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"In einem Jahr und neun Monaten VW umkrempeln“

Wenn Tobi oder Lotte erklären, dass die Aktivist*innen, die erst seit einem viertel Jahr in Wolfsburg leben, in nur zwei Jahren der Verkehrswende in dem riesigen Autokonzern und seiner Stadte Wolfsburg durchsetzen zu wollen, dann klingt das verrückt. Aber vielleicht braucht es dieses Ver-rücken gerade heute. Weil unsere Welt mit so viel Schwung auf den Abgrund zurast, ist es bitter nötig die Perspektiven zu verschieben.

Ich bin auf jeden Fall nicht die Einzige, die sofort mehr wissen will über die Pläne der Verkehrswende-Streiter*innen. Und nicht die Einzige, die sich faszinieren lässt. Die Wolfsburger Aktionen haben schon einige Male ganzseitige, detaillierte und differenzierte Berichterstattung in den Wolfsburger Nachrichten erreichen können, immer häufiger suchen Wolfsburger*innen das Gespräch und in der Klimagerechtigkeitsbewegung wird der VW-Protest zum Thema für 2023.

Volkswagen ist der größte Autokonzern der Welt

Wer in Wolfsburg aus dem Zug steigt, sieht schon am Bahnhof, dass der Autobauer allgegenwärtig ist. Direkt gegenüber dem Bahnhof, jenseits des Mittellandkanals liegt das riesige Stammwerk. Die ganze Stadt ist auf VW ausgerichtet, nennt sich selbst „Autostadt Wolfsburg“.
Aber VW ist noch viel mehr. Zum Konzern gehören neben Porsche und Audi auch z.B. die Marken Lamborghini, Seat, Bentley, Bugatti und Skoda. Auch die Ducati Motorräder sind Teil des Portfolios. VW besitzt zudem beinahe 90% der Aktien von MAN, Scania und Navistar, den großen LKW-Herstellern.

Damit wird das Unterfangen der Verkehrswendeleute vollends zum Kampf von David gegen Goliath. Aber sie meinen es ernst: Sie haben kurzerhand ein Haus in Wolfsburg gekauft, das dazu einlädt, Aktionen und Veranstaltungen zu planen. Dort ist ständig etwas los und die Infrastruktur ermöglicht das Arbeiten vor Ort auch für diejenigen, die nur auf der Durchreise sind.

Die Neu-Wolfsburger*innen sind sehr viel in der Stadt unterwegs. Es gab schon viele Treffen mit VW-Beschäftigten, mit den lokalen Umweltorganisationen, den Attacies vor Ort, mit jungen Aktivist*innen. Auch überregional berichten Lotte, Tobi, Rumo und Co von ihren Plänen.
Einer der ersten Sätze, die haften bleiben: VW soll künftig Straßenbahnen statt Autos bauen.

Straßenbahn statt Trinity

Die Forderung, VW solle statt Autos künftig Straßenbahnen bauen nahmen die Verkehrswende-Streiter*innen mit in ihre erste große Protestaktion: Sie meldeten am Rande des Wolfsburger Ortsteils Warmenau eine Mahnwache an und stellten Ende September Zelte und einen Bauwagen mitten auf den Acker.


Dieser Acker sollte nach Plänen von Volkswagen bereits ab Frühling 2023 Teil einer gigantischen Baustelle werden und schon sehr bald danach eine komplett neue VW-Fabrik zur Fertigung von E-Autos tragen. Trinity heißt das Autoprojekt, um das sich noch viele Geheimnisse ranken. Bezüglich der Konzernmotivation machte vor allem der im September abgelöste VW-Chef Herbert Diess kein Geheimnis: Volkswagen will Tesla herausfordern und möglichst kurz nach dem Start der E-Autoproduktion des Twitter-Schrotters Elon Musk in Grünheide bei Berlin nun auch mit E-Auto trumpfen. Damit steht auch schon fest, dass Trinity ein dickes Auto wird, höhere Preisklasse, richtig schwer, extrem ressourcen- und energiehungrig.

