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Zuwanderung in die Sozialsysteme oder der Neoliberalismus schafft die Voraussetzung einer autoritären Wende – zum Problem einer linken Europapolitik

Die bayerische CSU-Regierung hat am 13.1.2014 ein „Positionspapier zur Zuwanderung in soziale Sicherungssysteme“ verabschiedet, das eine neue Debatte über europäische Freizügigkeit und deutsche Ressentiments ausgelöst hat. In dem Papier heißt es: „Freizügigkeit darf nicht als Wahlfreiheit in Bezug auf die besten Sozialleistungssysteme missverstanden werden. Da die Zahl der Bezieher von Sozialleistungen mit Herkunft aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten neuerdings stark steigt, besteht Handlungsbedarf.

Wahlkampf mit Hetze

Die steigende Inanspruchnahme von Sozialleistungen belastet Sozialleistungssysteme und Kommunen. Die Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München sowie der Städte Hof, Nürnberg und Regensburg haben sich im vergangenen Jahr an die Münchner Bundestagsabgeordneten und die Parteivorsitzenden der Regierungskoalition im Bund gewandt. Hierin weisen sie auf ihre Probleme mit dem Zuzug von Menschen hin, die keiner geregelten Erwerbsarbeit nachgehen und – abgesehen vom regelmäßigen Kindergeldbezug – über kein ausreichendes Familieneinkommen sowie zumeist auch über keinen Krankenversicherungsschutz verfügen. Die von dieser Zuwanderung belasteten Kommunen bedürfen der Unterstützung des Bundes wie im Koalitionsvertrag vereinbart, denn sie müssen zumindest Notunterkünfte, Grundversorgung bei der Ernährung und medizinische Notversorgung sicherstellen. Die Staatsregierung wird mit den kommunalen Spitzenverbänden die erforderlichen Maßnahmen der Soforthilfe erörtern und die Bundesregierung zu schneller Umsetzung auffordern. Um die Akzeptanz der Bevölkerung für die Freizügigkeit zu erhalten, muss der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen konsequent entgegengetreten werden.“
Mit dieser Positionsbestimmung knüpft die CSU nahtlos an Seehofers Forderung nach einer „Maut für Ausländer“ an. Er appelliert an die niedersten Instinkte: „Mir san mir“ und „Finger weg von unserer Geldbörse“. Dabei werden natürlich ein „Wir“ und eine gemeinsame Geldbörse konstruiert, die es nicht gibt. Aber das interessiert die Stammtische wenig. Man kann sich mal wieder richtig als Deutscher und überlegen fühlen.

Das ZDF Politbarometer ermittelte im Anschluss an die „Diskussion“ folgende Stimmung unter den deutschen Landsleuten: „Das Thema Zuwanderung steht zum ersten Mal bei der ohne Vorgaben gestellten Frage nach dem wichtigsten Problem in Deutschland an erster Stelle. Mit 22 Prozent hat es im Vergleich zum Dezember (zehn Prozent) stark an Bedeutung gewonnen und liegt nun knapp vor dem Bereich Arbeitsmarkt und Jobs (21 Prozent). … Seit 1. Januar 2014 gilt innerhalb der EU auch für Rumänen und Bulgaren die volle Freizügigkeit. Zwar stimmen mit 56 Prozent die meisten darin überein, dass Deutschland generell die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte braucht (nicht: 38 Prozent; weiß nicht: sechs Prozent), dennoch rechnet rund die Hälfte der Befragten (51 Prozent) bei einer verstärkten Zuwanderung von Bürgern aus diesen Ländern eher mit Nachteilen. Nur zehn Prozent erwarten dadurch Vorteile und 35 Prozent glauben, dass sich Vor- und Nachteile ausgleichen werden (weiß nicht: vier Prozent). Der erhobene Vorwurf, dass viele dieser Zuwanderer nur nach Deutschland kommen, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, wird von 62 Prozent geteilt. Knapp ein Drittel (32 Prozent) der Befragten glaubt, dies komme nicht häufig vor (weiß nicht: sechs Prozent).“

Die CSU freut sich über den gelungenen Coup zur Einbindung der Stammtische und die Landesgruppe meldete: „Bei einer Landtagswahl würde die CSU weiter zulegen auf 49 % (SPD 19%, Grüne 10%; BR – Umfrage). Sogar 72 Prozent der Bayern sind zufrieden mit der Staatsregierung. Und für 76 Prozent der Bayern ist Horst Seehofer ein guter Ministerpräsident. Große Zustimmung auch für die Position der CSU in der Diskussion um Sozialmissbrauch in Deutschland: 60 Prozent unterstützen die CSU – Pläne.“

