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Global flows: Ausweitung der Kampfzone; McKinsey Report zeigt: Wissensarbeit wird immer wichtiger

Das McKinsey Global Institute hat im April 2014 einen Wirtschaftsreport vorgelegt, der sich mit der wachsenden Bedeutung von „global flows“ beschäftigt, also des grenzüberschreitenden Verkehrs von Waren und Dienstleistungen. Aber auch Finanzströme, Migrationsbewegungen und Datenflüsse fallen unter den Begriff. Die Botschaft: Entscheidend für das Wachstum ist nicht mehr, wie viel importiert oder exportiert wird, sondern wie viel über Grenzen hinweg hin und her fließt.

Bekanntlich leben wir heute in einer Wissensgesellschaft. Was eigentlich ein irreführender Begriff ist. Schließlich ist das Wissen, das in dieser Gesellschaft zur wichtigsten Ware wird, gerade kein gesellschaftliches, sondern eines, das umgehend eine private Aneignung erfährt. Und doch, die Gütermärkte sind gesättigt, und an die Stelle der Produktivitätssteigerung ist die Steigerung der Frequenz getreten, mit der „Innovationen“ und Neuigkeiten produziert werden.

Mit der Produktion und dem Verkauf von Gütern ist kaum noch ein Blumentopf zu gewinnen. Immer wichtiger wird hingegen das Immaterielle, die Innovation. Die Digitalisierung hat dieser Virtualisierung der Handelsware einen weiteren kräftigen Schub gegeben. Eine Studie des McKinsey Global Institute vom April 2014 fächert diesen Schub noch einmal auf: „Global flows in a digital age: How trade, finance, people and data connect the world economy“. Die wichtigste These: Die Digitalisierung beeinflusst zunehmend alle Bereiche der Wirtschaft und bewirkt, dass Wissen wichtiger und Arbeit unwichtiger wird.

Neu gegenüber herkömmlicher ökonomischer Betrachtung ist dabei, dass die Autoren nicht mehr im Import/Export-Schema denken, sondern in der Kategorie von „flows“, Strömen. Sie gehen also nicht mehr davon aus, dass es gut ist, mehr zu exportieren als man importiert, weil man dann sein Bruttoinlandsprodukt steigern kann. Oder dass es schlecht wäre, mehr zu importieren als man exportiert, weil man für die Importe dann Geld ausgeben muss, das man auf der anderen Seite nicht wieder hereinholt.

Das ist viel zu einfach gedacht, meint McKinsey. Auch Importe könnten schließlich produktivitätssteigernd sein, wenn es zum Beispiel um den Import von Wissen und Talenten geht. Es komme also nicht auf die reine Plus-/Minus-Rechnung an, sondern auf die Summe der Im-und Exporte und deren insgesamte Auswirkungen auf die Wachstumsrate. Auf die Wirkung der in- und outflows in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Je offener ein Land für „cross-border flows“ sei, desto mehr profitiere es von ihnen. Cross-border flows seien jährlich für 15-25% der globalen GDP-Wachstumsrate verantwortlich. Sie packten auf das globale Wachstum im Wert von etwa $450 Milliarden noch einmal $250 Milliarden drauf.

Globales Wachstum entsteht dieser Betrachtung zufolge nicht primär aus Produktivitätssteigerungen, sondern aus einem bloßen Hin- und Herschieben von Gütern und Dienstleistungen. Zu den Gewinnern gehören folglich nicht mehr diejenigen, die am meisten exportieren, sondern die am offensten sind für flows. Die für den wohlstandsbringenden Fluss von Gütern, Dienstleistungen, Finanzströmen, Menschen sowie Daten und Kommunikation möglichst wenige Barrieren errichten. Die möglichst viel Freihandel zulassen.

