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Richard Wilkinson & Kate Pickett: The Inner Level. How More Equal Societies Reduce Stress, Restore Sanity and Improve Everyone´s Well-being.

Zusammenfassung und Rezension zu Richard Wilkinson & Kate Pickett: The Inner Level. How More Equal Societies Reduce Stress, Restore Sanity and Improve Everyone´s Well-being. Penguin Random House, UK, 2018
Die amerikanisch-englischen Gesundheitsforscher*innen Kate Pickett und Richard Wilkinson haben aktuell ein neues Buch veröffentlicht, das an die Erkenntnisse ihrer 2009 veröffentlichten Studie „The Spirit Level“ anknüpft, in welcher eine große Bandbreite von Gesundheits- und sozialen Problemen nachgewiesen wurde, die in ungleichen Gesellschaften wesentlich größer sind als gleicheren.
Wichtige Ergebnisse der Recherchen von Wilkinson und Pickett werden hier relativ ausführlich zusammengefasst, um eine Basis für die abschließende Diskussion und Bewertung zu haben.
 
Einleitung
Im neuen Band stehen die schon damals festgestellten psychologischen Auswirkungen des durch Ungleichheit erzeugten Stresses im Mittelpunkt: wie sie sich in unserem Bewusstsein widerspiegeln, was zum Anstieg von Ängsten führt, wie Menschen darauf reagieren und welche Konsequenzen dies für psychische Erkrankungen und emotionale Störungen hat und wie die Beziehungen der Menschen untereinander beeinflusst werden.
Andere wichtige Themen wie Narzissmus, Materialismus und Konsumismus, historische Aspekte von Gleichheit und Ungleichheit sowie genetische und soziale Theorien ihrer Entstehung werden ebenfalls behandelt. Den Abschluss bilden politische Handlungsmöglichkeiten zur Reduzierung von Ungleichheit.
Für diejenigen, die den früheren Band nicht kennen, werden dessen wesentliche Ergebnisse kurz zusammengefasst: Gesellschaften mit größerer Einkommensungleichheit haben eine geringere Lebenserwartung und eine höhere Rate von Kindersterblichkeit, mehr psychische Erkrankungen, Drogenprobleme und Fettleibigkeit. Größere Ungleichheit verändert auch die sozialen Beziehungen: mehr Gewalt, höhere Mordraten und mehr Gefängnisstrafen. Menschen vertrauen einander weniger und das Zusammenleben ist schwächer. Ungleichheit beeinträchtigt auch die Lebenschancen von Kindern, deren Wohlbefinden beeinträchtigt ist und zu geringeren schulische Leistungen führt. Es gibt mehr frühe Mutterschaften im Teenageralter und weniger soziale Mobilität in der Gesellschaft.
Ungleichere Gesellschaften führen zu mehr Statuswettkämpfen und größerer Unsicherheit. Größere Einkommensunterschiede vergrößern auch die Bedeutung von  Statusunterschieden. Als Folge kann man sehen, wie Ungleichheit unsere Werte, unser Selbstwertgefühl, unsere Beziehungen und unsere psychische Gesundheit beeinflussen.
Die so entstandenen Probleme möchten die Autor*innen nicht durch individuelles Erlernen eines besseren Umgangs mit psychischen Defiziten beheben, sondern stattdessen sollen die gesellschaftlichen Ursachen identifiziert werden. Wilkinson und Pickett folgen damit Rudolf Virchow, der Medizin als Sozialwissenschaft und Politik als Medizin bezeichnet hat.
 
