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Von der neoliberalen Scholastik zur emanzipierten Gesellschaft – Grundlinien einer nicht nur akademisch überzeugenden Erkenntniskritik des Neoliberalismus

Dass die neoliberale Theorie moralisch verwerflich ist, leuchtet schnell ein. Auch dass mit ihr wissenschaftlich etwas nicht stimmt, drängt sich als Eindruck rasch auf. Aber sie wissenschaftlich wirklich zu stellen, ist bereits alles andere als trivial – und noch voraussetzungsreicher ist schließlich, ihre wissenschaftliche Autorität in der allgemeinen Öffentlichkeit so sehr zu erschüttern, dass niemand mehr auf die Idee kommen kann, neoliberale ÖkonomInnen mit wissenschaftlicher Politikberatung oder der Leitung machtvoller Institutionen zu betrauen.

Was also ist zu tun? Dazu haben Thomas Dürmeier und ich ein paar Ideen, die ich im Folgenden skizzieren werde (1) und die wir in unserem Seminar auf der Attac-Sommerakademie 2019 diskutieren möchten („Von der neoliberalen Scholastik zur emanzipierten Gesellschaft“, Samstag, 3.8., 9.30-12.30, Raum C1.06).

1.

Vor 19 Jahren rebellierte eine kleine Gruppe von Studierenden der Wirtschaftswissenschaft an der Pariser Universität Sorbonne mit dem Internet-Aufruf „Autisme-Économicie“ gegen die Beherrschung Ihres Studienfachs durch eine einzige, dominante, keine anderen Götter neben sich duldende und mathematisch-formal abgeschlossene und verselbständigte, ökonomische Theorie. Die Initiative wurde zum Startschuss einer größeren, weltweiten Bewegung, die nicht zuletzt dank eines von Thomas Dürmeier organisierten, viertägigen Seminars auf der Attac-Sommerakademie 2003 auch Deutschland erreichte und hier unter anderem zur Gründung des heutigen Netzwerks Plurale Ökonomik führte.

Gleichzeitig ist die Bewegung bis heute durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Zum einen versteht sie sich dezidiert als innerakademisch, also als Bewegung selbstkritischer ÖkonomInnen bzw. Ökonomiestudierenden, statt zum Beispiel als politische oder als Bildungsbewegung; und zum anderen geht es ihr eher um eine größere Pluralität von Ansätzen als um die Etablierung eines einheitlichen Alternativansatzes zu herrschenden Lehre. Im Ergebnis gibt es heute einige plurale Lehrstühle und Studiengänge. Aber erschüttert das die wissenschaftliche Autorität und Dominanz des Neoliberalismus? Zweifel daran sind nicht nur mit Blick auf die Quantität der Erfolge erlaubt, sondern auch deshalb, weil die neoliberale Theorie viel eher dem tief in der Gesellschaft verankerten, traditionellen Verständnis von Wissenschaftlichkeit entspricht.

2.

Um diese Entsprechung von neoliberaler Theorie und dem traditionellen Verständnis von Wissenschaftlichkeit zu verstehen, muss man zu den Anfängen der Wissenschaft zurückgehen. Damals leistete Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) nicht nur wesentliche Beiträge zur Theorie der Differentialgleichungen. Leibniz folgerte auch, dass die neue Wissenschaft, angesichts der mathematischen Struktur der physikalischen Bewegungsgleichungen, ein ganz bestimmtes Bild von der Welt zeichne. Und sehen wir uns dieses Bild an, stellen wir fest, dass es mit dem übereinstimmt, das die einige Jahrzehnte später entstandene wirtschaftsliberale Theorie vom Marktgeschehen entwarf: Obwohl alle nur ihren inneren Impulsen folgen, kommen sie sich doch angeblich nicht in die Quere, entsteht kein Chaos, sondern repräsentiert das Ganze die ‚beste aller möglichen Welten’ (Leibniz), das einer Gesellschaft mögliche Optimum.

Hinzu kommt, dass Leibniz’ Weltbild-Ableitung eng mit der Idee verbunden war, dass man die physikalischen Bewegungsgleichungen irgendwann vollständig würde berechnen können. Bis heute herrscht deshalb die Vorstellung vor, man könne Wissenschaft vor allem daran erkennen, dass exakt gerechnet und berechnet werde und dass Prognosen gemacht werden. Auch davon profitiert die heutige neoliberale Theorie mit ihren formalen Modellen; sie bedient diese Vorstellung wie kein anderer wirtschafts- oder sozialwissenschaftlicher Ansatz.