Auf dieser Klaviatur spielen andere schon länger. Die französische Front National schürte in Wahlkämpfen die Angst vor den polnischen Fliesenlegern, und Geert Wilders konnte mit ähnlichen Tönen in den scheinbar liberalen Niederlanden Wahlen gewinnen. In die Polen-Hysterie reihte sich jüngst der britische Premier Cameron ein und kündigte Gesetze gegen Sozialtourismus an: „I don’t think we should be paying child benefit to their family back at home in Poland“ – gemeint waren polnische Arbeiter in England. Die SVP in der Schweiz schloss sich dem neuen Trend an und polemisiert ebenfalls gegen Zuzugsmöglichkeiten von EU-Bürgern in die Schweiz. National-chauvinistische Töne erklingen in ganz Europa und stoßen bei der Bevölkerung keineswegs auf taube Ohren. Strategien, die auf den Aufbau und die Ausnutzung von Ressentiments bauen, sind in der Regel verbunden mit antidemokratischen, autoritären Zügen. Um das „Wir“ zusammen zu halten, müssen die Rechte der Anderen beschnitten werden demokratische Teilhabe in einem rationalen Diskurs braucht es schon gar nicht.

Der rechtliche Hintergrund

Hintergrund der CSU Offensive im Europawahlkampf waren Entscheidungen der deutschen Sozialgerichte. Das Landessozialgericht von Nordrhein-Westfalen hat in zwei Entscheidungen (L6 AS 130/13 und L 19 AS 129/13) Bürgern aus Rumänien einen Anspruch auf Sozialleistungen zugesprochen, die hier keinen Arbeitsplatz fanden. Es argumentierte u. a., der Leistungsausschluss für arbeitsuchende EU-Bürger im Sozialgesetzbuch verstoße in seiner „ausnahmslosen Automatik“ gegen europäisches Recht. Schließlich hat das Sozialgericht Leipzig dem EuGH den Fall einer 24-jährigen Rumänin und ihres kleinen Sohnes vorgelegt, die seit 2010 dauerhaft in Deutschland leben. Die Frau wohnte über Jahre bei ihrer Schwester in Leipzig und erhielt Kindergeld sowie einen Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt. Schließlich beantragte sie Hartz-IV-Leistungen, ohne Arbeit aufnehmen zu wollen, was das Jobcenter ablehnte. Dagegen klagte die Rumänin. Das Sozialgericht sah die deutsche Gesetzeslage, die in solchen Fällen einen Anspruch ausschließt, im Widerspruch zu Europarecht – so wurde der EuGH angerufen. Die Kommission erklärte zu dem Fall, dass EU-Ausländer in Deutschland leichteren Zugang zu Sozialleistungen erhalten müssten. Das deutsche Sozialrecht, das nur Arbeitnehmern und Selbstständigen Anspruch auf Sozialleistungen gewährt, sei in dieser Beziehung nicht mit Europarecht vereinbar. “Auch bei Zuwanderern, die nicht aktiv nach einer Arbeit suchen, muss demnach der Anspruch auf Hartz IV geprüft werden”, erklärte Dorothee Frings, Professorin für Sozialrecht an der Hochschule Niederrhein, der Süddeutschen Zeitung vom 10. Januar 2014.
Grundlage ist neben den Regeln über Freizügigkeit und Gleichbehandlung in den EU-Verträgen die EU Verordnung 883/2004 vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit1. Normiert wird der Grundsatz der Gleichbehandlung. EU Ausländer haben demnach die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates (Art. 4), was im Hinblick auf die Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten oder Ereignissen (Art. 5) näher ausgeführt wird. Kurz: die Sozialgerichte hatten allen Grund, die Frage der unterschiedlichen Behandlung von Deutschen und EU-Ausländern dem EuGH vorzulegen.
Mit Urteil vom 20. September 2001 (Rs. C-184/99) hat der EuGH den Fall eines Studenten mit französischer Staatsbürgerschaft entschieden, der in Belgien Sozialleistungen beantragt hatte. Weil ein belgischer Student in der gleichen Situation die Leistung erhalten hätte, stehe „fest, dass es sich um eine allein auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung handelt. Im Anwendungsbereich des EG-Vertrags ist eine solche Diskriminierung nach Artikel 6 dieses Vertrages grundsätzlich verboten. Im vorliegenden Fall ist dieser Artikel für die Beurteilung seines Anwendungsbereichs in Verbindung mit den Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft zu sehen. Der Unionsbürgerstatus ist nämlich dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“ Folglich habe der Student einen entsprechenden Anspruch (vgl. auch: EuGH vom 15.3.2005, Rs. C-209/03).2