Psychische Erkrankungen und ihre Ursachen
Der Wunsch, in einer Gesellschaft von nahezu Gleichen zu leben, ist heute nicht sehr verbreitet. Stattdessen richtet sich das Bemühen darauf, den eigenen Status zu verbessern. Größere Gleichheit könnte dagegen viele Probleme wie schlechtere Gesundheit und soziale Ängste reduzieren und damit ein gutes Leben jenseits des Materialismus herbeiführen, was auch aus ökologischen Gründen notwendig wäre.
Richard Layte und Christopher Whelau haben 2007 eine umfangreiche Studie zu der Frage durchgeführt, ob Einkommensungleichheit tatsächlich zu größeren Statusängsten führt. Sie haben 35.634 erwachsene Personen aus 31 Ländern (27 EU-Staaten plus Norwegen, Kroatien, Mazedonien und Türkei) befragt. Die Ergebnisse waren eindeutig: in allen Einkommensgruppen (gemessen in Dezilen) waren die Statusängste in einkommensungleicheren Ländern (Rumänien, Polen, Litauen Lettland Portugal) am größten, in Ländern mit geringerer Ungleichheit (Tschechien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Slowenien und Malta) am geringsten. Als Erklärung wird angegeben, dass in ungleicheren Ländern die Menschen an der Spitze der sozialen Leiter als besonders wertvoll und diejenigen am Ende als fast wertlos angesehen werden.
Durch zahlreiche Studien ist nachgewiesen, dass psychische Erkrankungen in ungleichen Ländern deutlich höher sind als in gleicheren. Depressionen und Angststörungen sind die weltweit häufigsten psychischen Erkrankungen. Die WHO schätzt, dass allein von Depression weltweit 350 Millionen Menschen betroffen sind. Die Selbstmordrate liegt bei einer Million.
Eine englische Studie aus dem Jahre 2007 hat herausgefunden, dass Depressionen bei Menschen der beiden unteren Einkommensdezile weitaus häufiger verbreitet sind als in den anderen Einkommensgruppen.
Depressionen und Angststörungen sind eng miteinander verbunden. Sie korrelieren mit Gefühlen wie Scham und Unterwerfung. Menschen mit diesen Symptomen neigen dazu, sich im Vergleich mit anderen als unvorteilhaft zu bewerten. In der Evolution hatte Submissionsverhalten oft den Vorteil, der Vernichtung durch Mächtigere zu entgehen. Es wurde deswegen bis in die Gegenwart beibehalten.
In stärker durch Wettbewerb, Ungleichheit und Materialismus gekennzeichneten Gesellschaften neigen Menschen mehr dazu, sich mit anderen zu vergleichen. Je höher der Status, desto mehr haben sie das Gefühl, ihr Leben kontrollieren zu können und desto weniger Stress empfinden sie. Je geringer der soziale Status, desto weniger haben sie das Gefühl, ihr Leben unter Kontrolle zu haben.
Das Einkommen spielt insofern eine entscheidende Rolle, als es im Vergleich mit anderen den eigenen Rang bestimmt. Schon bei Kindern kann festgestellt werden, dass sie ein höheres Selbstwertgefühl und eine größere Lebenszufriedenheit haben, wenn das familiäre Einkommen höher ist (Studie mit elfjährigen Kindern in Großbritannien). In ungleicheren Gesellschaften ist der Effekt deswegen stärker, weil größere Ungleichheiten nicht übersehen und ignoriert werden können.
Zahlreiche weitere Studien haben nachgewiesen, dass Depressionen in einkommensungleicheren Ländern häufiger auftreten. Dies gilt auch für Schizophrenie. Als Ursache werden Verlust an sozialem Zusammenhalt und höhere Raten an Vergleichen des sozialen Ranges angegeben.
Eine weitere Ursache könnte im vermuteten Kontrollverlust über das eigene Leben liegen.  Menschen, die ihr Leben von außen kontrolliert fühlen, sind ängstlicher und neigen mehr zu Depressionen und in der Kindheit sind ihre schulischen Leistungen schlechter.
 
