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Covid-Impfstoff: Nur die Summe von Nationalismen

Europas Regierungen feiern in Sonntagsreden das Menschenrecht auf Gesundheit – und untergraben es. Gastbeitrag von Anne Jung, Medico

Die Erleichterung über die Erfolgsmeldungen bei der Impfstoffentwicklung dürfte in Frankfurt weitaus größer gewesen sein als in den Armenvierteln von Dhaka oder Nairobi. Ob von dem Impfstoff etwas für die Länder des Südens abfällt ist noch völlig ungeklärt. In der Berichterstattung fand der Rest der Welt nicht mal mehr Erwähnung. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch unvernünftig, denn eine epidemiologische Erkenntnis gilt weiterhin: Es ist dann vorbei, wenn es für alle vorbei ist.

Das weiß auch die Politik. Erst vor wenigen Tagen verkündete Bundespräsident Steinmeier: "Niemand ist sicher vor COVID-19, bevor nicht alle davor sicher sind. Selbst wer das Virus in seinen eigenen nationalen Grenzen besiegt, bleibt Gefangener dieser Grenzen, solange es nicht überall besiegt ist." Völlig zutreffend beschreibt Bundespräsident Frank Walter Steinmeier das Wesen der Pandemie: Die Befreiung vom Virus bedarf eines globalen Handelns. Es gibt allerdings einen Haken: Deutschland, Europa und alle anderen großen Industrienationen verhindern genau das. Eine kleine Gruppe reicher Länder, die 13 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, hat sich bereits mehr als die Hälfte der zukünftigen Versorgung mit führenden COVID-19-Impfstoffen gesichert, berichtet Oxfam. Konkret haben die reichen Länder bereits mehr als 5 Milliarden Dosen von Impfstoffen aus den Kandidatenländern gekauft oder sind dabei, sie zu kaufen, bevor die klinischen Studien abgeschlossen sind. Auch Deutschland hat solche Exklusivverträge abgeschlossen. Weniger als 800 Millionen Dosen sind für die ärmsten Länder der Welt vorgesehen, berichtet die Duke University in einer kürzlich veröffentlichten Studie.

Nimmt man die richtungsweisenden Entscheidungen seit Beginn der Pandemie genauer in den Blick, dann wird schnell deutlich, dass die Industrienationen an einer neoliberalen Politik festhalten, die das Recht auf Gewinn für Unternehmen gegen die Menschenrechte, konkret den gerechten und gleichen Zugang zu den Impfstoffen, absichert. Diese Ordnung wird mit aller Gewalt verteidigt und das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Betrachtet man das Ringen um die kommenden Impfstoffe, zeigt sich, wie die Krise gelöst werden soll – auf Kosten der Armen. Die Nebenwirkungen sind tödlich und werden auch die wirtschaftliche, geographische und soziale Ungleichheit dramatisch vergrößern. Es droht die Restaurierung der Zweiteilung der Welt in Nord und Süd, deren Überwindung zumindest verbal bekräftigt wurde.

Vorstoß von Indien und Südafrika

An Alternativen mangelt es indes nicht. Kürzlich beantragten die Regierungen von Indien (mit 115.914 Corona-Toten weltweit auf Platz drei) und Südafrika, das wie kein anderes afrikanisches Land von der Corona-Pandemie betroffen ist, bei der Welthandelsorganisation (WTO – nicht zu verwechseln mit der Weltgesundheitsorganisation WHO) eine Ausnahmeregelung im TRIPS-Abkommen von 1994, in dem die handelsbezogenen Aspekte des geistigen Eigentum geregelt werden. Gebraucht werde, argumentieren Indien und Südafrika, eine grundlegende und umfassende Aussetzung der Regelungen, bis die Weltbevölkerung eine Immunität gegen das Virus entwickelt hat.