Doch tatsächlich liegt hier auch gerade der Fehler des ganzen Systems, denn wie nach 1963 immer bewusster wurde, ist die vollkommene Berechenbarkeit aller physikalischen Bewegungsgleichungen (Differentialgleichungen) mathematisch unerreichbar. Und mehr noch: Dies wirkt sich auch auf das von Leibniz abgeleitete Weltbild aus. In Wirklichkeit kommen sich die Einzelnen, wenn sie nur ihren inneren Impulsen folgen, eben doch häufig in die Quere. Mein Handeln kann zum Nachteil meiner Mitmenschen sein. Oder zu ihrem Nutzen. Diese ‚Wechselwirkungen’ lassen sich durch mathematische Umformungen nur zum Teil ‚eliminieren’. Sie sind insofern nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich vorhanden.

3.

Für die wirtschaftsliberale Theorie bedeutet das: Ihr ist zwar nicht schon automatisch der Todesstoß versetzt, aber die Beweislast zugeschoben. Wer die wirtschaftsliberale Theorie beibehalten will, muss die Marktdynamik analysieren und zeigen, dass diese die behauptete Leistung tatsächlich erbringe, nämlich stets den bestmöglichen Zustand einer Gesellschaft zu realisieren.

Um es kurz zu machen: Dies ist bisher nicht nur nicht gelungen. Die herrschende ökonomische Theorie versucht es auch immer weniger. Ihre Geschichte (von der Klassik über die Neoklassik zur neoliberalen Spielart der Neoklassik) ist geradezu dadurch gekennzeichnet, dass sie immer ‚perfekter’ begründet, warum man die Marktdynamik gar nicht analysieren müsse, sondern sie von vornherein im Sinne des veralteten, leibnizschen Weltbildes charakterisieren könne. Die ursprüngliche Idee von der ‚Selbstregulierung’ des Marktes und seinen ‚Selbstheilungskräften’ dient somit heute nur noch dem Marketing. Der theoretische Kern der neoliberalen Theorie ist nichts anderes als eine Rückkehr in Leibniz’ Schoß: Sämtliche Wechselwirkungen zwischen den MarktteilnehmerInnen sollen ausgeschlossen sein, weil ja jede/r einzelne die gesamte Marktdynamik einschließlich der Strategien der anderen antizipiere.

Klingt lächerlich? Jedenfalls ist es bereits rein mathematisch genauso unerreichbar wie die vollständige Berechenbarkeit der physikalischen Bewegungsgleichungen. Der Grund ist, dass sich die verschiedenen MarktteilnehmerInnen in dem Maß, in dem sie sich alle in diesem Sinne verhalten und zwischen ihren Strategien Wechselwirkungen existieren, bloß gegenseitig blockieren (wie im Grunde schon 1935 Oskar Morgenstern wusste).

4.

Trotzdem ist auch das noch keine endgültige Widerlegung der Marktutopie. Es wäre ja denkbar, dass bisher nur noch nicht richtig verstanden wurde, inwiefern die Marktdynamik durch eine ‚unsichtbare Hand’ geprägt sei, die alles zum Guten wende. Und: Macht man sich mit dieser oder irgendeiner anderen Überlegung im Hinterkopf tatsächlich an die Analyse der Marktdynamik, ist es sicherlich auch sinnvoll, verschiedene Wege auszuprobieren. Insofern ist eine entsprechende Pluralität in der ökonomischen Theorie tatsächlich ein Wert an sich.

Und doch darf man auch einmal nach Zwischenergebnissen fragen. Mich hat bisher am meisten überzeugt, das Marktgeschehen analog zu einem Ökosystem zu begreifen, in dem verschiedene Arten miteinander ko-evoluieren. Setzt man dies in ein mathematisches Modell um, wie Stuart Kauffman dies getan hat, so ergibt sich vor allem, dass das System insgesamt keine ‚Energiefunktion’ besitzt, so dass es sinnlos ist, ein ‚Optimum’ des Gesamtsystems bestimmen und nach einer ‚unsichtbaren Hand’ suchen zu wollen, die dies garantiere. Außerdem zeigt die dynamische Analyse, dass das System prinzipiell jederzeit zusammenbrechen kann und es die einzelnen ‚Arten’ (MarktteilnehmerInnen) auch darüber hinaus einer teilweise irrationalen Herrschaft unterwirft, nämlich indem es sie nicht zum Opfer mangelnder, individueller ‚Fitness’, sondern der Stabilitätsbedingungen des Gesamtsystems werden lässt, die einem gewissen Teil der Arten die Verbesserung ihrer ‚Fitness’ verwehren. Kurz: In der Marktdynamik lässt sich zwar durchaus eine gewisse ‚unsichtbare Hand’ ausmachen, doch erbringt diese nicht die ihr durch die wirtschaftsliberale Theorie zugeschriebene Leistung. Vernünftiger, als ihre Launen einfach zu akzeptieren, erscheint in vielen Fällen, die zwischenmenschlichen Beziehungen durch demokratisch vereinbarte, allgemein geltende, rechtliche Regeln zu organisieren und durch demokratische Politik zu gestalten.

