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Rezension und Diskussion zu „Thomas Piketty und Michael J. Sandel: Die Kämpfe der Zukunft. Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. München, 2025

Die beiden sehr bekannten Autoren (Piketty ist Professor für Ökonomie in Paris, Sandel Professor für Regierungslehre in Harvard) haben einen Diskussionsband veröffentlicht, in dem sie zu Ursachen von sozialer Ungleichheit, ihren Dimensionen und von der Möglichkeit ihrer Überwindung Stellung beziehen. In insgesamt neun Kapiteln (u.a. „Weshalb muss uns Ungleichheit Sorgen machen?“ „Globalisierung und Populismus“, „Meritokratie“, „Besteuerung, Solidarität und Gemeinschaft“ und „Die Zukunft der Linken: Identität und Wirtschaft“) diskutieren sie über die damit verbundenen Erscheinungsformen und Probleme. Der Schwerpunkt dieser Rezension liegt bei den sozialen und individuellen Folgen von Ungleichheit und Möglichkeiten ihrer Bekämpfung, weil diese in der Literatur sonst nicht so ausführlich behandelt werden wie die ökonomischen Aspekte.

1. Dimensionen sozialer Ungleichheit

Piketty und Sandel nennen drei Gründe, warum sie Ungleichheit für ein Problem halten: Der erste ist der Mangel an Zugang zu Grundgütern, der zweite die Beeinträchtigung politischer Gleichheit, die sich im Mangel an Stimmrecht, Macht und Teilhabe bemerkbar macht und der dritte die Beeinträchtigung von Würde, Status und Respekt.

2. Meritokratie

Die Hauptursache von psychischer und sozialer Benachteiligung ist die Meritokratie. Nach Piketty ist sie neben Globalisierung und Finanzialisierung die dritte Säule der neoliberalen Ära. Nach Sandel hat sich durch sie die Kluft zwischen den Gewinner*innen und Verlierer*innen verschärft und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinträchtigt. Sie zersetzt das Gemeinwohl, weil sie die Erfolgreichen dazu verleitet, den Erfolg nur als eigene Leistung zu betrachten und Glück, Gelegenheiten und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu leugnen.

Umgekehrt werden Erfolglose ebenfalls ausschließlich individuell hierfür verantwortlich gemacht und als „dumm“ und „faul“ abgewertet. Diese Diskriminierung entzweit die Gesellschaft. Die abgehängten richten ihre Wut gegen die etablierten Mitte-links-Parteien, die auf wachsende Ungleichheit mit „Aufstiegsrhetorik“ (75) reagieren, womit sie die Aufforderung an die Abgehängten meinen, sich anzustrengen und einen pädagogischen oder beruflichen Abschluss zu machen.

Piketty unterstützt diese Kritik, indem er darauf aufmerksam macht, dass die Ungleichheit in traditionellen Gesellschaften zwar sehr brutal sein konnte, Angehörige der Arbeiter- oder Bauernklasse wurden aber nicht wie durch den Neoliberalismus als „dumm“ abgewertet, weswegen es zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen auch Gemeinsamkeiten gab. Individuelle Aufwärtsmobilität ist nach Sandel keine angemessene Antwort auf Ungleichheit. Der Mangel an Respekt wird durch die völlig überzogenen Gehälter in der Finanzindustrie verschärft.

3. Förderung von Solidarität und Gemeinschaft national und international

Nach Piketty ist nicht eine >>Eins zu Eins-Gleichheit<< aller Löhne erforderlich, aber eine erhebliche Senkung der Differenzen, um die zunehmende Trennung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Mitteln zu reduzieren. Hierzu muss öffentlich darauf hingewiesen werden, dass Wohlstand keine individuelle, sondern eine kollektive Errungenschaft ist.

Für die Reduzierung der Differenzen müssen nach Sandel auch öffentliche Orte geschaffen werden, die Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen zusammenbringen und den Sinn für wechselseitige Verantwortung fördern, um Zusammengehörigkeit zu stärken.
Piketty setzt sich auch für einen internationalistischen Sozialismus ein, um der Gefahr entgegenzuwirken, „…, dass die sogenannten >>Progressiven<< oder die, die es zu sein behaupten, mehr und mehr zu Anwälten der Globalisierungsgewinner verkommen“ (122).
Für die Förderung internationaler Solidarität und Zusammengehörigkeit muss durch eine gerechte Besteuerung hoher Vermögen ein Anteil globaler Milliardärssteuer in die Länder des Südens fließen.

4. Die Zukunft der Linken

Eine wesentliche Ursache für das Ansteigen von Ungleichheit und damit verbunden die Zunahme rechtspopulistischer Tendenzen liegt nach Piketty und Sandel darin, „…, dass Clinton, Obama, Blair, Schröder unfähig waren, die neue neoliberale, die Globalisierung, Finanzialisierung und Meritokratie feiernde Ideologie in Frage zu stellen“ (63).

Die sogenannten Progressiven sind zu Anwälten der Globalisierungsgewinner*innen verkommen. Dies hat dazu geführt, dass Trump in den Ländern der USA die meisten Stimmen gewinnen konnte, in denen die Arbeitsplatzvernichtung im verarbeitenden Gewerbe der Hauptindikator war. Migrationsströme waren es nicht.

Anstelle der Hervorhebung des Nationalismus mit einer ethnisch-nationalen Solidarität ist eine internationale Solidarität und ein demokratischer Sozialismus erforderlich, der den Aufbau eines alternativen Wirtschaftssystems versucht.

Für Sandel ist hierfür von den drei Dimensionen der Gleichheit „Einkommen und Vermögen“, „Politik und Macht“ und „Würde, Anerkennung und Wertschätzung“ diese dritte die stärkste Kraft. Er beruft sich dabei auf Rousseau, der nach der der Schaffung von Eigentum schon sehr früh Wettstreit um Beachtung und Anerkennung als wichtigen Schritt zu Ungleichheit betrachtet hat.

5. Diskussion

Soziale Ungleichheit lässt sich nur angemessen bekämpfen, wenn neben ökonomischen und politischen auch die sozialen und psychischen Folgen der neoliberalen Ideologie bekämpft werden. Hierzu haben die Verfasser einen guten Beitrag geleistet, indem sie mit der meritokratischen Ideologie verbundene Abwertung von Menschen aus unteren sozialen Schichten kritisieren, die auch eine der Ursachen für den Rechtspopulismus ist, weil durch sie zu Recht eine feindselige Haltung gegenüber den Eliten entsteht und die Gesellschaft gespalten wird.

Die gegenseitige Wertschätzung aller Bürger*innen ist die Voraussetzung für eine solidarische Gesellschaft, in welcher alle zum Gemeinwohl beitragen – auch mit ihren Vermögen. Der Verzicht auf eine Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen und die Duldung von Steuerhinterziehung im Ausland zerstört die Gemeinschaft. Eine nationale Identität ist nicht durch Ausgrenzung von Migrant*innen, sondern nur durch eine solidarische Beteiligung aller Bürger*innen an der Lösung von Problemen wie Infrastruktur, Bildung und Gesundheit zu erreichen.

Die Bekämpfung der meritokratischen Ideologie ist auch notwendig, um die Kürzungen von Sozialleistungen und die Abschaffung des Bürgergeldes zu verhindern.

Der insbesondere von Piketty geforderte internationale Sozialismus lässt sich nur realisieren, wenn die westlichen sozialdemokratischen Parteien ihre Bindung an die neoliberale Ideologie aufgeben und wieder zu sozialer Gleichheit als Ziel zurückkehren.


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