Die Rechtslage zur europäischen Freizügigkeit und den Anspruch auf Sozialleitungen darf nicht isoliert betrachtet werden. Im Kontext mit anderen Normen und Urteilen, das ist zu zeigen, wird – intendiert oder durch die Hintertür – ein System geschaffen, das strukturell zu Lohndumping und einem Schleifen der Systeme sozialer Sicherheit führen muss, was wiederum den fruchtbaren Boden für national-chauvinistische Forderungen bereitet.
Der EuGH hat zwar Mindestlohnregelungen grundsätzlich akzeptiert und es auch für europarechtskonform angesehen, wenn ausländische Unternehmer den Mindestlohn zahlen müssen. Davon gibt es aber Ausnahmen, die die Lage unübersichtlich machen. So stellte der EuGH eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit fest, wenn ein inländischer Arbeitgeber den in einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag festgesetzten Mindestlohn durch den Abschluss eines Firmentarifvertrags unterschreiten kann, während dies einem Arbeitgeber, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, nicht möglich ist (EuGH v Urt. v. 24.01.2002, Rs. C 164/99). Genau diese Möglichkeit sieht aber – jedenfalls für eine Übergangsfrist – der Koalitionsvertrag mit Blick auf zukünftige Mindestlöhne in Deutschland vor. Ein Konflikt mit dieser Rechtssprechung ist also vorprogrammiert.
Selbst wenn Mindestlohnregelungen auch für ausländische Dienstleister gelten, besteht grundsätzlich das Problem, diese durchzusetzen. Die ausländischen Arbeitnehmer sind i.d.R. in einer schlechten Position, also etwa der irische Stahlflechter, der den französischen Mindestlohn gegenüber seinem irischen Arbeitgeber durchsetzen will. Das müsste er vor französischen Gerichten versuchen – man ahnt: die Hürden sind hoch.
Auch aus diesem Grunde haben sich verschiedene Bundesländer entschlossen Vergaberichtlinien zu verabschieden, nach denen öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die tariftreu sind. Das allerdings fand der EuGH sei unzulässig. Im Fall “Rüffert” hat das Gericht entschieden, dass Tariftreueklauseln, nicht mit der EU-Entsenderichtlinie und der EU-Dienstleistungsfreiheit vereinbar sind (EuGH v. 3.4.2008, Rs. C 346/06). Durch die Entsenderichtlinie seien lediglich Mindeststandards an Arbeitsbedingungen für die entsandten Arbeitnehmer garantiert, die entweder auf einer Rechtsvorschrift oder auf einem für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag beruhen (Art. 3 Abs.1 Ents ‐ RL). Im Fall Rüffert sei der Tarifvertrag aber nicht für allgemein verbindlich erklärt worden, deshalb führe es zu einer Diskriminierung, wenn über Vergaberecht Tariftreue gefordert wird, die nicht bei privaten Aufträgen gelte. Da musste man die Diskriminierung schon mit der Lupe suchen. Inzwischen haben viele Bundesländer unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung in ihrem Vergaberecht Mindestlöhne verankert. Die nordrheinwestfälische Regelung hat das VG Arnsberg gerade dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, weil es sie für europarechtswidrig hält.
Der EuGH knüpfte mit der Rüffert-Entscheidung an vorangehende Urteile mit ähnlicher Tendenz und Wirkung an. Die Durchsetzung von sozialen Standards mittels Streik hatte er in den Fällen Viking3  und Laval4  als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gewertet und für europarechtswidrig erklärt. So ist anzunehmen, dass die deutschen Mindestlöhne für Ausländer zunächst nur auf dem Papier stehen, insbesondere solange noch Tarifverträge vom Mindestlohn nach unten abweichen können.