Selbstwertsteigerung und Narzissmus
Eine positive Selbsteinschätzung wird allgemein als Basis von psychischer Gesundheit und Wohlbefinden angesehen. Dem steht entgegen, dass diese positiven Einschätzungen offenbar nicht immer der Realität entsprechen. So schätzten sich in den 50er Jahren 12 % der amerikanischen Teenager als sehr bedeutende Person ein, in den 80er Jahren waren es 80 %. In der gleichen Zeit stieg der Angstlevel dramatisch an. Ähnlich ist zu werten, dass schwarze amerikanische Männer eine höhere positive Selbsteinschätzung (72 %) als weiße (59 %) haben (Studie von 2011), obwohl sie gleichzeitig sagen, dass sie z. B. in Restaurants und Läden schlechter bedient werden und das Gefühl haben, ignoriert und übersehen zu werden.
Überhöhte Selbsteinschätzung ist oft verbunden mit Narzissmus, welcher mit Mangel an Empathie, Verleugnung von Schwäche, schlechter Reaktion auf Kritik und starker Beschäftigung mit der eigenen Erscheinung in den Augen anderer und Übertreibung von eigenen Talenten und Erfolgen verbunden ist.
Empirische Untersuchungen haben in den USA zwischen 1982 und 2006 einen Anstieg narzisstischer Tendenzen um 30 % ergeben. In dieser Periode war gleichzeitig ein erheblicher Anstieg von Einkommensunterschiede zu verzeichnen, ebenso von Wettbewerb und Statussuche.
Zu Wettbewerb und Statussuche zählt auch die Umformung des menschlichen Körpers, um Schönheitsidealen oder Fitnessvorstellungen zu entsprechen. Im Jahre 2013 wurden in den USA 2 Millionen Schönheitsoperationen und 14 Millionen nicht invasive kosmetische Prozeduren wie Spritzen von Botox durchgeführt. Bei Patient*innen mit kosmetischen Operationen wurden fünfmal häufiger psychische Erkrankungen in der Vorgeschichte als bei anderen Operationen festgestellt. Symptome wie Depression und Angst oder Suizidneigung wurden insbesondere bei jungen Frauen festgestellt.
Narzissmus darf nicht mit dem normalen Bedürfnis nach angemessener Selbstliebe und angemessenem Selbstbewusstsein verwechselt werden. Narzisstische Menschen haben keine höhere Intelligenz und Leistungsfähigkeit als andere Menschen. Narzissmus kann als Konsequenz der „einer-gegen-alle Logik“ gesehen werden: Kooperation wird durch Statuswettbewerb ersetzt.
Ungleichheit führt nicht nur zum Anstieg von Narzissmus und Psychopathie in der Gesellschaft insgesamt, sondern auch zum Anstieg von Menschen mit diesen Eigenschaften in Führungspositionen. Die Psychologen Babiak und Hare bezeichnen dieses Phänomen als „snakes in suits“ (Schlangen in Anzügen oder Nadelstreifen).
Ein Vergleich von 39 Managern und 768 Patienten eines Hospitals hat ergeben, dass die Wirtschaftsmanager*innen höhere Werte bei einigen negativen Zügen wie Egozentrismus, Narzissmus und Zwanghaftigkeit (z. B. Perfektionismus) aufwiesen als die Patient*innen. Narzissmus und Psychopathie sind aber nur die Spitze des Eisberges. Ein großer gesellschaftlicher Schaden entsteht vielmehr daraus, dass Menschen in höheren Positionen meinen, sie seien verdienstvoller als andere und diese sich dadurch abgewertet fühlen.
Notwendig wäre dagegen, Menschen aus unteren sozialen Schichten in ihrer größeren  Hilfsbereitschaft gegenüber anderen zu bestärken. Empathie als Kontrapunkt zu Narzissmus ist ein wichtiger Faktor für gegenseitige Hilfe und Solidarität. In ungleicheren Gesellschaften ist infolge geringerer Empathie auch die Bereitschaft zur Hilfe weniger ausgeprägt. Eine vergleichende Studie hat ergeben dass in Schweden 85 % der Menschen bereit sind, Älteren zu helfen, in Großbritannien nur 54 % und in Estland sogar nur 33 %.  68 % der Schweden*innen sind auch bereit, Immigrant*innen zu helfen, bei den Brit*innen sind es nur 14 %, bei den Litauer*innen 4 %.
 
Materialismus und Konsumismus
Das Wohlbefinden von Kindern wird erheblich durch Materialismus und Statuskonsum beeinflusst. Eine UNICEF-Studie hat gezeigt, dass kindliches Wohlbefinden in ungleicheren reichen Ländern schlechter ist als gleicheren. Eine Ursache ist, dass Dinge Beziehungen und Zeit, die zusammen verbracht wird, ersetzen. Materialismus ist verbunden mit Angst, Depression und Drogenkonsum. „Materialismus macht uns unglücklich, aber unglücklich sein macht uns materialistisch“ (Tim Kasser, 106). Er fand auch, dass amerikanische Kinder über die Generationen seit 1976 materialistischer geworden sind und größeren Wert auf Geld und Besitz teurer Dinge legen.
Exzessiver Materialismus und Konsumismus – hervorgerufen durch Statusunsicherheit und Wettbewerb – haben für viele Familien auch zu Verschuldung geführt. Je größer die Ungleichheit ist, desto größer auch die Verschuldung.
 