Obwohl es im Herbst ziemlich ungemütlich auf einem Acker sein kann, entfaltete sich dort ein beeindruckender Protest. Es gab lokale und überregionale Vernetzungstreffen im Zirkuszelt, es gab viele Workshops und Diskussionen, fast alle auch besucht von VW-Mitarbeiter*innen. Viele der Beschäftigten sind skeptisch ob der Pläne der Konzernleitung und fast alle sagen, dass sich viel mehr ändern muss als der Bau von Autos mit einem anderen Antrieb.

Das freundliche, aber in der Sache harte Auftreten der Aktivist*innen kommt überraschend gut an. Das liegt wohl auch daran, dass VW seit vielen Jahren Arbeitsplätze abbaut und die Beschäftigten wissen, dass die E-Auto-Idee erneut deutlich weniger Mitarbeiter*innen kalkuliert. So hören fast alle genauer zu, wenn in der Innenstadt oder auf dem Acker der Gegenvorschlag formuliert wird.

Straßenbahnen könnte VW bauen, für einen Öffentlichen Nahverkehr, der sozial ist und richtig funktioniert. Straßenbahnen schaffen auch Arbeitsplätze, nicht nur in der Herstellung.
„VW kann doch endlich sinnvolle Produkte bauen! Das Zeitalter des motorisierten Individualverkehrs ist zuende“, sagen die Aktivist*innen – und mehrere der gestandenen IG-Metaller*innen nicken zustimmend.

Sie können auch etwas damit anfangen, wie sehr die Verkehrswendeaktiven das E-Auto ablehnen. „Das Schlimmste am E-Auto ist doch, dass es ein Auto ist“, fasst Jörg zusammen. Zwar gäbe es keinen Auspuff, der bei jedem Kilometer Co2 in die Atmosphäre entlasse, aber beim Flächenverbrauch und Unfallrisiko, bei Verkehrslärm und Feinstaub bleiben E-Autos kaum hinter den Verbrennern zurück. Sie fressen große Mengen von Ressourcen, umso schlimmer, als dass auch im Feld der Elektromobilität die schweren SUVs besonders gefragt sind. Außerdem verlangt die geplante Elektrifizierung massive Eingriffe in die Infrastruktur, um ein leistungsstarkes Ladenetz zu bauen. Es wäre viel klüger, die Milliarden dafür direkt für den Ausbau des ÖPNV zu verwenden und zum Beispiel Straßenbahnen neu zu installieren, wo sie noch fehlen.

Ende November teilt VW plötzlich mit, dass es Schwierigkeiten bei der Entwicklung der Software für das neue E-Auto gäbe und der Baubeginn 2023 vom Tisch sei. Weiter noch: Wahrscheinlich soll nun doch im Stammwerk umgebaut werden, so dass in den alten Fabrikhallen ab 2030 die Elektrischen gefertigt werden können. Es ist erstaunlich, wie viele positive Stimmen zur Plan-Änderung aus Betriebsrat und dem Kreis der Beschäftigten zu vernehmen ist. Die Aktivist*innen bauen Zelte und Bauwagen, Banner und Feuerschale an der Mahnwache ab. Sie feiern die Entwicklung – und arbeiten intensiv daran, welche Möglichkeiten zum Mitmachen künftig Einheimische und Auswärtige anlocken können.

Der einzige Konzern mit einem eigenen Gesetz

Volkswagen gehört zu 11,8 Prozent dem Land Niedersachsen. Im VW-Gesetz ist aber festgelegt, dass das Land 20 Prozent der Stimmrechte hat und damit eine Sperrminorität, wenn es hart auf hart kommt. Der Ministerpräsident sowie ein*e weitere*r Vertreter*in der Landesregierung haben je einen Sitz im Aufsichtsrat des Konzernes. Erst Anfang November übernahm die Grüne Bildungsministerin und Vize-Ministerpräsidentin Julia Willie Hamburg diese Aufgabe. „Diese Autogegnerin kontrolliert jetzt VW“ titelte die Bildzeitung. Ob sie mutige Impulse setzen wird, ist bisher noch völlig unklar.

Vor diesem Hintergrund wird die Auseinandersetzung mit VW noch spannender. Denn wenn die Gesellschaft endlich weg will von einer Verkehrspolitik, die überall dem Auto und damit auch der Klimakatastrophe Vorfahrt gibt, dann könnte das VW-Gesetz eine ganz neue Bedeutung bekommen.