Die utilitaristische Rechtfertigung

Nach den beinahe konzertierten Fanfarenstößen der europäischen Rechten beeilte sich der politische Mainstream von der Sozialdemokratie über die Wirtschaftsverbände bis zur neoliberalen Strömung der Konservativen Verteidigungslinien zu ziehen. Die Argumentation ist überwiegend durch und durch utilitaristisch. Sie rechnet die Vorteile der Zuwanderung gegen die Nachteile auf und kommt zu dem Ergebnis: Zuwanderung ist für „uns“ Deutsche doch insgesamt vorteilhaft. So schrieb die Welt am 12.1.2014: „Seit Jahresanfang fluten Studien die Öffentlichkeit, die vor allem eins bestätigen: Bundesweit ist die Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren bislang ein Gewinn. Von den 325.000 Zugewanderten aus beiden Ländern waren Ende 2012 laut Bundesagentur für Arbeit 9,6 Prozent arbeitslos (der Durchschnitt aller Ausländer liegt bei 16,4 Prozent). Und Arbeitslosengeld II bezogen 9,3 Prozent der Südosteuropäer (im Durchschnitt aller Ausländer sind es 15,9 Prozent). Insofern belasten Rumänen und Bulgaren die Sozialkassen unterdurchschnittlich. Rund 65 Prozent besitzen zudem eine abgeschlossene Berufsausbildung, 40 Prozent einen Hochschulabschluss. Klaus Zimmermann, Direktor des Bonner Instituts für die Zukunft der Arbeit (IZA), schließt daraus, die große Mehrheit beider Einwanderergruppen bestehe aus ‚gut qualifizierten Fachkräften, die bei uns gebraucht werden’. Dem schlossen sich die Wirtschaftsverbände an. Sie mahnten, mehrheitlich bereicherten die Zugewanderten den Arbeitsmarkt.“

Ähnlich argumentiert Ulrich Krökel in der Frankfurter Rundschau vom 21.1.2014: „Die Fakten sprechen eine andere Sprache als die Populisten. Wo eine nüchterne Sichtweise gepflegt wird, ist vom Verlust im Osten die Rede – und vom Profit im Westen. ‚Braindrain’ nennen Wissenschaftler ein Phänomen, das mit dem übersetzten Wort ‚Gehirnabfluss’ mehr sagt als alle Zahlen. … Welch dramatische Auswirkungen der ‚Braindrain’ hat, zeigt sich keineswegs nur in Polen, dem größten osteuropäischen EU-Land mit seinen 38 Millionen Einwohnern. Aus Litauen sind im Zuge des EU-Beitritts rund 700 000 Menschen abgewandert. Geblieben sind knapp drei Millionen Litauer. Jeder Fünfte ist also gegangen. Statistiker haben errechnet, dass die kleine Baltenrepublik als Migrationsfolge jedes Jahr ein halbes Prozent Wachstum verliert. Gehirnabfluss, Geldabfluss: Es ist dem polnischen Premierminister Tusk und seinen osteuropäischen Kollegen kaum zu verdenken, dass sie sich gegen die Angriffe aus dem Westen wehren. ‚Niemand hat das Recht, auf uns zu zeigen als eine Gruppe, die etwas ausnutzt’, sagt der sonst so pflegeleichte Tusk.

Gut gemeint, aber auf den Hund gekommen ist diese Argumentation, weil sie sich auf die Prämisse einlässt. Die Prämisse in der „Wir“ und „die Anderen“ unterschieden werden und „Wir“ einen Vorteil haben müssen, „deutsche“ Interessen wahren müssen, gegen die Anderen, die Polen, Rumänen und Bulgaren. Dabei eignen sich letztere besser als die wunderbar integrierten, fleißigen und katholischen Polen als Bild der Anderen, als Sündenbock, weil man im Zweifel rassistische Klischees bedienen kann. Auf dieser Welle reitet nun auch die CSU.

