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Warum eine Attac-Kampagne zur Krankenhausfinanzierung im Wahljahr 2021?

Das Gesundheitswesen als Daseinsvorsorge für alle Menschen, die in Deutschland leben, war schon 2002 Anlass für eine der ersten Attac-Kampagnen, denn schon damals war es bedroht durch den wachsenden Druck neoliberaler Lobby-Interessen, das Solidaritätsprinzip auszuhöhlen und sowohl national als auch international umzubauen zu einer Gesundheitswirtschaft, in der Wettbewerb und Gewinnstreben privater Leistungsanbieter und Krankenkassen als entscheidende Steuerungsinstrumente für diesen neuen kapitalistischen Markt fungieren sollen.

Bis heute hat dieser Druck der Lobbyinteressen nicht nachgelassen und unsere Regierung hat dieses Ziel dementsprechend mit unterschiedlichen  Maßnahmen weiter verfolgt. Im Bereich der stationären Behandlung erfolgte der Paradigmenwechsel weg von der staatlichen Daseinsvorsorge und hin zu kapitalistischer Wirtschaftsweise durch die Einführung eines neuen Finanzierungssystems durch Fallpauschalen (das sogenannte DRG-System). Seither spielt bei allen medizinischen Behandlungsentscheidungen das betriebswirtschaftliche Interesse des Klinikbetreibers eine dominante Rolle, möglichst hohe Erlöse zu erzielen bei gleichzeitig möglichst geringen dafür erforderlichem Kostenaufwand. Mit der Einführung dieses DRG-Systems (DRG = Diagnosis Related Groups) wurden endgültig Gewinne durch die Krankenbehandlung zugelassen, über die das Krankenhaus dann frei verfügen kann. Wer heute im Krankenhaus vor allem gewinnorientiert denkt und handelt, gehört zu den Gewinnern dieses Systems, unabhängig davon, mit wieviel Personal die Behandlung durchgeführt wurde und auch unabhängig davon, ob PatientInnen mit dem Ergebnis der Behandlung zufrieden sind oder nicht.
Dieses Finanzierungssystem hat zu einer fast ungebremsten Privatisierungswelle geführt mit dem Ergebnis, dass seit einigen Jahren Deutschland weltweit die meisten Kliniken in privater Trägerschaft aufweist. Das Geschäftsmodell ist das einer kapitalistisch wirtschaftenden Fabrik: Wer die Behandlungen verkauft, die im Fallpauschalenkatalog besonders hohe Erlöse ermöglichen, und gleichzeitig beim Personal spart, das ca. 60% aller Kosten im Krankenhaus verursacht, der kann den besten Gewinn einfahren und auch die renditeorientierten Aktionäre am besten zufriedenstellen. Auch international agierende Finanzakteure haben natürlich ein Interesse daran, in diesen lukrativen Markt einzusteigen. Wäre der Freihandelsvertrag TTIP mit den USA nicht vor einigen Jahren am Widerstand der BürgerInnen diesseits und jenseits des Atlantik gescheitert, hätten vermutlich inzwischen noch weit mehr internationale finanzstarke Investoren Krankenhäuser in Deutschland aufgekauft und hätten die Ökonomisierung des Klinikalltags zusätzlich verschärft.
Im Laufe der Jahre haben sich durch diese  kommerziellen  Interessen die Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten im Krankenhaus derart verschlechtert, dass – besonders im Pflegebereich – viele ihren Beruf aufgegeben oder ihre Arbeitszeit reduziert haben, um ihre Gesundheit nicht dauerhaft zu ruinieren. Gleichzeitig ist auch der Widerstand gegen die unerträglichen Arbeitsbedingungen gewachsen. Besonders die Pflegekräfte haben seit mehreren Jahren durch gezielte Streiks in verschiedenen Bundesländern die Missstände auf den Stationen öffentlich sichtbar gemacht mit überwältigender Zustimmung in weiten Teilen der Bevölkerung und auch in vielen Medienberichten. Der politische Druck ist durch diesen Widerstand so groß geworden, dass die aktuelle Regierungskoalition in ihrem Regierungsprogramm beschlossen hat, die Kosten für die Pflegekräfte aus der Kalkulation der DRG´s herauszunehmen und nach dem Prinzip der Selbstkostendeckung zu finanzieren. Das entsprechende Gesetz ist zum 1.1.2020 in Kraft getreten und ist ein erster wichtiger Schritt zur Beendigung der zügellosen Ökonomisierung der stationären Krankenversorgung.
Die Corona-Pandemie hat das öffentliche Interesse an der Leistungsfähigkeit unserer Krankenhäuser weiter verstärkt. Erstmals seit vielen Jahren wurde durch die Pandemie deutlich, dass zur Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems nicht nur eine gute Behandlung und Pflege der Kranken gehört, sondern auch die Fähigkeit, unvorhersehbare Herausforderungen zu meistern, wozu nicht nur eine Pandemie gehört, sondern auch andere Großschadensereignisse wie Massenunfälle, Havarien großer Industrieanlagen oder Unfälle in Atomkraftwerken. Wenn unser Gesundheitswesen in solchen Ausnahmen nicht kollabieren soll, müssen wir als Gesellschaft dafür Ressourcen vorhalten, die im normalen Alltag nicht benötigt werden, Ressourcen an freien Betten, freien Plätzen auf Intensivstationen, an Material, das für solche Behandlungen erforderlich ist – vor allem aber an ausreichend Fachpersona, ohne deren Verfügbarkeit in den freien Betten niemand behandelt werden kann. Diese Vorhaltung von im Alltag nicht benötigten Behandlungskapazitäten hat seit Beginn der Coronapandemie für alle sichtbar fast vollständig gefehlt, schon an der Bereitstellung der erforderlichen Schutzkleidung für das Personal ist unser Gesundheitswesen über Wochen kläglich gescheitert. Und viele der eilig herbeigeschafften zusätzlichen Beatmungsgeräte und Intensivbetten können bis heute gar nicht für die Behandlung der Covid-19-PatientInnen genutzt werden, weil wir seit Jahren nicht genügend Fachpersonal in den Kliniken haben, das für die hoch komplexe Behandlung auf solchen Stationen zur Verfügung steht.
Man hätte es wissen können: ein kapitalistisch wirtschaftendes Unternehmen berechnet seinen Aufwand immer nur nach dem durch Verkauf seiner Waren zu erwartenden Erlös, wird aber niemals auf Vorrat produzieren und die dafür notwendigen Strukturen vorhalten, wenn die dadurch produzierten Waren nachher auf Halde liegen, denn das Unternehmensziel ist nun mal der Gewinn. Nur wir alle als Gesellschaft haben ein Interesse daran, dass bei jeder denkbaren Katastrophe für jede*n die rettende Behandlung auch verfügbar ist. Daher kann wirksame Daseinsvorsorge nur von staatlichen Institutionen gewährleistet werden.
Privates Profitdenken ist mit den elementaren gesellschaftlichen Aufgaben, die das Gesundheitswesen zu erfüllen hat, nicht vereinbar. Wie in einem Brennglas ist dieser grundsätzliche Widerspruch in der Coronapandemie offenbar geworden. Diese Erkenntnis ist weit über Attac hinaus vielen politischen Akteuren bewusst geworden, die in der gesundheitspolitischen Debatte teilweise einen großen Einfluss haben. Nicht alle von ihnen sind bereit, alle erforderlichen Schritte mitzugehen, die zu einer wirksamen Bekämpfung der ökonomischen Fehlanreize in unserem Gesundheitswesen erforderlich wären. Im stationären Sektor ist und bleibt zumindest in Deutschland  die wichtigste realpolitische Forderung die Abschaffung des DRG-Systems und stattdessen die Einführung einer Finanzierung der Krankenhäuser nach dem Prinzip der Selbstkostendeckung, flankiert durch Kontrollmaßnahmen, die eine wirtschaftlich sparsame Betriebsführung sicherstellen und einer möglichen „Selbstbedienungsmentalität“ der Krankenhäuser als Leistungserbringer vorbeugen. Eine Kampagne braucht aber viele MitkämpferInnen, die nicht alle hinter dieser Forderung zu vereinen sind. Im Wahljahr 2021 sollten wir daher auch zu Kompromissen bereit sein, die in den folgenden Forderungen konkretisiert sind:

  • Aussetzen der DRG´s für den gesamten Zeitraum, in dem unser Gesundheitswesen die Herausforderungen der Corona-Pandemie meistern muss
  • Herausnahme der Personalkosten aller Berufsgruppen aus den DRG-Kalkulationen, die direkt in die Patientenbehandlung involviert sind, und Finanzierung dieser Kosten entsprechend der Regelung für die Pflegekräfte
  • Ausgleich der Einnahmeverluste durch Freihaltung von Krankenhausbetten nach den tatsächlich entstandenen Kosten statt auf Grundlage der DRG-Erlöseinnahmen aus dem Jahr vor der Pandemie
  • Herausnahme aller Einrichtungen des Gesundheitswesens aus den bereits gültigen internationalen Freihandelsverträgen, auch aus der Zuständigkeit der vertraglich vereinbarten Schiedsgerichtsverfahren, damit eine Rekommunalisierung privater Krankenhäuser rechtlich möglich werden kann.
     

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