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Rezension: Raul Zelik, Mit Podemos zur demokratischen Revolution?

Raul Zelik hat ein hoch aktuelles Buch geschrieben, das man jetzt, sofort lesen muss: „Mit Podemos zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien“. Entscheidend ist das Fragezeichen hinter der ersten Überschrift. Zelik fragt, ob mit Podemos ein ähnlicher Aufbruch in Spanien gelingen kann wie mit Syriza in Griechenland – im Ergebnis ist er skeptisch. Er beschreibt seinen Arbeitsplan so: Das Buch widmet „sich zunächst der Aufgabe, die andere, weitgehend unbekannte Geschichte Spaniens zu erzählen … Doch ob Podemos wirklich der Akteur sein wird, der einen politischen Bruch erzwingt, ist alles andere als ausgemacht … Ein Auseinanderbrechen des Landes an den ungelösten Nationalitäten- Konflikten (ist) ebenso denkbar wie ein Linksruck bei den Wahlen oder das Scheitern von Podemos am zunehmend autoritären Politikstil der eigenen Führung. Der Ausgang ist völlig offen.“ (11 f[1])

Zelik wird den Lesern im Klappentext als Schriftsteller, Essayist und Politikwissenschaftler vorgestellt – das ist deshalb von Bedeutung, weil es einen Hinweis auf den Stil des Buches gibt: es ist weit entfernt von angeblich wissenschaftlicher Erbsenzählerei oder staubtrockener Begriffshuberei, die selbst Füße einschlafen lässt, obwohl sie mit dem Text nichts zu tun haben. Trotzdem schafft das Buch Wissen, ist von der ersten bis zur letzten Zeile informativ, so dass man das kleine Büchlein in wenigen Stunden verschlingen kann.

Zelik erzählt zunächst die „andere Geschichte“ Spaniens, wobei er mit dem 16. Jahrhundert beginnt, mit Spaniens Rolle als Kolonialmacht und der Ausbeutung vor allem Lateinamerika – keine Angst, der Startpunkt ist nicht Selbstzweck und schnell ist man in der Gegenwart angekommen. Der spanische Kolonialismus ist eine Erklärung für erstens die späte und spärliche Industrialisierung Spaniens, die bis heute die wirtschaftliche Situation kennzeichnet und zweitens für einen politischen Sonderweg, der durch die Kontinuität ökonomischer Macht seit der frühen Neuzeit geprägt ist. Der Tod der Herzogin Alba erregte 2014 noch genauso viel Aufsehen wie die Affäre ihrer Urahnin mit Franzisco Goya – jedenfalls soweit man Feuchtwangers Lebensgeschichte des Malers trauen kann – das gegenwärtige Interesse an der Herzogin und Großgrundbesitzerin belegt Zelig. Gegenwart meint aber nicht nur das neue Jahrtausend, denn die politische Situation in Spanien ist nur zu verstehen, wenn man die Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen hat: den überwältigenden Sieg der Republikaner bei den Wahlen 1931, die Republik wird ausgerufen; dem folgt der Putsch 1936 durch Franco, der spanische Bürgerkrieg, auf der einen Seite Franco und die Armee unterstützt durch Hitler und bürgerlicher Demokratien auf der anderen Seite die Republikaner unterstützt von der jungen Sowjetunion und tausenden Freiwilligen aus ganz Europa. Zelig interessiert sich vor allem für die Entwicklung nach der Franco-Diktatur und entwirft eine andere Geschichte von der Parlamentarisierung Spaniens als die offizielle. Es war nicht der „gute König“, der auf seine Macht verzichtete und sie auf eine gewählte Regierung übertrug. Die Diktatur geriet von unten und von oben in die Zange. Demokratische Bewegungen wurden stärker und gleichzeitig drängten die industriellen Eliten in die EU, die bekanntlich nur parlamentarische Regime aufnimmt. Die demokratischen, republikanischen Bewegungen, so Zeligs Interpretation, wurden stark von Unabhängigkeitsbewegungen, also etwa von Basken oder Katalanen getragen. Er lässt die – von Deutschland aus etwas unverständlichen Unabhängigkeitsbewegungen in einem anderen Licht erscheinen. Sie sind auch Frucht des regionalen Widerstandes gegen Franco und prägen bekanntlich die politische Situation in Spanien bis heute.

