene Überzeugung ablehnen. So kritisierte der Vorsitzende Richter in Kassel, das Urteil des Bundesfinanzhofs sei „mit heißer Nadel gestrickt“.

Die Auseinandersetzung um die Gemeinnützigkeit von Attac hat Bedeutung für die gesamte Zivilgesellschaft. Bereits wenige Wochen nach dem BFH-Urteil im Februar 2019 entzogen Finanzämter weiteren Organisationen die Gemeinnützigkeit. Und auch Vereine, die es nicht getroffen hat, wagen seither weniger, sich politisch einzumischen. Das Urteil des BFH hat das Thema Gemeinnützigkeit auch auf die Agenda der politischen Parteien gesetzt. So hat die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das Gemeinnützigkeitsrecht zu reformieren, um Rechtssicherheit zu schaffen, hat ihr Versprechen bisher aber nicht erfüllt.

Attac hat im März 2021 Verfassungsbeschwerde gegen die Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit eingelegt. Die Verhandlung darüber steht noch aus.

Als Teil der von Attac mitgegründeten Allianz "Rechtssicherheit für politische Willensbildung" setzt sich das Netzwerk zudem für ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht ein, das demokratisches zivilgesellschaftliches Engagement fördert, statt es zu behindern.

--

Für Rückfragen:

  •     Dirk Friedrichs, Attac-Vertreter im Gerichtsverfahren, +49 177 3276 659
  •     Frauke Distelrath, Attac-Geschäftsführerin, Tel. +49 152 2848 2449
  •     Anja Heinrich, Rechtsanwältin, Berlin, Tel. +49 30 8147 5758 (nur zum Verfahren)


Weitere Informationen: