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Menschenrechte und die Ukraine

„Bildet Bürgerwehren, in jeder Stadt, jedem Dorf, jeder Straße und jedem Haus. Organisiert Euch, besorgt Helme und Schutzschilde und vergesst bei der nächsten Demonstration nicht die Sturmhaube. Bildet Barrikaden auf der Stresemannstraße in Berlin und besetzt das Abgeordnetenhaus!“

Das deutsche Versammlungsrecht

Schon allein ein solcher Aufruf würde in der Bundesrepublik – wenn er nicht befolgt wird – nach § 111 Strafgesetzbuch (StGB) mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft – strenger, würde er befolgt. Er wäre nämlich ein Aufruf zu mehreren Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Allein die Demonstration vor dem Abgeordnetenhaus wird durch § 16 Versammlungsgesetz und dem Berliner Bannmeilengesetz verboten und kann mit einer Geldstrafe bis zu 30 000 Mark (das Gesetz wurde zuletzt 2008 geändert – Gruß an die Schlafmützen beim Innenminister) geahndet werden.
Strafbar macht sich nach dem Versammlungsgesetz nicht nur, wer sich vermummt oder passiv bewaffnet, sondern schon derjenige, der bei Demonstrationen oder „auf dem Weg dorthin Schutzwaffen oder Gegenstände, die als Schutzwaffen geeignet“ sind, mit sich führt. „Schutzwaffen“ sind Helme, Schilde und anderes. (Motorradfahrer geraten hier in einen Konflikt – die StVO zwingt sie, Helme zu tragen, wenn sie das aber auf dem Weg zur Demo tun, könnten sie sich strafbar machen.) Der Aufruf, Bürgerwehren zu bilden, Barrikaden zu bauen, Rathäuser oder Parlamente zu besetzen, ist schließlich ein Aufruf zum Landfriedensbruch nach § 125 StGB, wenn man Molotowcocktails dabei hat, wie es in Kiew offensichtlich üblich ist, sogar besonders schwerer Landfriedensbruch, der mit 10 Jahren Gefängnis bestraft werden kann.

Zweierlei Maß
Klitschko müsste sich also warm anziehen, wenn er auf der Sicherheitskonferenz in München seinen Aufruf auf die Bundesrepublik und nicht auf die Ukraine bezogen hätte. Mit einer Amnestie könnte er sicher nicht rechnen. In der Ukraine hat es das Janukowytsch- Regime tatsächlich gewagt, vom Parlament das Versammlungsrecht verschärfen zu lassen und ein Vermummungsverbot und das Verbot passiver Bewaffnung einzuführen. Das Versammlungsrecht des autoritären Regimes war also deutlich liberaler als das bundesrepublikanische. Das hielt die Philister bürgerlicher Liberalität nicht davon ab, aufzuschreien, als die parlamentarische Mehrheit der Ukraine das dortige Versammlungsrecht dem deutschen Recht anpasste – inzwischen ist in der Ukraine das Vermummungsverbot wieder aufgehoben.
Nun mag man von der Regierung Janukowytsch halten was man will. Man kann sie für mindestens ebenso unsympathisch halten wie die Regierung Merkel, aber beide wurden gewählt – aus welchen Gründen auch immer. So können sie doch immerhin für sich in Anspruch nehmen, legal und legitimiert zu sein. Da redet mit gespaltener Zunge, wer Sicherheitszonen in Hamburg einrichtet und polizeiliche Maßnahmen in Kiew auf das schärfste verurteilt. Peinlich ist, dass in der Öffentlichkeit auch nicht im Ansatz eine Diskussion über diese Widersprüche geführt wird. Ein hartes Durchgreifen der Polizei in Kiew missachtet Menschenrechte, gilt in Hamburg und Berlin aber als zwingend erforderlich. Das ist gleichsam die formale Seite.
Rechtfertigung der Revolution

Man kann sich auch auf folgenden Standpunkt stellen: „Auch gegenüber einer gewählten Regierung sind Widerstand oder auch eine Revolution zulässig“. In dieser Form würde diesen Satz keiner der europäischen Protagonisten auf Seiten der ukrainischen Opposition unterschreiben. Im Gegenteil, das Geheul von Rechtsstaat und Demokratie wäre groß.
Es kommt eben darauf an, wer da Widerstand wogegen leistet. Die Gründe für die Parteinahme werden in der Regel nicht genannt. Man spielt eher mit antirussischen oder gar mit antisowjetischen Reflexen, die eine Parteinahme für die Opposition nicht mehr rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen. Werden Gründe genannt, sind diese wenig überzeugend.
Da wird angeführt: Die Regierung Janukowytsch sei korrupt. Deshalb hatte die EU mit eben dieser Regierung vorher ein Assoziierungsabkommen ausgehandelt? Und man kann sich sicher darüber streiten, ob sie korrupter ist als die Vorgänger um Julia Timoschenko. Im August 2011 berichtete Focus: „Jahrelang haben dubiose Zwischenhändler in Kiew und Moskau an den Gaslieferungen Unsummen verdient – auf Kosten von Staat und Verbrauchern. In den 90er-Jahren soll auch Timoschenko selbst auf diese Weise zu ihrem gigantischen Vermögen gekommen sein.“
Markus Ferber, CSU Europaabgeordneter, fordert mit der ukrainischen Opposition eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, die dem Präsidenten weniger Macht einräumte und verlangt wie Steinmeier Sanktionen gegen die Ukraine. Wenn die in der Verfassung normierte Machtfülle eines Präsidenten zu Sanktionen berechtigt, wie sieht es dann mit Sanktionen gegenüber den USA oder Frankreich aus? Dort ist bekanntlich auch der Präsident die zentrale Figur. Gefordert wird von der Opposition übrigens auch, dass die Minister vom Parlament gewählt und nicht ernannt werden. Gute Idee – sollte man nicht nur in der Bundesrepublik, sondern vor allem in der EU übernehmen.

Europäische Geopolitik
Andreas Zielcke lässt in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Januar die Katze aus dem Sack: es geht um „Wir“ oder „Die“, Freund oder Feind, Russland oder die EU. Es geht um eigene Interessen, um Machtbereiche und Einflusszonen. Zielcke entblödet sich allerdings nicht, Nothilfe gegen die Erpressung durch Russland zu fordern. Worin lag noch diese Erpressung? In Krediten für den Not leidenden Haushalt der Ukraine. Der Kuhhandel hieß: Kredit gegen Absage der Assoziierung mit der EU. Und in Einem konnte sich Putin sicher sein: Solange Merkel in der EU das Sagen hat, gibt es von dieser Seite kein ähnlich verlockendes Angebot. Aber Erpressung? Wie nennt man dann die Auflagen der Troika in Griechenland, Portugal oder Irland? Erpressung? Die – nochmal – welche Nothilfe rechtfertigt?
Zielcke wirft Putin vor, dass er die Ukraine gern im russischen Einflussbereich behalten würde. Was genau wollte noch die EU? Die Ukraine eben aus diesem Einflussbereich lösen und dem eigenen Einflussbereich einverleiben. Das ist die Form von Geopolitik, welche die Staaten der EU (und die USA) seit 1989 mit großem Erfolg verfolgen – unter Inkaufnahme von Kriegen (in Jugoslawien) oder der Missachtung von Minderheitenrechten (im Baltikum) – und nun möglicherweise unter Inkaufnahme eines (weiteren) Bürgerkriegs. Das ist die Tragik, bei der mir aller Zynismus im Halse stecken bleibt. Allerdings ist der herrschende Chor der Heuchler und Hofschranzen der Macht kaum noch erträglich.


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