Volkswagen macht Wenige reich

Wenn Klimawandel krank macht, Lebensmittelpreise in die Höhe treibt oder Menschen zur Flucht zwingt, sind immer diejenigen am schlimmsten betroffen, die knapp bei Kasse sind. Es ist zynisch, dass ausgerechnet ein Unternehmen, das systematisch mit Millionen von Autos die Klimakrise vorantreibt, so viel Geld verdienen kann, während die Gesellschaft jetzt schon und perspektivisch noch viel mehr drauf zahlt.
Die Vorstände des Volkswagenkonzerns gehören seit Jahren zu den Spitzenverdienern der DAX-Konzerne. Daran hat auch der Abgasskandal nichts geändert, für den VW in Deutschland nicht wirklich belangt wurde.
140 Millionen Euro Subventionen nahm VW allein in den Jahren 2007-2016 vom Staat entgegen. Und dabei sind noch nicht die Milliarden mitgerechnet, die die Bundesregierung für das Dienstwagenprivileg oder für Dieselfahrzeuge springen lässt. Und wenn Volkswagen – wie gerade wieder – Kurzarbeit anmeldet, zahlt die Gesellschaft für das Kurzarbeitergeld der Autobauer*innen immer wieder Millionen.

Bei der Hauptversammlung im Mai 2022 erhielten die Aktionäre eine massive Steigerung ihrer Gewinnausschüttungen pro Aktie (von 4,80 Euro auf 7,56 Euro). Der Gewinn des Konzerns belief sich 2021 auf 15,4 Milliarden Euro. Der Umsatz betrug etwas über 250 Milliarden.

Der größte Einzelaktionär bei VW ist mit 31,4 Prozent die Porscheholding mit Sitz in Stuttgart.
2010 verlegte Wolfgang Porsche, der Erbe des Firmengründers, seinen Sitz nach Österreich, um massiv Steuern zu vermeiden. Aktuell gibt es heftige Auseinandersetzungen um den extrem günstigen Preis, den der eng mit den Familien Porsche und Piech verbundene Aufsichtsrat, für eine Machtausweitung der Mächtigsten angesetzt hat.
Dem Land Niedersachsen folgt als Drittgrößer Anteilseigner und Mitgestalter der Staatsfonds des Landes Katar. Über Katar wurde in den letzten Wochen hinlänglich berichtet: Frauen-, Freiheits- und Arbeiter*innenrechte gelten dort wenig, der reiche Ölstaat setzt in vielen Disziplinen auf das Gegenteil von Klimagerechtigkeit.

Deshalb thematisiert die Aktivist*innen-Gruppe immer wieder auch Verteilungsfragen. Es komme durchaus gut an in Wolfsburg, erzählt Tobi, wenn man laut die Frage danach stelle, wie Gewinne und Macht verteilt werden.
„Wenn wir die Verkehrswende wollen, brauchen wir auch andere Bedingungen für die Menschen, die sie gestalten“, ergänzt Tobi, „Für die Bus- und Straßenbahnfahrer*innen, die Menschen, die den Nahverkehr begleiten oder die Anlagen warten gilt es noch einiges zu verbessern.“

Mitmachen ist vielfältig möglich

Die Aktivist*innen in Wolfsburg freuen sich über alle, die kommen und unterstützen. Es gibt immer was zu tun und eigene Ideen sind herzlich willkommen. 


Da VW so allgegenwärtig ist, findet sich in fast jeder Stadt ein Autohaus mit den einschlägigen Marken. Gut, dort das Gespräch zu suchen. Außerdem ist es ganz einfach, Straßenbahn-Bastelbögen bei Attac zu bestellen und damit zum Weiterdenken einzuladen. Ein Aktionstipp aus dem Projekthaus: Wer bringt als Erste*r die eigene Stadt zu einer Bestellung einer neuen Straßenbahn und fordert, dass VW diese bauen soll?

Interessante Links zum Thema:
verkehrswendestadt.de
stop-trinity.de
amsel44.de
shop.attac.de/bastelbogen-strassenbahn

 

 


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