Gleichheit und Ungleichheit im historischen Rückblick
Im weitesten Sinne gibt es drei Perioden der sozialen Organisation in der menschlichen Entwicklung: Zeit vor dem Homo Sapiens mit Dominanzhierarchien wie bei Affen, egalitäre Jäger-und Sammler-Gesellschaften in der menschlichen Vorgeschichte und in der Neuzeit hierarchische Ackerbau- und Industriegesellschaften (erst in den letzten 10-12.000 Jahren).
Die Frage von Gleichheit oder Dominanz (und Unterwerfung) hat nur wenig mit genetischen Faktoren zu tun, sondern wird durch soziale Regeln bestimmt. In der Zeit der Jäger und Sammler wurden diese durch die sozialen Umstände befördert: die kollektiv durchgeführten Jagden machten Kooperation erforderlich. Das Erlegen großer Tiere beförderte auch das Teilen, weil es noch keine ausreichenden Konservierungstechniken gab. Wenn Menschen in diesen Gesellschaften trotzdem nach Dominanz strebten, wurden sie kritisiert, ausgeschlossen und im Extremfall sogar getötet.
Der Wechsel zu Ackerbau und Viehzucht war damit verbunden, dass die Arbeit weitgehend individuell verrichtet wurde und z.B. Getreide und Samen lange aufbewahrt wurden. Dies machte die Entstehung von Hierarchien wieder möglich.
Der Wechsel von der Dominanzhierarchie zur Gleichheit hat auch zur Einführung moralischer Regeln geführt, die wir heute noch befolgen. Um vertrauenswürdig im sozialen Umgang zu sein, müssen wir gerecht teilen. In zahlreichen Experimenten wurde nachgewiesen, dass wir bereit sind zu teilen. Die neoliberale Ideologie, dass jeder maximalen Gewinn anstrebt, entspricht nicht den Tatsachen. Menschen sind in ihrer Motivation sozialer und streben soziale Harmonie an.
 
Falsche Annahmen über genetische Unterschiede
Die Vorstellung, dass Menschen mit unterschiedlichen natürlichen Begabungen, Intelligenz und Talenten ausgestattet sind und diese bestimmen, auf welcher Stufe der sozialen Leiter man steht, ist eine populäre Rechtfertigung für soziale Hierarchien. Sie entspricht jedoch nicht der Realität. Der soziale Status ist in weit größerem Maße von Herkunft, Zufällen und Glück abhängig.
Der neuseeländische Psychologe James Flynn hat in den Industrieländern in den letzten Jahrzehnten eine permanente Zunahme der durchschnittlichen Intelligenz festgestellt, die auf die industrielle Revolution und verbessertes schulisches Lernen zurückzuführen ist. Der IQ ist also nicht primär genetisch bedingt. Zwillingsstudien, die dem zu widersprechen scheinen, haben nicht berücksichtigt, dass getrennt aufwachsende eineiige Zwillinge häufig in einer ähnlichen Umgebung aufwachsen und sich deswegen sehr viel ähnlicher sind als zufällig ausgewählte Kinder.
Das menschliche Gehirn verändert sich durch die Aktivitäten, die wir verstärkt durchführen. Dies wurde für zahlreiche Berufe (z.B. Musiker*innen) und auch bei Sportler*innen nachgewiesen. Die Unterschiede waren nicht vorher vorhanden, sondern entstanden erst durch Übung.
Die Leistungen von Kindern werden in erheblichem Maße vom sozialen Status der Eltern beeinflusst. Ursachen für schlechte Leistungen sind geringere Stimulation und der größere Stress in armen Familien. Unterschiede im Gehirnsvolumen werden mit zunehmendem Alter größer. Entsprechend entwickelt sich das Leistungsniveau der Kinder. Die Studien belegen eindeutig, dass Unterschiede in kognitiver Entwicklung und Intelligenz nicht Ursache, sondern Folge von Ungleichheit sind.
Auch Lehrer*innen werden durch Ungleichheit beeinflusst. In zahlreichen Studien ist nachgewiesen worden, dass sie Schüler*innen aus armen Nachbarschaften schlechter beurteilen als Kinder aus wohlhabenden Vierteln. In den USA werden auch schwarze Kinder systematisch schlechter beurteilt.
Die beste schulische Lösung für den Ausgleich von sozialer Ungleichheit hat Finnland mit der Errichtung eines nicht-selektiven Gesamtschulsystems bis zum 16. Lebensjahr gefunden. Dort werden auch selten standardisierte Tests durchgeführt. Das Ergebnis ist sehr gutes Abschneiden bei den PISA-Tests. Schweden ist bei diesen Tests dagegen abgestiegen, nachdem es in den neunziger Jahren mit zunehmender Ungleichheit mehr Privatschulen zugelassen hat.
 
