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Soziale Ungleichheit und Diskriminierung: Klassismus.

Soziale Ungleichheit als Einkommens- und Statusungleichheit führt nicht nur zu gravierenden ökonomischen und sozialen Unterschieden. Sie ist auch mit Diskriminierung derjenigen verbunden, die über ein geringes Einkommen verfügen. Sie werden als „Proleten“, „nutzlose“ und „faule“ Menschen, „sozial schwach“ und „bildungsfern“ abgewertet.

In letzter Zeit hat sich für diese Form der Diskriminierung – ausgehend von den USA – die Bezeichnung „Klassismus“ – in Analogie zu „Rassismus“ für ethnische Diskriminierung – durchgesetzt. Die Bundeskoordination „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ hat zu diesem Thema kürzlich ein überarbeitetes Arbeitsheft herausgegeben, in welchem Hintergründe und Folgen vor allem für die Bildungsarbeit dargestellt werden (Klassismus 2019).

Ökonomische und soziale Hintergründe

Die Ungleichheit der Vermögensverteilung ist in Deutschland die höchste in der Eurozone. Die oberen 10 % besitzen knapp zwei Drittel des gesamten privaten Nettovermögens, die unteren 40 % verfügen über praktisch gar kein Vermögen (Klassismus 2019, 31). Für die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer sozialen Schicht ist jedoch nicht nur das ökonomische Kapital entscheidend. Nach Pierre Bourdieu spielen heute für die Zugehörigkeit auch das kulturelle und das soziale Kapital eine wichtige Rolle. Mit kulturellem Kapital ist vor allem die Bildung gemeint, mit sozialem Kapital die sozialen Beziehungen – auch als „Netzwerk“ (Klassismus 2019,15) bezeichnet. Zusammen führen sie zu einer zunehmenden Verfestigung sozialer Schichten und Klassen und zu geringer sozialer Mobilität. So erreichen von 100 Kindern mit mindestens einem studierten Elternteil 63 einen Hochschulabschluss, von Eltern ohne Hochschulabschluss dagegen nur 15 (Hochschul-Bildung-Report, zit. n. Klassismus 2019,32). Auf das soziale Kapital ist zurückzuführen, dass fast alle deutschen Konzernmanager aus der nur 3,5 % der Bevölkerung umfassenden Oberschicht stammen (Klassismus 2019,44). Einen wesentlichen Beitrag zur Verfestigung der Klassenschranken hat die von der rot-grünen Bundesregierung zwischen 2001 und 2005 durchgeführte Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 % geleistet.

Zu den sozialen Hintergründen zählt auch, dass „soziale Herkunft“/„sozialer Status“ weder in die Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien noch in das deutsche Allgemeine Gleichstellungsgesetz aufgenommen wurden (Klassismus 2019,26). Während die jeweiligen Antidiskriminierungsgruppen sich erfolgreich gegen die geplante Streichung der Kategorien „Behinderung“, „Alter“ und „Sexuelle Orientierung“ gewehrt haben, blieb soziale Herkunft unberücksichtigt. Dies ist wahrscheinlich auch darauf zurückzuführen, dass es für sie keine schlagkräftige Interessenvertretung wie bei den anderen genannten Gruppen gibt.

Soziale Folgen und psychische Verarbeitung

Geringe ökonomische Ressourcen haben schon in der frühen Kindheit erhebliche Folgen für die Bildungsentwicklung. Susanne Miller (2017) verweist darauf, dass in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen wurde, dass Kinder aus armen Familien weder in ausreichendem Maße altersgerechte Bücher erhalten noch die Möglichkeit haben, Freund*innen nach Hause zum Essen einzuladen. Daraus resultieren Bildungsbeeinträchtigungen, die im selektiven System der Grundschule zu Rückstellungen vom Schulbesuch, Klassenwiederholungen und häufiger als bei Kindern aus wohlhabenden Verhältnissen zur Überweisung in die Sonderschule mit dem Schwerpunkt Lernen führen.