Zelik zeigt, dass der Übergang zur parlamentarischen Regierung auf einem Kompromiss beruhte, der im Gegenzug zur politischen Liberalisierung erstens die Macht der ökonomischen und politischen Eliten unangetastet ließ, also zum Beispiel den Einfluss der Kirche sicherte, und zweitens auf jede justizielle Aufarbeitung der Franco-Diktatur verzichtete. Die konservative Partei (PP) sieht Zelig in einer gewissen personellen und inhaltlichen Kontinuität zum Franquismus. Die spanische Sozialdemokratie als bislang ungefähr gleich starke Kraft wurde von der deutschen Sozialdemokratie unter Willy Brandt stark gemacht – wie in Portugal mit dem Ziel eine Radikalisierung zu verhindern. Konservative und Sozialdemokraten gewinnen die ersten Wahlen 1977, während „die Kräfte, die den Widerstand getragen haben, in der neuen politischen Ordnung marginal bleiben.“ Zelig erklärt das so: „Da die spanischen Militärs anders als in Portugal, wo der Kolonialkrieg Widerstandsgruppen in den Streitkräften selbst hervorgebracht hat bedingungslos autoritär sind, handelt die Bevölkerung pragmatisch: die wählt die Parteien der Nicht-Konfrontation – die franquistischen Modernisierer der UCD und die prowestliche PSOE. Eine democracia tutelada, wie es auf Spanisch heißt, eine ‚ Demokratie unter Aufsicht’.“ (32) Nicht einverstanden muss man mit Zeliks Vorwurf an die spanischen Eurokommunisten sein, dass sie der Verfassung von 1978 zugestimmt haben: „Das ausgerechnet die PCE, die lange Jahre der wichtigste Akteur des Widerstands gewesen war, die Modernisierungsfarce und damit die Kontinuität der Machteliten legitimierte, wird die Opposition für lange Zeit diskreditieren.“ (36) Man kann diese Zustimmung auch als Lehre aus den Bedingungen der Illegalität verstehen. Es erscheint doch als Fortschritt legal, das heißt ohne unmittelbare Furcht um Freiheit und Leben, Oppositionspolitik betreiben zu können. Insgesamt kommt die PCE und ihre Nachfolgerin, die „Vereinigte Linke“ (Izquierda Unida) bei Zelig schlecht weg: Sie agiert für ihn „seit den 1970er Jahren als staatstragende Partei“ (S.36), was immer das heißt. Zwischen PSOE und PP macht er vor allem einen kulturellen Unterschied aus, keinen sozial- und wirtschaftspolitischen – das lässt sich bezweifeln und kann auch als Übertragung aus den hiesigen Verhältnissen gelesen werden. Was fehlt, um die spanischen Kontinuitäten verstehen zu können, ist eine Analyse des Wahlrechts, das große Parteien stark bevorzugt. Es gibt ein Verhältniswahlrecht aber nur in den Wahlkreisen, die unterschiedlich groß sind, so dass die Stimmen für kleine Parteien wegfallen, wenn alle Sitze vergeben sind. Die Wirkungen sind ähnlich wie beim Mehrheitswahlrecht. Anzunehmen ist auch, dass Zelig die reale Zustimmung zur Transición, d.h. zu den postfranquistischen Verhältnissen trotz der wirtschaftlichen und sozialen Probleme unterschätzt.

Nun aber zu Podemos. Zelik erklärt den Erfolg von Podemos (bei den EP Wahlen 8 %) aus der Vorgeschichte, der Geschichte der sozialen Bewegungen in Spanien. Zunächst konstatiert er: „Die enttäuschten Hoffnungen der Transición, die fortschreitende Individualisierung und der Konsumismus[2] sorgen ab 1980 für eine rasante Entpolitisierung der spanischen Gesellschaft.“ (72) Und. „Anders als man vielleicht vermuten würde, herrschen in Spanien in den 2000er Jahren also schlechte Voraussetzungen für das Entstehen neuer politischer Bewegungen. Die Gesellschaft ist Entpolitisierung, die öffentliche Meinung von Law-&-Order-Diskursen bestimmt.“ (75) Vor diesem Hintergrund beschreibt er akribisch die Entwicklung spanischer Protestbewegungen seit dem Jahre 2000 – die verschiedenen Anläufe, Neuformationen, das Wechseln der Themen und vor allem die unterschiedlichen Aktionsformen. Auch hier staunt der gewerkschaftsnahe Leser über die Bewertung des Protestes „traditioneller Organisationen“: „Selbst der vierte Generalstreik am 14. November 2012, der erstmals gemeinsam mit Gewerkschaften in Griechenland, Italien, Portugal, Zypern und Malta durchgeführt wird, wirkt nicht wie ein Aufbruch, sondern eher als Ausdruck von Lähmung.“ (92)