Die Bedeutung von Klassen und Schichten
In ungleicheren Gesellschaften sind „Benimm-Regeln“ an den sozialen Status, die Klasse oder Schicht gebunden. Gutes Benehmen und guter Geschmack werden durch die Oberklasse vorgegeben. In gleicheren Gesellschaften kann sich dies ändern wie in der Kriegs- und Nachkriegszeit geschehen: Musik- und Tanzstile wie Rockmusik wurden in der Unterklasse entwickelt und von den oberen Schichten übernommen.
Seit den achtziger Jahren hat die Ungleichheit wieder zugenommen – verbunden mit schärferer Trennung der Klassen. In den USA ist dadurch der Anteil von Frauen, die Angehörige anderer sozialer Schichten heiraten, erheblich gesunken. Auch Kinder aus unteren sozialen Schichten schämen sich für ihr Zuhause und vermeiden es deswegen, Kamerad*innen aus höheren Schichten einzuladen, weil sie deren Abwertung fürchten.
Kunst und Kultur dienen als Differenzierungsmerkmale zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen. „Hochkultur“ ist ein Merkmal höherer sozialer Klassen. Besonders deutlich wird dies, wenn Angehörige dieser Klassen astronomische Summen für Bilder zahlen, um ihre ästhetische Sensibilität unter Beweis zu stellen. Auch die Vorliebe für klassische Musik ist in höheren Klassen stärker ausgeprägt.
Bei dem Vergleich zwischen 22 europäischen Staaten fanden Forscher*innen dagegen heraus, dass der Besuch von Museen, Galerien und Theatern in Ländern mit geringeren Einkommensunterschieden 2-3 mal höher ist als in solchen mit hohen Unterschieden.
Der persönliche Wert ist ebenfalls vom sozialen Status abhängig. Das zeigt sich z.B. bei der Beurteilung von Schüler*innen durch Lehrer*innen, von Beschäftigten durch Vorgesetzte oder bei Kriminalitätsverdacht durch die Polizei. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischer Position und wahrgenommen Wert.
Unterschiede im Verhalten (bei anderen) werden in der Regel persönlichen Eigenschaften, nicht jedoch sozialen Umständen wie Einkommensunterschieden zugeschrieben . Arme werden deswegen als faul und dumm angesehen. Häufig werden diese Unterschiede fälschlicherweise genetischen Unterschieden zugeschrieben.
 
Die Grenzen des Wachstums
In Ländern mit niedrigem BIP führt Wachstum zu einer Steigerung von Lebenserwartung, Glück und Zufriedenheit. In reichen Ländern gibt es aber ab einem bestimmten Niveau keine Steigerung mehr.
Insbesondere der Klimawandel macht eine neue Ökonomie erforderlich, ebenso aber auch andere Umweltveränderungen. Notwendig hierfür ist eine Änderung der sozialen Organisation. Während im Zeitalter der Jäger und Sammler Kooperation und Gleichheit erforderlich waren, rückte mit dem Ackerbau wieder individuelles Verhalten in den Mittelpunkt. Heute ermöglicht die kooperative Produktion aber wieder neue Chancen für Gleichheit.
Größere Ungleichheit intensiviert Konsumismus und Statuskonsum. Konsumismus wird durch Statusunsicherheit angetrieben. Soziale Ungleichheit zerstört die Basis für das Zusammenleben und gegenseitiges Vertrauen. Das zeigt sich auch darin, dass in ungleicheren Gesellschaften die Anzahl von Sicherheitspersonal, Polizisten und Gefängniswärtern höher ist, deren Aufgabe es ist die Menschen  voreinander zu schützen.
Eine internationale Studie hat gezeigt, dass Wirtschaftsführer*innen in ungleicheren Ländern Umweltschutz für weniger wichtig halten als in gleicheren. Hintergrund ist offenbar, dass dasEigeninteresse in ersteren größer ist.
 