Das Dilemma linker Argumentation

Das Problem für eine emanzipatorische, linke, fortschrittliche – wie auch immer – Argumentation liegt darin, dass Seehofer und Konsorten an einem realen Problem anknüpfen, es aber national, reaktionär bis rassistisch durch den Wolf drehen, bis es auch die kleinsten Hirne verarbeiten können. Das reale Problem ist, dass diese Europäische Union – wie der Blick auf die Rechtslage zeigte – eben genau so konstruiert ist, dass Konkurrenzsituationen hergestellt werden, die insgesamt zu einem Lohndumping und zu einem Schleifen der Sozialsysteme führen müssen.
Was wird unter gegenwärtigen Bedingungen und Kräfteverhältnissen die Folge sein, wenn für deutsche Arbeitnehmer ein Mindestlohn besteht, für rumänische Subunternehmer, die in Deutschland ihre Dienste anbieten, aber nicht oder nur auf dem Papier? Der gut gemeinte Mindestlohn wird insgesamt aufgeweicht oder gilt auch nur auf dem Papier. Solange andere ihre Arbeitskraft deutlich billiger anbieten, besteht Druck auf diejenigen, die durch einen Mindestlohn rechtlich geschützt sind. Im Zweifel werden sie „einverstanden“ sein, auf diesen zu verzichten, um überhaupt zu arbeiten.
Was ist unter gegenwärtigen Bedingungen die Folge, wenn ausländische Studierende den „einheimischen“ über die EuGH Rechtsprechung in ihren Sozialansprüchen gleich gestellt werden? Der Gesetzgeber kann auf den ersten Blick zwei Möglichkeiten in Betracht ziehen: Die Leistungen – in welcher Form auch immer – auch Ausländern zu gewähren, oder eben zu kürzen. Welche Option unter dem Diktat selbst geleerter Kassen und Schuldenbremse nahe liegt, ist wohl kein Geheimnis.
Sabine Zimmermann, Abgeordnete der LINKEN hat das Dilemma für die fortschrittliche Argumentation unbewusst deutlich gemacht und gleichzeitig jedenfalls eine mittelfristige Perspektive unter Bedingungen des real existierenden Kapitalismus aufgezeigt. Die Internet-Ausgabe von n–tv berichtet am 16.1.2014: Zimmermann habe „eine Sonderauswertung der BA angefordert, die Auskunft gibt über Hartz-IV-Bezüge der beiden Zuwanderergruppen. Die Zahlen zeigen: Bulgaren und Rumänen in Deutschland sind keinesfalls in überdurchschnittlichem Maße, wie in der Debatte oft unterstellt, arm und arbeitslos – und deswegen auf Hartz IV angewiesen. Vielmehr ist die Zahl der sogenannten Aufstocker in dieser Gruppe besonders hoch. Im Juni 2013 bezogen demnach 27.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien Hartz IV. Knapp 36 Prozent von ihnen waren erwerbstätig – zu derart kleinen Löhnen, dass sie auf Hilfe vom Staat angewiesen waren. Zum Vergleich: Von den insgesamt 4,45 Millionen Hartz-IV-Empfängern sind nur 30 Prozent Aufstocker. Die Zahlen dokumentierten, dass von einem Missbrauch von Sozialleistungen nicht gesprochen werden kann. Allenfalls werden Migrantinnen und Migranten als billige Arbeitskräfte missbraucht’, sagte Zimmermann dem ‚Kölner Stadtanzeiger’.“ Immerhin wird hier der utilitaristische Ansatz „Die sind besonders nützlich“ ergänzt um das Argument „Es gibt keinen Missbrauch seitens der Migranten“. Gleichzeitig wird aber deutlich: es gibt einen berechtigten Gebrauch seitens der Arbeitnehmer und einen Missbrauch seitens der Unternehmen. Diese lassen sich nämlich die ausländischen Arbeitskräfte vom Staat subventionieren, indem sie so geringe Löhne zahlen, dass die Arbeitnehmer Hartz IV Ergänzungen beantragen können. Das ist ein Ansatz, um unter gegenwärtigen Bedingungen gleichzeitig den europarechtlichen Anforderungen zu genügen, ohne die Sozialsystem zu schleifen. Die konkreten Nutznießer müssen zur Kasse gebeten werden. Aber klar ist: Der Ansatz ist nicht verallgemeinerbar.
Was ist die gesellschaftliche Folge, wenn die gegenwärtige Politik weiter verfolgt wird: Es wird weiter ein Druck auf die Lohnhöhe jedenfalls der schlechter qualifizierten Arbeitnehmer ausgeübt. Eine Lohndumpingspirale wird in Gang gesetzt. Zu befürchten ist am Ende, dass die Hartz IV Ansprüche diskutiert werden, die Schraube bei der Anspruchsberechtigung weiter angezogen wird – und das wahrscheinlich nicht von der CSU, sondern aus der neoliberalen Fraktion. Dann aber dürfte das nationalistische Getöse aus der CSU oder der AfD erst recht auf fruchtbaren Boden fallen. Denn dann sucht der Kleinbürger einen Schuldigen für seine Misere und den findet er nicht in unheimlichen und undurchschaubaren Strukturen wie der EU. So schafft der Neoliberalismus die Voraussetzunge für eine autoritäre Wende. Viktor Orban hat diese schon eingeleitet.
Das Dilemma der fortschrittlichen Argumentation besteht darin, dass man mit einer reinen Verteidigungsstrategie auf verlorenem Posten stehen dürfte. Die Verhältnisse werden darüber hinweg rollen. Man muss die Fehlkonstruktion der EU als Wettbewerbsunion kritisieren und muss gleichzeitig aufpassen nicht in das national-chauvinistische Horn von Seehofer und Gauweiler zu stoßen, das dann leicht in eine andere Tonlage wechseln kann, nämlich die rassistische. Um das zu verhindern, kann die gesellschaftliche Linke trotz oder wegen der Kritik am real existierenden Europa nur einen vertiefenden Umbau der EU fordern. Der Umbau zu einer der Solidarität verpflichteten Union, deren Ziel es ist, annähernd gleiche Lebensverhältnisse in allen Mitgliedsstaaten herzustellen. Das ist schwierig gegen den Chor der Nationalisten und Utilitaristen. Es macht die Position – eingeklemmt zwischen Nationalisten und neoliberalen Utilitaristen – so ungemütlich. Die realen Verhältnisse scheinen nur die Wahl zwischen Mist und Jauche zuzulassen oder aufrecht und mit wehenden Fahnen gegen Windmühlen zu kämpfen. Weil nicht einmal die Konstruktionsfehler der Finanzmärkte, geschweige denn die Konstruktionsfehler der EU beseitigt werden und weil die EU deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit nur eine kurze Zeit der Ruhe erlebt, die spätestens beim nächsten Aktien-Crash vorbei ist, kann eine fortschrittliche Position kurzfristig nur in den sauren Apfel beißen und mit den Utilitaristen die sich abzeichnende autoritäre Wende verhindern, indem man sich einerseits der beschränkten utilitaristischen Argumentation gegen national-chauvinistische Ressentiments anschließt und auf der der kurz bis mittelfristigen Perspektive – also vor dem Umbau der Union – die sozialpolitischen Spielräume auf europäischer Ebene erweitert, womit auch der EuGH in seine Schranken zu verweisen ist.