Die Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich spiegelt sich auch in der sozialstrukturellen Zusammensetzung in Wohngebieten und in deren Folge in Kindertageseinrichtungen und Schulen wieder. Nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung schwankt die Kinderarmut in 80 untersuchten Kitas zwischen 0 und 72 Prozent, in Grundschulen zwischen 7 und 82 Prozent (zit. n. Miller 2017, 273).

Klassistische Ideologien zur Ablenkung von Armut und Ressourcenmangel als Ursachen für geringere schulische Leistungen von Kindern sind Vererbungslehren und Überbetonung individueller Verantwortung. Als Vertreter der Vererbungslehre unterstellt Thilo Sarrazin den Angehörigen der Unterschicht, „dass sie genetisch bedingt zu beschränkt seien, um in der Gesellschaft aufzusteigen. Sarrazins Sozialanalyse ist schlicht: er behauptet das dumme Eltern dumme Kinder zeugen – und deswegen bleiben die Armen arm“ (Klassismus 2019,40).

Die von der neoliberalen Ideologie hervorgerufene Überbewertung der individuellen Verantwortung führt geringere Leistung ebenfalls nicht auf strukturelle Hintergründe, sondern auf mangelnde Leistungsbereitschaft der betroffenen Menschen zurück. Sie werden als „faul“ und „nutzlos“ abqualifiziert. Märkten wird nicht nur im internationalen Vergleich unterstellt, die Starken von den Schwachen zu trennen. Dies gelte auch für den nationalen Arbeitsmarkt. Geringes Einkommen von „Schwachen“ als Folge schlechter Leistungen wird deswegen als gerecht bewertet.

Um Missverständnisse zu vermeiden: es gibt zwar genetisch bedingte Intelligenzunterschiede und Unterschiede in der individuellen Leistungsbereitschaft. Diese erklären aber nicht die erheblichen Unterschiede zwischen den sozialen Schichten, weil es sie in allen Schichten gibt.

Für die gesellschaftliche Durchsetzung von Klassismus ist nach Prasad Reddy (2019) auch die Internalisierung von Unterdrückung und Diskriminierung durch die Betroffenen verantwortlich. Mit Internalisierung ist gemeint, dass die abwertenden Vorurteile entweder übernommen oder aber abwehrende Strategien wie Ignorieren oder Bagatellisieren entwickelt werden, die zwar kurzfristig hilfreich sein können, aber längerfristig unwirksam sind, weil sie die diskriminierenden Strukturen nicht beseitigen.

Antje Richter-Kornweitz (2013,180) veranschaulicht die von Jungen und Mädchen im Grundschulalter entwickelten Strategien zum Umgang mit Belastungen durch Armut und Mangel: „Anspruchssenkung“, „gleichgültig sein“ bzw. „sich gleichgültig machen“ oder die „Erfüllung der Wünsche aufzuschieben“.

Handlungsmöglichkeiten

Neben der Reduzierung von sozialer Ungleichheit durch höhere Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen, geringere Unterschiede in der Entlohnung von Beschäftigten sowie Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens müssen auch klassistische Diskriminierungen bekämpft werden, um größere soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Hier ist vor allem die Pädagogik gefordert, um in der frühen Kindheit beginnenden Abwertungen von Angehörigen unterer sozialer Schichten wirksam entgegenzutreten. Eine wirksame Maßnahme auf struktureller Ebene ist die von Susanne Miller aufgestellte Forderung nach Abschaffung der Förderschule Lernen sowie des sonderpädagogischen Förderschwerpunktes Lernen. Stattdessen fordert sie konzeptionelle Veränderungen in der Grundschule, die diese Form der Selektion überflüssig machen.

Zu den institutionellen Maßnahmen zählt auch die möglichst frühzeitige Aufnahme betroffener Kinder in Kindertagesstätten. „Regelmäßige Teilnahme, Zugehörigkeit zur Gruppe, Einbindung in das Gruppengeschehen und eine möglichst früh einsetzende individuelle Förderung des Kindes können bereits bestehende Defizite beim Kind auffangen und kompensieren“ (Richter-Kornweitz 2013,182).