Demokratisierung der Wirtschaft als politische Handlungsmöglichkeit
Es gibt keine belegbaren Aussagen darüber, was optimale Einkommens(un)gleichheit ist. Wir wissen nur, dass die gleicheren skandinavischen Länder weniger soziale Probleme haben als die USA und Großbritannien. Ob eine weitere Senkung der Ungleichheiten weitere Vorteile bringt, kann deswegen nicht empirisch belegt werden.
Wenn man die Einkommensverteilung ändern will, muss man die Kräfte analysieren, die die Verteilung beeinflussen. Zu diesen Kräften zählen die Gewerkschaften. Je höher der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist, desto geringer sind die Einkommensunterschiede. Dies ist aber nicht nur auf die Lohnabschlüsse, sondern auf das gesamte politische Umfeld zurückzuführen. In Zeiten der Umverteilung von oben nach unten von 1930 – 1970 herrschte die Ideologie der Arbeiterbewegung vor, die von der Angst vor dem Kommunismus weiter gestärkt wurde. Mit der Umsetzung der neoliberalen Ideologie unter den Regierungen von Reagan und Thatcher wurden dagegen die Steuern für Reiche gesenkt und der gegenteilige Effekt setzte ein.
Bisher ist nicht zu erkennen, dass Fortschritte in Richtung größerer ökonomischer Gleichheit gemacht werden. Man hat sich zu sehr auf steuerliche Umverteilung und Verbesserung sozialer Leistungen verlassen. Notwendig sind jedoch auch strukturelle Veränderungen wie größere wirtschaftliche Demokratie.
Die Hauptursache für den Anstieg von Einkommensungleichheit ist in der unverhältnismäßig hohe Anstieg von Gehältern von Spitzenmanager*innen großer Unternehmen. Während noch in den 70er Jahren die Einkommensunterschiede in den USA zwischen Manager*innen und einfachen Arbeiter*innen durchschnittlich bei 20 : 1 bis 30 : 1 lagen, sind sie zu Beginn dieses Jahrhunderts auf 400 : 1 angestiegen.
Wirkungsvolle Gegenstrategien sind im Sinne von Demokratisierung mehr Mitbestimmung von Arbeitnehmer*innen in den Aufsichtsräten, mehr Genossenschaften und mehr Unternehmen im Besitz von Arbeitnehmer*innen. In diesen Unternehmen sind die Einkommensdifferenzen wesentlich niedriger und die Kooperationsrate der Mitarbeiter*innen ist wesentlich höher – mit dem Effekt erhöhter Produktivität. Weitere positive Folgen sind geringere Krankenstände und höhere Arbeitszufriedenheit. Positiv ist auch die Verbindung zu größerer Nachhaltigkeit, weil diese Unternehmen nicht unter dem Druck stehen, die Gewinn- und Einkommenserwartungen externer Anteilseigner*innen und Spitzenmanager*innen erfüllen zu müssen.
Ein zweiter Grund für die Demokratisierung der Wirtschaft ist, dass sich die Zusammensetzung der Anteilseigner*innen von großen Unternehmen seit den sechziger Jahren erheblich geändert hat. Während es sich damals überwiegend um Einzelpersonen mit meist fachlichem Bezug zur Produktionsart handelte, sind es heute überwiegend finanzielle Institutionen ohne Interesse an den Produktionsgegenständen – mit negativen Folgen für die Produktion.
Der Übergang zu einer demokratischeren Wirtschaft würde auch erhebliche Kosten sparen. In Großbritannien würde die Senkung von Ungleichheit auf das durchschnittliche OECD-Niveau 39 Milliarden £ durch Verbesserung der physischen und psychischen Gesundheit, Reduzierung von Gewalt und der Anzahl von Gefangenen in Gefängnissen einsparen.
Gleichheit kann sowohl durch Reduzierung von Einkommensunterschieden als auch durch progressive Besteuerung und mehr soziale Hilfen erreicht werden. Ersteres kann durch den Ausbau von Genossenschaften und Unternehmen im Besitz der Arbeitnehmer*innen geschehen. Hierzu können auch Verbraucher*innen beitragen, wenn die Produkte dieser Unternehmen z.B. über ein Internetportal angeboten werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Arbeitnehmer*innen an den Gewinnen zu beteiligen und diesen Anteil an einen von ihnen kontrollierten Fond zu überweisen. Nötig sind außerdem der Ausbau von Arbeitnehmer*innenvertretungen in allen Unternehmen und die Stärkung ihrer Rechte sowie die Einführung und Erhöhung von Mindestlöhnen.
Entscheidend ist die Frage: Möchten wir in einer auf Kooperation und Gegenseitigkeit oder in einer auf Wettbewerb und Rivalität basierten Gesellschaft leben? Die Autor*innen fassen ihre wichtigsten Erkenntnisse und Forderungen hierzu in vier Punkten zusammen:

  1. In einer gleicheren Gesellschaft werden Statusfragen und Teilungen von Klassen weniger bedeutsam, wodurch soziale Ängste, Selbstzweifel und geringer Selbstwert abnehmen. Das Leben wird entspannter, es gibt mehr Gemeinschaftsleben und Freundschaft.
  2. Wir bewegen uns in eine Gesellschaft, in welcher Maximierung von Konsum und Status durch mehr Freizeit und Reduzierung von Arbeitsanforderungen ersetzt wird. Produktivitätsfortschritte können zur Senkung von Arbeitszeit statt zur Steigerung von Einkommen und Profit genutzt werden.
  3. Durch die Ausweitung von Demokratie in das Arbeitsleben wird es zu einer Verbesserung der Arbeitsqualität kommen. Das Arbeitsleben wird durch die Bedürfnisse der Arbeitenden bestimmt werden.
  4. In einer gleicheren Gesellschaft werden Gesundheit und Soziales verbessert und dadurch physische und psychische Gesundheit, kindliches Wohlbefinden und Entwicklungschancen zunehmen, Krankheiten, Gewalt und Drogenmissbrauch dagegen abnehmen.

 
Diskussion
Die schon im „Spirit Level“ berichteten Erkenntnisse über die negativen Wirkungen von sozialer Ungleichheit werden im neuen Band erweitert und durch zahlreiche Studien in unterschiedlichen Bereichen verifiziert.
Besonders wichtig ist, dass bei der Ursachenforschung der Schwerpunkt auf soziale und strukturelle Ursachen von Problemen gelegt wird. Dadurch wird deutlich, dass die von neoliberalen Ideolog*innen in den Mittelpunkt gestellte individuelle Verantwortlichkeit nur geringen Einfluss auf die Verbesserung von Problemen wie Krankheit, Kriminalität und Konsumismus hat.
Nicht nur für nachhaltige Entwicklung ist der Hinweis wichtig, dass Wirtschaftsführer*innen in ungleicheren Gesellschaften weniger Interesse an Umweltschutz haben als in gleicheren. Wer nach der Devise „profit first“ lebt, ist an den negativen Folgen von Kohleverbrennung oder Waffenexporten nicht interessiert. Diese Haltung erklärt auch, dass Rechtspopulisten sich gegen Klimaschutz aussprechen. Ob anderswo Menschen an den Folgen von Klimawandel und Kriegen sterben, ist ihnen gleichgültig.
Besonders wichtig ist, dass bei den Handlungsmöglichkeiten zur Schaffung gleicher Gesellschaften nicht nur auf Umverteilung durch höhere Steuern für Reiche gesetzt wird, sondern durch Demokratisierung der Wirtschaft (mehr Mitbestimmung von Arbeitnehmer*innen, Genossenschaften und Unternehmen im Besitz der Arbeiter*innen) hohe Einkommensdifferenzen von Spitzenverdiener*innen und Beschäftigten an der Basis von vornherein vermieden werden. Mehr Mitspracherechte führen zu größerer Arbeitszufriedenheit und weniger Krankheiten. Die dadurch entstehenden Einsparungsmöglichkeiten liegen im Milliardenbereich und leisten auch einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung.
Dieses Buch ist 2009 unter dem Titel „Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ in deutscher Übersetzung im Tolkemitt Verlag Berlin erschienen.
Unter Ungleichheit wird hier die soziale (vertikale) Ungleichheit – definiert als Einkommens- und Statusungleichheit – verstanden. Kulturelle, religiöse oder geschlechtliche (horizontale) Ungleichheit wird nicht als Problem, sondern als bereichernde Vielfalt verstanden.

 

 


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