Nun mag man einwenden, dass wirtschaftliches Wachstum stets Absatzmärkte voraussetzt, auf denen Waren gewinnbringend verkauft werden, und seien es immaterielle Waren. Wie aber soll aus einem bloßen Hin- und Hergeschacher von Waren, Dienstleistungen, Menschen und anderen Gütern, also aus gains from trade, tatsächlich eine Wertschöpfung entstehen? Sind die Profite, die durch die Ausnutzung von Handelsdifferenzen generiert werden, von Margen also, nicht letztlich bloße Spekulationsblasen? Es profitiert, wer schneller zieht, wer möglichst wenig Reibungsverluste beim Tausch erzeugt. Aber jedem Handelsgewinn steht ein Verlust auf der anderen Seite gegenüber. Wie also entsteht das angebliche globale Gesamtwachstum, das aus diesen Flows kommen soll?

Zur Antwort verweist McKinsey auf den wachsenden Wohlstand in den Schwellenländern. Der Anteil der emerging markets am Gesamtkonsum sei zwischen 2010 und 2012 von 32% auf 49% angewachsen. Dieser Trend werde sich fortsetzen. In der ersten Welle der Globalisierung seien die Entwicklungsländer lediglich als Lieferanten von Rohstoffen und billiger Arbeit in Erscheinung getreten. Derzeit entwickelten sie sich aufgrund ihrer wachsenden Mittelschichten zu neuen Absatzmärkten. In der nächsten, von der Digitalisierung getriebenen Globalisierungsphase würden sie jedoch als player mit am Tisch sitzen, „will increasingly be the source of new talent pools, innovations, competition, and partnerships“.

Die Behauptung des zunehmenden Wohlstands und damit der wachsenden Konsumentenmärkte in den Schwellenländern ist nötig, damit die Rechnung aufgeht. Man darf ihr allerdings mit Skepsis begegnen. Das Versprechen fortgesetzten Wachstums durch Erschließung neuer Märkte in Asien und darüber hinaus gibt es seit den siebziger Jahren. Allerdings hat sich immer wieder herausgestellt, dass dieser Wohlstand sehr viel langsamer wächst als man gehofft hat. Und dass er sehr ungleich verteilt ist. Ob in China, Indien oder Osteuropa: Dem wachsenden materiellen Wohlstand kleiner Mittelschichten steht die anhaltende Armut großer Teile der Bevölkerung gegenüber.

Aber das soll jetzt alles anders werden, nämlich dank der Digitalisierung. Die senkt überall die Markteintrittsbarrieren, so dass „micromultinationals“, die vorher im globalen Wettbewerb nie eine Chance hatten, jetzt auch einen Teil vom Kuchen abbekommen können. Der Beweis: 90% der commercial sellers by eBay wickeln grenzüberschreitende Geschäfte ab. Arbeitskräfte finden bei Amazon’s Mechanical Turk Service eine Chance, ihre Arbeitskraft weltweit anbieten zu können, ohne dafür emigrieren zu müssen. Und mit Massive Open Online Courses (MOOC) wird Bildung für alle weltweit Wirklichkeit („enable people around the world to tap into world-class knowledge“).

Mit der Digitalisierung geht zudem eine wachsende Bedeutung von wissensintensiven Transfers einher, schreiben die Experten. Der wissensbasierte Anteil an den global flows von Gütern und Dienstleistungen werde immer größer. Schon heute mache er etwa die Hälfte aller globalen Ströme aus, während kapital- und arbeitsintensive Flows zunehmend ins Hintertreffen gerieten. Als wissensintensive Güter und Dienstleistungen betrachten die McKinsey-Experten solche, die einen hohen Research- und Development-Anteil haben, hochspezialisierte Arbeit erfordern oder hightech-Komponenten beinhalten. Pharmaprodukte zählen ebenso dazu wie Halbleiter, während Textilien oder Spielzeug zu den arbeitsintensiven Gütern zählen.

Die Digitalisierung verändert nun alle globalen Ströme. Beispielsweise werden körperliche Güter in unkörperliche verwandelt, was geringere Produktions- und Transportkosten nach sich zieht. Wenn statt fertiger Waren 3D-Modelle verschickt werden und die eigentliche Produktion dank solcher Matrizen dort stattfinden kann, wo das betreffende Gut schließlich auch konsumiert wird, trägt das ebenso zur wachsenden Bedeutung von Wissensarbeit bei wie wenn etwa Medieninhalte sich von ihren Trägern lösen. Statt CDs und DVDs durch die Welt zu karren, brauchen nur noch Dateien verschickt zu werden.