Schwung kommt in den vielfältigen, bunten, breiten und spontaneistischen Protest mit der Finanzkrise, dem Platzen der Immobilienblase und den folgenden Räumungsklagen gegen „kleine“ Wohnungs- und Hauseigentümer. Zelik zeichnete den Gang der Bewegung sorgfältig nach, denn – so seine zentrale Botschaft – diese selbst organisierte, autonome Protestbewegung ist die Grundlage von Podemos. Zelik schreibt: „Es kann also keine Rede davon sein, dass Podemos die spanische Gesellschaft aufgerüttelt hat. Es ist umgekehrt die Mobilisierung von Millionen Menschen seit dem 15. Mai 2011, die den politischen Konsens gesprengt und die neoliberale Hegemonie unterminiert hat. Dieser gesellschaftliche Aufbruch beginnt nun seinen Niederschlag in den Institutionen zu finden und wird dadurch sowohl verlängert als auch verkürzt. Die Gründung von Podemos wird erneut Hunderttausende mobilisieren, den demokratischen Impuls des 15M aber inhaltlich und strukturell reduzieren. Die Forderung nach einer Wiederaneignung der Demokratie von unten wird rhetorisch bekräftigt, in Form einer extrem zentralisierten Partei aber faktisch wieder aufgehoben.“ (110 f)

An dieser Stelle wird die Kritik an Podemos schon sichtbar Zelik zeichnet nach, dass Podemos sich von einer Partei, welche die Proteste der Bürgerbewegungen „in die Institutionen tragen wollte“ zu einem zentralistischen, autoritären, auf Medienwirkung bedachten, linkspopulistischen Wahlapparat (nicht mal Verein) entwickelt hat. Zwei Dinge sind hier nur anzusprechen: Linkspopulismus bedeute für die Podemosführung nicht, den Stammtischen zu folgen. Zelik erklärt den Begriff aus dem theoretischen Einfluss von Laclau/ Mouffe als Erzeugung einer „Wir“-Identität „des Volkes“ (!) durch Abgrenzung (!) gegen die Politiker“kaste“ unter Zurichtung des Begehrens auf einen leeren Signifikanten, d.h. auf Forderungen, die inhaltlich erst zu füllen sind und sehr unterschiedlich, d. h. auch von rechts, gefüllt werden können. Das ist wohl der theoretischste Teil des Buches und die Zusammenhänge sind brillant entwickelt.

Ein überraschendes und überzeugendes Beispiel für den autoritären Zentralismus von Podemos, bzw. von Pablo Iglesias und der Führungsgruppe, das Zelik ausführt, ist die Form der Listenaufstellung für die Wahlen der Regionalparlamente. Die Liste sollen „von der Parteizentrale gesetzt“ werden, wobei die Mitglieder zwischen verschiedenen Listen auswählen können, aber nur über die Liste als Ganzes, nicht über einzelne Sitze oder Plätze. Die Liste mit den meisten Stimmen wird die Wahlliste, das heißt parteiinterne Kritik oder gar Opposition wird ausgeschaltet. (176 f) Podemos funktioniere „zunehmend wie ein kapitalistisches Unternehmen, das sich durch intelligente Kommunikationsstrategieen auf dem Markt der Meinungen zu positionieren versucht.“ (175) Von dieser Strategie – man ahnt es – verspricht sich Zelik über längere Zeit wenig: „Anders als Syriza hat Podemos keine funktionierenden Organisationsstrukturen, keine reale gesellschaftliche Verankerung und keine gewachsenen Beziehungen zu sozialen Bewegungen. Um einen Bruch zu erzwingen, braucht es jedoch beides: sowohl den Erfolg in der entfremdeten Welt der Massenmedien als auch einen realen, auf Partizipation und Selbstorganisation beruhenden gesellschaftlichen Prozess.“ (181) Selbst Lesen lohnt sich.

 


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