Schließlich: Selbst wenn man argumentieren wollte, dass die Ökosystem-Analogie nicht angemessen sei und in Wahrheit durch ein anderes Modell ersetzt werden müsse, wird man kaum an Kauffmans ‚Neuer Statistischer Mechanik’ vorbeikommen. Anders als in der ökonomischen Theorie nach wie vor üblich, untersucht diese das dynamisches Verhalten nicht bloß einzelner Systeme, sondern ganzer Systembündel, das heißt sie variiert die äußeren Parameter, um am Ende sagen zu können: Diese und jene Dynamik ist typisch, insofern sie bei den meisten Parameterwertkombinationen auftritt; und jene Dynamik ist nur eine Ausnahme, insofern sie ganz spezielle Kombinationen voraussetzt. Usw. Damit kann man wirklich etwas anfangen, aber nicht mit der Anhäufung formaler Modelle und deren jeweils isolierter Analyse.

5.

‚Alles gut und schön’, mag man einwenden. ‚Aber die eigentliche, konzeptionelle Grundlage der neoliberalen Theorie ist doch inzwischen die Rationalität des ökonomischen Agenten.’ Ja, das ist die vorläufig letzte Rückzugslinie: Wenn die ‚unsichtbare Hand’ nicht das leistet, was die wirtschaftsliberale Theorie immer versprochen hat, so sollen wir, von unserer biologischen Verfasstheit her, doch wenigstens unfähig sein, vernünftigere, politisch-rechtliche Lösungen herbeizuführen. Wir sollen auf unsere individuelle Perspektive festgelegt, also zum Egozentrismus verdammt sein. Wir sollen unfähig sein zu begreifen, dass unsere Autonomie durch ein gemeinsames System von Rechten und Pflichten besser geschützt ist als in einem Haifischbecken.

Lediglich die neoliberalen Ökonomen (es handelt sich tatsächlich meist um Männer) sollen in der Lage sein, weiter zu blicken: Da sie als Grundlage nicht mehr das Marktmodell, sondern das Konzept der (egozentrischen) ‚Rationalität’ verwenden, und obwohl dies eigentlich eine Rückzugslinie zur Verteidigung der wirtschaftsliberalen Politikempfehlungen war, haben sie ihre Zuständigkeit heute weit über den Markt hinaus auf alle Arten gesellschaftlicher und politischer Institutionen ausgeweitet. Mithin werden auch diese nicht-marktlichen Institutionen heute neoliberal durchgestaltet, nämlich mit Blick auf ihre ‚Anreizstrukturen’, immer unterstellend, wir seien nichts als zur Solidarität und Vernunft unfähige EgozentrikerInnen.

Jede und jeder mag sich selbst fragen, ob sie oder er diese Charakterisierung für sich selbst akzeptieren kann. Die Wissenschaft fordert diese Sichtweise jedenfalls nicht, und selbst wenn es anders wäre: Wollten wir uns wirklich einreden lassen, wir seien unfähig zu jeglicher Kooperation und auch Moral? Beim letzten Mal – im Fall des Sozialdarwinismus, der dem Nationalsozialismus dabei half, seine Morde rassistisch zu legitimieren – hat dies zur Mitverantwortung für zig Millionen Tote geführt.

6.

Alles in allem: So verdienstvoll die bisherige Plurale Ökonomik sein mag, so sehr muss man doch auch über sie hinausgehen. Da die traditionelle Vorstellung von Wissenschaft und vom wissenschaftlichen Weltbild nach wie vor tief in der Gesellschaft verankert ist, auch wenn sie mathematisch-physikalisch längst als Irrtum erkannt wurde, wird die wissenschaftliche Autorität des Neoliberalismus nicht erschüttert werden, solange seine tiefe Verbundenheit mit jenen veralteten Vorstellungen nicht ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Nicht nur der wissenschaftliche Diskurs, auch die Gesellschaft insgesamt muss deshalb der neoliberalen Theorie gegenüber kritikfähig werden, und der Schlüssel dazu liegt in der Aufdeckung des Skandals, dass die neoliberale Theorie dreist in Anspruch nimmt, was längst metaphysisch geworden ist, in der Gesellschaft aber verständlicherweise immer noch für strenge Wissenschaft gehalten wird.

(1) Die folgenden Abschnitte 2.-5. orientieren sich eng an den entsprechenden Analysen meiner Trilogie Allgemeine Grundlagen der Politischen Theorie (im Folgenden AGPT, I bis III), Düsseldorf 2014 (Zusammenfassung). Thomas Dürmeiers Ideen und Forschungsergebnisse finden sich unter anderem in Thomas Dürmeier/Tanja v. Egan-Krieger/Helge Peukert (Hg.): Die Scheuklappen der Wirtschaftswissenschaft. Eine postautistische Ökonomik für eine pluralistische Wirtschaftslehre, Marburg 2006; Thomas Dürmeier/Johannes Euler: Warum in der Wirtschaftswissenschaft keine Pluralität entsteht. Eine Zwischenbilanz nach zehn Jahren Real World Economics in Deutschland, in: Kurswechsel 1/2013, 24-40.


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