Wichtigster Ansatz zur Bekämpfung von Vorurteilen und Diskriminierung ist die zunächst von Louise Derman-Sparks in den USA entwickelte „Anti-Bias-Education“ („Vorurteilsbewusste Erziehung“). Ihre wichtigsten Ziele sind:

  1. „Jedes Kind drückt Selbstbewusstsein und Zutrauen in sich selbst aus, es zeigt Stolz auf seine Familie und positive Identifikation mit seinen Bezugspersonen“
  2. „Jedes Kind drückt Freude und Wohlbehagen gegenüber Unterschieden zwischen Menschen aus, verwendet eine sachlich korrekte Sprache und pflegt innige und fürsorgliche Beziehungen zu anderen“
  3. „Jedes Kind erkennt unfaire Äußerungen und Handlungen immer besser, verfügt zunehmend über Worte, um sie zu beschreiben, und versteht, dass diese verletzen können“ und
  4. „Jedes Kind zeigt die Fähigkeit, um sich alleine oder mit anderen gegen Vorurteile und/ oder diskriminierende Handlungen zur Wehr zu setzen“ (Deman-Sparks 2013,283 ff.).

Der Ansatz von Derman-Sparks ist vielfältig weiter entwickelt worden. Umfangreiches Trainingsmaterial auch für Erzieher*innen und Lehrer*innen ist unter anderem von Prasad Reddy (2019) für das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (IDA) erstellt worden.

Fazit

Klassismus ist ein in der Antidiskriminierungsarbeit bisher vernachlässigtes Thema. Es ist deswegen begrüßenswert, dass neue Ansätze entwickelt werden, um dieses Defizit aufzuarbeiten. Sie müssen aber auf politischer Ebene durch eine verstärkte Unterstützung und Interessenvertretung der Betroffenen erweitert werden. Dies gilt nicht nur für die Bekämpfung sozialer Benachteiligung in den Schulen.

Die durch die Corona-Krise wieder belebte gesellschaftliche Solidarität und der weltweit geschärfte Blick dafür, dass insbesondere arme Menschen in größerem Maße von gesundheitlichen Schäden betroffen sind - laut einer Studie des Universitätsklinikums Düsseldorf haben AOK-Versicherte Empfänger*innen von Arbeitslosengeld 2 ein um 84 % erhöhtes Risiko der Erkrankung an Covit-19 als erwerbstätig Versicherte,(Bennet Groen, 2020,14) -könnte hierfür neue Chancen bieten.

Neue Kampagnen zum Thema „Umverteilen“ (Änderungen des Steuerrechts und der Entlohnung sowie Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in angemessener Höhe) könnten deswegen durch die Erweiterung um Klassismus und die veränderte gesellschaftliche Situation erfolgreicher werden als in der Vergangenheit. Auch die aktuelle Diskussion zum Thema „Rassismus“ wird sich förderlich für Kampagnen zur Umverteilung von oben nach unten auswirken, weil sich die betroffenen Gruppen im Sinne von Intersektionsalität in ihrer sozialen Benachteiligung zum Teil überschneiden.

 

Literatur

Derman-Sparks, Louise (2013): Anti-Bias Education for Everyone – Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung für alle. In: Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, 279-294. Herder Verlag Freiburg.

Groen, Bennet (2020): Risikofaktor Arbeitslosigkeit. taz 17. 6. 2020, 14.

Klassismus (2019): Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Themenheft Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. 2. erweiterte Auflage 2019.

Miller, Susanne (2017): Risikofaktor Armut gleich Risikofaktor Förderschule. In: Amipur, Donja & Platte, Andrea (Hrsg.): Handbuch Inklusive Kindheiten, 272-286. Verlag Barbara Budrich, Opladen & Toronto.

Reddy, Prasad (2019): „Hier bist du richtig, wie du bist!“ Theoretische Grundlagen, Handlungsansätze und Übungen zur Umsetzung zur Anti-Bias-Bildung für Schule, Jugendarbeit, soziale Arbeit und Erwachsenenbildung. Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA).

Richter-Kornweitz, Antje (2013): <<Meine Mutter hat ja kein Geld…>> - Soziale Ungleichheit und Armut in der Wahrnehmung von Kindern. In: Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, 174-185. Herder Verlag Freiburg.


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