Das bei seiner Einführung umkämpfte und bis heute umstrittene TRIPS-Abkommen wurde 1995 auf Initiative der Industrienationen und internationaler Unternehmen wie Microsoft geschlossen und hatte zwar explizit das Ziel, Einwände aus den Ländern des globalen Südens bei vorherigen Handelsrunden auszubooten. Doch das Abkommen sieht Ausnahmeregelungen vor, die es im Falle eines Gesundheitsnotstandes gestatten, über sogenannte Zwangslizenzen oder Parallelimporte Medikamente oder einen Impfstoff unter Umgehung des Patentschutzes kostengünstig und lokal herzustellen. Der von Südafrika und Indien nun vorgeschlagene "Waiver", also eine Verzichtserklärung, geht weiter als die geregelten Ausnahmeregelungen. Schon bei der ersten Aussprache im Oktober dieses Jahres lehnten alle großen Industrienationen, darunter die gesamte EU, den Vorschlag ab. Es wird zwar weiter verhandelt, aber die Mehrheitsverhältnisse geben wenig Anlass für Enthusiasmus. Da es außer Zweifel steht, dass es sich bei der Covid-19-Pandemie um einen gesundheitlichen Ausnahmezustand handelt, muss es andere Gründe für diese Blockadehaltung geben.

Die Gründe liegen auf der Hand: Es sind die Interessen der Pharmaindustrie, die hier verteidigt werden. Sie haben wieder einmal Vorrang. Dabei mangelt es nicht an Erfahrungen, wie verheerend es sich auswirkt, wenn die globale Gesundheitspolitik ihnen folgt. Schon während der HIV/Aids-Pandemie der 1980er Jahre – die keineswegs vorbei ist; an der Krankheit sterben jährlich weiterhin mehr als eine halbe Million Menschen – argumentierten Industrienationen und die Pharmaindustrie, dass ein starker Patentschutz zur Förderung von Innovationen nötig sei. Dieser Erklärungsversuch hält sich hartnäckig im öffentlichen Bewusstsein und ist wohl einer der größten Werbeerfolge der Pharmaindustrie, denn für die These gibt es keinerlei Evidenz. Infolge der Patentregelung, für die TRIPS nur beispielhaft steht, musste jahrelang jede Kostensenkung in weltweit vernetzten politischen Kämpfen erstritten werden – Zehntausende starben wegen der hohen Kosten für Medikamente allein an Aids. Die Politik hat dennoch beschlossen, aus diesen Erfahrungen nichts zu lernen. Die Regierungen der Welt stellen Milliarden für Forschung und Entwicklung bereit, alleine die EU ist mit 6,5 Milliarden Euro dabei. Das sind größtenteils öffentliche Mittel, von denen große Summen der Pharmaindustrie zur Verfügung gestellt werden, ohne dass die Bedingungen für die Preispolitik des künftigen Impfstoffs im öffentlichen Interesse geregelt wurden. Dies ist schlicht politisch nicht gewollt.

WHO-Initiativen zur Öffnung von Patenten

Auch im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation WHO werden Vorschläge für einen alternativen Pfad diskutiert. Seit Ausbruch der Pandemie findet Innerhalb der WHO eine politische Auseinandersetzung statt, die in der Gesamtschau ein ähnliches Bild ergibt wie der Disput um die TRIPS-Initiative von Indien und Südafrika. Die WHO erkannte schon sehr früh die Gefahr, dass das bestehende Patentregime Innovationen eher behindert als begünstigt. Aus diesem Grund kündigte sie auf Initiative von Costa Rica im Juni die Gründung des COVID-19 Technology Access Pools (C-TAP) an. Der C-TAP soll eingerichtet werden, um Patente und alle anderen Formen von geistigem Eigentum wie Know-how, Daten, Geschäftsgeheimnisse, Software zu sammeln und den Technologietransfer zu unterstützen, der notwendig ist, um die Entwicklung und Produktion neuer Technologien auszuweiten. Die Schaffung eines Patentpools hat bereits bei der Bekämpfung von HIV gezeigt, dass solche Verfahren durchgesetzt werden können und erfolgreich sind. Heute ist das gesamte geistige Eigentum der von der WHO empfohlenen Behandlungen von HIV über den Patentpool lizenziert.