 

1 Geändert durch Verordnung 465/2012 vom 22. Mai 2012 und ergänzt durch Verordnung (EG) Nr. 987/2009 vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004.

2 Nach der deutschen Diskussion sah sich die Kommission veranlasst, die Rechtslage zu erklären und gab einen Leitfaden zu den Ansprüchen von EU Ausländern auf Sozialleistungen heraus, den Practical guide on The applicable legislation in the EU, EEA and in Switzerland. Das Ergebnis lässt sich so zusammen fassen: Ein genereller diskriminierender Ausschluss von Leistungen ist europarechtlich unzulässig. Der Anspruch muss im Einzelfall geprüft und diskriminierungsfrei gewährt werden.

3 EuGH, v. 11.12.2007: Rs. C-438/05: Die finnische Viking Line wollte eines ihrer Schiffe umflaggen und in Estland registrieren zu lassen mit dem einzigen Zweck, das niedrige estnische Lohnniveau in Anspruch zu nehmen. Daraufhin hat die Internationale Transportarbeiter Föderation (auf Bitten der finnischen Gewerkschaft) der estische Gewerkschaft verboten, mit Viking Line zu verhandeln, was auch geschah. Das empfand Viking Line als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit.

4 EuGH v. 18.12.2007, Rs. C – 341/05, Rn. 94: Das lettische Unternehmen Laval wurde mit Bauarbeiten in Schweden beauftragt. Entlohnt wurde nach dem lettischen Tarif, d.h. deutlich niedriger als in Schweden. Das veranlasste die schwedischen Gewerkschaften dazu, die Baustellen von Laval zu bestreiken, indem sie blockiert wurden. Auch hier meinte das Unternehmen, die Niederlassungsfreiheit sei unrechtmäßig eingeschränkt. Der EuGH hat in beiden Fällen die Niederlassungsfreiheit mit der Streikfreiheit abgewogen; im ersten Fall mit offenem Ergebnis im zweiten zu Lasten der Streikfreiheit.

 


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