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Hintergrund

Der Kampf gegen den „Extremismus“ soll in der Bundesrepublik nun auch verstärkt fiskalisch geführt werden. Am 23. Mai verabschiedete das Bundeskabinett einen Gesetzesentwurf zum Jahressteuergesetz 2013http://www.robinwood.de/#sdfootnote1sym durch welchen es einschneidende Veränderungen für gemeinnützige Körperschaften geben könnte. In der Abgabenordnung (§ 51 Abs. 3 AO) wird ein Wort gestrichen, was dem Verfassungsschutz die Möglichkeit gibt, über die finanzielle Existenz von gemeinnützigen Organisationen zu urteilen.

Gemeinnützige Körperschaften, die in Verfassungsschutzberichten als extremistisch eingestuft wurden, verloren bisher – widerlegbar – ihre Steuerbegünstigungen (Gemeinnützigkeit). Sie konnten die Vorwürfe aber vor den Finanzämtern widerlegen. Das Wort “widerlegbar” soll nun gestrichen werden und die Organisationen würden automatisch ihre Gemeinnützigkeit verlieren. Der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz könnte durch die Gesetzesänderung fiskalische Sanktionen verhängen – ohne seine Quellen offen zu legen.

Derzeit liegt es an den Finanzämtern zu prüfen, ob ein Extremismus-Vorwurf durch den Verfassungsschutz zum Entzug der Gemeinnützigkeit führt. Die Finanzämter übernehmen so praktisch eine Kontrollfunktion des Verfassungsschutzes und sind die einzige außergerichtliche Anhörungsinstanz für betroffene Organisationen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht dagegen keine Prüfung mehr vor; die Entscheidung läge faktisch allein beim Geheimdienst. 

Noch bleibt Zeit, die den rechtsstaatlichen Prinzipien zuwider laufende Aufgabenerweiterung des Verfassungsschutzes zu verhindern.

Der offene Brief

In einem von Attac und ROBIN WOOD initiierten offenen Brief an alle Bundestagsabgeordneten haben sich am 27. Juni 36 zivilgesellschaftliche Organisationen aus verschiedenen Bereichen (u.a. Greenpeace, BUND Deutschland, Medico International) gegen diese Gesetzesänderung gewandt und die Abschaffung des entsprechenden Absatzes in der Abgabenordnung gefordert. Mittlerweile haben sich 148 Organisationen diesen Protesten angeschlossen.

Mittlerweile liegen auch verschieden positive Reaktionen auf den offenen Brief vor.

Die Reaktion von Ulla Jelpke (MdB Linke) ist hier online.

Die Reaktion von Monika Lazar (MdB Bündnis90/Grüne) ist hier online.

Die Reaktion von Lisa Paus (MdB Bündnis90/Grüne, Obfrau im Finanzausschuss) ist hier online.

Zeitrahmen

Das Jahressteuergesetz 2013 wurde am 28. Juni in erster Lesung im Plenums des Bundestages als Tagesordnungspunkt 18 behandelt, Politiker der Oppositionsfraktionen griffen die Argumente des Offenen Briefes auf.

Nach der ersten Lesung im Parlament wurde der Gesetzentwurf inzwischen an die Ausschüsse überwiesen. Federführend ist der Finanzausschuss, der sich am 26. September mit dem Thema befassen wird.
Deren Mitglieder haben die täglich länger werdende Liste der protestierenden Organisationen zugesandt bekommen. Kritik und parlamentarische Anfragen kommen inzwischen nicht nur von Seiten der Opposition.

Wir selbst planen, vor der Anhörung des Finanzausschusses am 26. September zu protestieren. Weitere Informationen dann demnächst.

Nach der Sommerpause des Deutschen Bundestages werden dann zwei weitere Lesungen des Gesetzes stattfinden, bis es verabschiedet wird. Dies wird vorraussichtlich am 25. oder 26.10. der Fall sein.

Eine Veranstaltung zum Thema gibt es am 22.-23. September in Köln: Wer schützt (und gefährdet) die streitbare Demokratie – am Exempel Verfassungsschutz? Jahrestagung des Komitee für Grundrechte und Demokratie

Juristischer Hintergrund

Im § 51 Absatz 3, Satz 3 der Abgabenordnung gilt seit 2009 in Bezug auf die Steuerbegünstigung: von Körperschaften: „Bei Körperschaften, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als extremistische Organisation aufgeführt sind, ist widerlegbar davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des Satzes 1 nicht erfüllt sind.“

Der Absatz 3 des Paragrafen 51 der Abgabenordnung wurde im Jahr 2009 eingeführt, um dem Kampf gegen den "Extremismus" ein weiteres, fiskalisches, Instrument hinzuzufügen.

Im Rahmen einer rechtstechnischen Bereinigung soll die Prüfung der Gemeinnützigkeit von vermeintlich extremistischen Organisationen durch das Jahressteuergesetz 2013 nun von der Finanzgerichtsbarkeit und den Finanzämtern hin zur Verwaltungsgerichtsbarkeit verschoben werden. In der Begründung heißt es auf Seite 93 des Jahressteuergesetzes 2013 unter anderem: „Ist deshalb eine Körperschaft im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als verfassungsfeindlich aufgeführt, ist ihr die Anerkennung als gemeinnützige Körperschaft zu versagen. Die Überprüfung, ob eine Körperschaft trotz einer Nennung in einem Verfassungsschutzbericht doch die Anforderungen nach § 51 Absatz 3 Satz 1 erfüllt, muss nach Streichung des Wortes ‚widerlegbar‘ in Satz 2 nicht mehr durchgeführt werden. Sollte eine Körperschaft ihrer Ansicht nach zu Unrecht in einem Verfassungsschutzbericht aufgeführt worden sein, so obliegt es ihr, sich dagegen in einem gerichtlichen Verfahren zur Wehr zu setzen.