Vierzig Länder, fast ausnahmslos aus dem globalen Süden, unterstützen die C-TAP-Initiative. Nicht dabei sind all die Länder, in denen Pharmaunternehmen ansässig sind. Und auch die Reaktion der Pharmaindustrie ließ nicht lange auf sich warten: Das Pharmaunternehmen Pfizer hält den Vorschlag für "gefährlich", für "Unsinn", AstraZeneca empfiehlt, die Pharmaindustrie sollte auf "freiwilliger Basis einige ihrer Produkte ohne Profitinteresse abgeben". Faktisch alle Industrienationen haben sich dieser Haltung der Pharmaindustrie angeschlossen und setzen auf ein Gegenmodell, in dem Regierungen, Impfallianzen – an denen auch philanthropische Stiftungen (vor allem die Bill & Melinda Gates Stiftung) beteiligt sind – und die Industrie zusammenarbeiten. Wichtiger Unterschied zur WHO-Initiative: Die Frage der Patente bleibt unangetastet. ACT ("Tu was!"), lautet die Abkürzung für das Modell "Access to COVID-19 Tools" – ein klassisches Projekt privat-öffentlicher Zusammenarbeit. Diese Allianz bietet vor allem den privatwirtschaftlichen Akteuren einen Raum, Wohltätigkeit zu inszenieren und dabei die Frage der öffentlichen Güter auszuklammern. Tatsächlich jedoch ist diese Form von öffentlich-privater Kooperation kein geeigneter Weg, um die Entwicklung oder Distribution sicherzustellen, weil es implizit immer einen Interessenskonflikt gibt.

Global reden, national handeln

Eine Gesundheitsforschung, deren Anreiz allein die Aussicht auf ein Patent ist, schließt genau jene Menschen vom Zugang zu Arzneimitteln aus, die sie am dringendsten benötigten. Die Länder des Südens geraten durch ACT in Abhängigkeit von humanitären Gesten der Industrienationen. Die Länder des Südens müssen sich bei der Verteilung des Impfstoffs hinten anstellen. "Diejenigen Länder und Unternehmen, die sich weigern, das C-TAP der WHO zu einem Erfolg zu machen, während sie den Entwicklungsländern sagen, dass sie nicht berechtigt seien, inmitten einer globalen Gesundheitskrise Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zu ergreifen, sind unglaubwürdig", resümiert daher Ellen ‘t Hoen, Direktorin von Medicines Law & Policy.

Der neue Lockdown light ließe sich besser ertragen, wenn die politischen Rahmenbedingungen dafür geschaffen würden, medizinisches Wissen und seine Endprodukte als Gemeingut der Menschheit zu behandeln. Dies würde helfen, Impfstoffe gerecht an diejenigen zu verteilen, die sie am dringendsten brauchen – zum Beispiel Gesundheitsarbeiterinnen in den Armenvierteln von Nairobi, Rio oder Hamburg-Veddel. Für das Gesundheitspersonal sind allerdings zunächst nur drei Prozent der Impfdosen vorgesehen.

Gefordert ist die Entwicklung eines Konzepts, das Arzneimittel und andere unentbehrlichen Bereiche der Daseinsvorsorge als öffentliche Güter begreift und prinzipiell vom Patentschutz ausnimmt. Die Haltung der Industrienationen und der Bundesregierung zeigt, wie kümmerlich der viel beschworene Multilateralismus Deutschlands und Europas in Wahrheit aussieht – er ist nicht viel mehr als die Summe von Nationalismen der dominanten Staaten, verpackt in schöne Worte, die nichts bedeuten.

Mehr zum Thema bei medico: "Pandemie verlängern, Ungleichheit manifestieren: G20-Staaten und Welthandelsorganisation beschließen, nichts für eine kostengünstige Herstellung und sinnvolle globale Verteilung des Coronavirus-Impfstoffs zu tun."

Medikamente für Alle

Der von medico gemeinsam mit Organisationen aus über 30 Ländern lancierte Aufruf "Patente töten" fordert von den Regierungen eine an den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen ausgerichtete Politik, die Arzneimittel als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmaunternehmen im öffentlichen Interesse begrenzt.