Auch die Arbeit selbst verändert sich: Dank Google Docs, oDesk und Mechanical Turk kann die Wissensarbeit selbst weltweit verteilt werden, ohne dass Menschen noch durch die Welt reisen müssten. Global agierende IT-Unternehmen stellen Online-Plattformen zur Verfügung und öffnen sie für andere Unternehmen, die ihre Arbeit über diese Plattformen organisieren. Die Grenzkosten der Distribution nähern sich Null. Micro ist das neue Big: Mikrokredite, Mikrozahlungen, Mikroarbeit – Wertschöpfungsprozesse werden in immer kleinere Einheiten aufgesplittet. Die Folge: Man braucht heutzutage weder ein Dach über dem Kopf noch Reis auf dem Teller zu haben, um ein transnational agierendes Unternehmen, ein „micromultinational“ zu sein. Es reicht ein Internetzugang.

Was aber bedeutet all dies? Hier der Versuch einer Interpretation: Die „global flows in a digital age“, denen man sich McKinsey zufolge öffnen soll, wenn man nicht im weltweiten Wettbewerb abgehängt werden möchte, verstärken sich durch eine zunehmende Rationalisierung in der Gestalt der Virtualisierung. Wenn die Ware immer immaterieller wird, ist für ihre Produktion immer weniger Arbeit nötig. Die zunehmende Bedeutung des Wissens ist insofern nur die Kehrseite der abnehmenden Bedeutung von Arbeit bei der Produktion. Dasselbe gilt, sogar in noch höherem Ausmaß, für die Distribution: Je höher der Anteil immaterieller Güter an der Gesamtproduktion, desto geringer der Vertriebsaufwand, und desto mehr globaler und grenzüberschreitender Handel entsteht.

Die eigentliche Frage aber, die sich aus solchen Feststellungen ergeben müsste, wird von McKinsey gar nicht nicht gestellt, geschweige denn beantwortet: Woher stammen die Gewinne, die in solchen Flows, im Handel und Tauschgeschäft scheinbar aus dem Nichts heraus entstehen?

Die Antwort könnte ungefähr so aussehen: Zu der schon immer brutalen und existenzbedrohenden Ausbeutung natürlicher Rohstoffe ist in den letzten Jahrzehnten eine ähnlich intensive Ausbeutung der kulturellen, intellektuellen und sozialen Potenziale von Gesellschaften getreten, in denen breite Schichten von der Teilhabe am Wohlstand auf westlichem Niveau dauerhaft ausgeschlossen sind. Nach einem umfassenden Outsourcing von materieller Arbeit in Schwellen- und Entwicklungsländer besteht die nächste Stufe der Globalisierung darin, auch die immaterielle Wissens- und Innovationsarbeit dorthin zu verlagern, wo sie am billigsten zu haben ist, sie global zu verteilen.

Eine Zunahme an global flows, an grenzüberschreitendem Verkehr von Gütern und Dienstleistungen mit einem wachsenden Anteil an immaterieller Arbeit ist die Folge. Der wachsenden Mobilität von Gütern, Dienstleistungen, Finanzen und vor allem von Daten und Kommunikation steht dabei jedoch eine wachsende Konzentration des Kapitals gegenüber. Unter dem Strich ist das globale Wachstum also vielleicht gar kein Wachstum mehr, sondern eine Umverteilung. Was wiederum gut dazu passen würde, dass Gewinne immer weniger aus Produktivitätssteigerung und immer mehr aus Handel entstehen.

Solche Überlegungen sind McKinsey freilich fremd. Lesenswert ist deren Expertenanalyse dennoch.

McKinsey Global Institute: Global flows in a digital age: How trade, finance, people, and data connect the world economy. April 2014.


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