Körperschaften, bei denen der bloße Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit besteht und die nur als Verdachtsfall in einem Verfassungsschutzbericht erwähnt wurden, ist nicht aufgrund des Verdachtes die Gemeinnützigkeit zu versagen. Allerdings ist einem solchen Fall die Voraussetzung des § 51 Absatz 3 Satz 1 AO und damit das Vorliegen von Bestrebungen nach § 4 Bundesverfassungsschutzgesetz durch das zuständige Finanzamt inzident zu prüfen.1

Durch die im Jahressteuergesetz 2013 vorgesehene Streichung des Wortes „widerlegbar“ würde, bei Kennzeichnung einer als gemeinnützig anerkannten Körperschaft in einem Verfassungsschutzbericht als extremistisch, bei den Finanzämtern der Automatismus einer Versagung der Gemeinnützigkeit ausgelöst.

Gemeinnützige Organisationen, die als extremistisch gekennzeichnet wurden, verloren bisher – widerlegbar – die Gemeinnützigkeit, sie konnten die Vorwürfe im Rahmen einer Prüfung durch die Finanzämter widerlegen. Der bisherige Prüfvorgang der Finanzämter vor Ort würde nun ebenso entfallen, wie die Möglichkeit bei Finanzgerichten Rechtsschutz zu suchen.

Gegen die Nennung im Verfassungsschutzbericht wäre dann vor einem Verwaltungsgericht zu klagen – welches in diesen Fragen als kompetenter angesehen wird. Damit führt die Nennung in einem der 17 jährlich veröffentlichten Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder zu unmittelbaren negativen fiskalischen Sanktionen.http://www.robinwood.de/#sdfootnote2sym

Die Konsequenzen einer Versagung der Gemeinnützigkeit wären für die betroffenen Organisationen existentiell. Zunächst würden die Organisationen selbst die Befreiung von der Körperschaftssteuer verlieren. Weitaus dramatischer wäre aber, dass Spenden an diese Organisation nicht mehr steuerlich abzugsfähig wären – die Spendenbereitschaft für diese Organisationen würde beträchtlich abnehmen – Organisationen würden unmittelbar an den Rand der Insolvenz gebracht.

1Deutscher Bundestag, Drucksache 17/10000, S. 93.

Beispiele bisher betroffener Organisationen

Inwole e.V.

Im Jahr 2009 wurde durch den Verfassungsschutz eine Einschätzung öffentlich gemacht und daraufhin Fördergelder für vier Monate eingefroren. Nach langer öffentlicher Auseinandersetzung wurde eine Löschung der Erwähnung durch den Verfassungsschutz erwirkt und der Verein wird weiter gefördert.

JWP-MittenDrin e.V. (JugendWohnProjekt)

Der Verein konnte sich zweimal erfolgreich gegen die Erwähnung im VS-Bericht wehren, welcher einen Entzug der Gemeinnützigkeit bedeuten sollte: 2010 (juristisch) und 2011 (einfache Gegendarstellung). Weitere Informationen...

IMI - Informationsstelle Militarisierung

Der Informationsstelle Militarisierung wurde seit Februar 2006 durch das Finanzamt Tübingen ein endgültiger Freistellungsbescheid und hiermit die Anerkennung der Gemeinnützigkeit verweigert. Als Grund wurde genannt, eine nicht näher spezifizierte Behörde hätte Zweifel an der Verfassungstreue des Vereins erhoben. Seit dem wurden dem Verein – trotz massiver Nachfragen – keine weiteren Angaben über die Behörde und die Anschuldigungen gemacht.
Mit Schreiben vom 11.5.2007 teilte das Finanzamt trotzdem mit, es beabsichtige “der IMI die Gemeinnützigkeit für die Jahre ab 2001 zu versagen”. Darüber hinaus drohte das Finanzamt, den Verein für die entgangenen Steuern mit 40% auf alle Spendeneinnahmen seit 2001 haftbar zu machen.
Im August 2007 wurde mitgeteilt, dass das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg den ursprünglichen Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit in den Raum gestellt hatte, allerdings ohne diesen in irgendeiner Weise erhärten zu können. Daraufhin wurde der Freistellungsbescheid wieder erteilt. Weiter Informationen...

Conne Island

Im Jahr 2003 übte der Verfassungsschutz massiv Druck auf Fördermittelgeber und Finanzamt aus, um den Freistellungsbescheid über die Gemeinnützigkeit streitig zu machen. Daraufhin wurde u.a das Finanzamt in Leipzig temporär "besetzt". Mehr als tausend Menschen demonstrierten außerdem mehrere Wochen gegen das Vorgehen des Geheimdienstes und der Finanzbehörde. Erfolgreich, wie sich zeigte. In den Folgejahren erhielt der Trägerverein jeweils den Bescheid. Weitere Informationen...