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‚Geistige Offenheit‘ – (k)eine Kategorie politischer Bildungsarbeit: Warum die Gemeinnützigkeit von Attac nicht nur wichtig für Attac ist

Vor etwa 10 Jahren wurde Attac die Gemeinnützigkeit entzogen. Damit verlor Attac steuerrechtliche und andere Möglichkeiten, um ihre Forschungs-, Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit zu finanzieren. Letzteren Aspekt hob der Bundesfinanzhof in seiner Urteilsbegründung aus dem Jahr 2019 besonders hervor. Darin heißt es: „Wer politische Zwecke durch Einflussnahme auf politische Willensbildung und Gestaltung der öffentlichen Meinung verfolgt, erfüllt keinen gemeinnützigen Zweck.“ Eine Einflussnahme auf die politische Willensbildung sei nur zulässig, solange sich diese auf „bildungspolitische Fragestellungen“ beschränke. Außerdem führt der Bundesfinanzhof aus: „Politische Bildung vollzieht sich in geistiger Offenheit. Sie ist nicht förderbar, wenn sie eingesetzt wird, um die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassung zu beeinflussen.“ In der Zivilgesellschaft praktizierte Bildungsarbeit dürfe demnach nicht durch Einflussnahme auf politische Willensbildung und müsse durch ‚geistige Offenheit‘ geprägt sein. 

Damit beurteilt das oberste deutsche Finanzgericht nicht nur die Frage der Gemeinnützigkeit von Attac Deutschland. Es legt auch grundlegende Charakteristika politischer Bildung fest, die die gesamte Bildungslandschaft betreffen könnten. Doch sowohl das als antiaufklärerisch denunzierte Ziel der politischen Willensbildung als auch das mutmaßliche Gütekriterium ‚geistige Offenheit‘ passen nicht zu einer politischen Bildung in einer und für (mehr) Demokratie, wie im Folgenden ausgeführt wird. Umso mehr ist der politischen Bildung in Deutschland und darüber hinaus zu wünschen, dass Attac mit seiner Verfassungsbeschwerde Erfolg haben wird, damit das Urteil des Bundesfinanzhofs nicht zu einem klassischen Präzedenzfall wird, sofern der Fall von Attac dies nicht ohnehin schon ist – mit Dauerfolgen.

Entzug von Gemeinnützigkeit und andere Beschränkungen einer vielfältigen Zivilgesellschaft

Neben politischer Bildungsarbeit an Schulen – als Lehrfach, Unterrichts- und Schulprinzip – existiert in Deutschland eine sehr heterogene Landschaft an Bildungsträgern mit unterschiedlichen institutionellen Anbindungen sowie politischen und weltanschaulichen Ideen: gewerkschaftliche, kirchliche, parteinahe, arbeitgeber- sowie unternehmensnahe, kommunale und freie Träger, um nur einige zu nennen.

Auf verschiedene Weise geraten diese seit einigen Jahren unter Druck, wie die jeweilige Bildungsarbeit finanziert werden kann. Im Gegensatz zur staatlichen Finanzierung von schulischer Bildung sind die außerschulischen Bildungsträger auf andere finanzielle Quellen angewiesen. Diese können sich bspw. aus Spenden oder Bildungsprogrammen speisen. Da Spenden an gemeinnützige Vereine von der Steuer abgesetzt werden können, entfällt für viele potentielle Spender*innen ein Anreiz oder gar die Möglichkeit, den jeweiligen Verein finanziell zu unterstützen, sofern dem Verein die Gemeinnützigkeit entzogen wurde. Dies ist ein Ausdruck staatlicher Steuerung von Zivilgesellschaft, der es nicht als gemeinnützig anerkannten Organisationen erschwert, Spenden zu generieren. Dass u.a. Attac und nicht etwa unternehmensnahen Stiftungen die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde, ist auch deswegen bemerkenswert, weil diese zwar anders, aber ebenso wirtschaftspolitisch positioniert sind wie globalisierungskritische Akteure wie Attac. Die Vermutung liegt nahe, dass es nicht (nur) um möglichst objektive Kriterien für die steuerrechtliche Entlastung der Zivilgesellschaft geht, sondern auch darum, was politisch mehrheitsfähig oder gar politisch gewollt ist.

Eine weitere Form staatlicher Steuerung sind von Ministerien aufgelegte Programme wie bspw. das Bundesprogramm „Demokratie leben“, über die außerschulische Träger Mittel erhalten können. Spätestens seit 2004 werden Träger, die Mittel aus Bundesprogrammen erhalten, durch die Verfassungsschutzämter überprüft. Mit der hessischen Verfassungsschutznovelle des Jahres 2018 wurden diese Vorgänge – zumindest für erstmalig Geförderte – explizit legalisiert (Feldmann 2023, S. 207 f.). Ferner mussten Projektträger ab 2011 eine sogenannte „Demokratieerklärung“ unterzeichnen, in der sie sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) bekennen und sich von jeglichen ‚extremistischen‘ Strömungen distanzieren.  Abgeschafft wurde die Erklärung nie umfänglich, sondern nur die Pflicht zu ihrer Unterzeichnung. Im Zuge der aktuellen Diskussionen um ein „Demokratiefördergesetz“ kamen entsprechende Absichten wieder ins Gespräch (ebd.). Sicherheitspolitisch bedeutsam ist der in diesen und anderen Kontexten verwendete Extremismusbegriff. Die Annahme, Gefahren für die Demokratie gingen vornehmlich von den politischen ‚Rändern‘ des Spektrums sowie von ‚islamistische‘ Bestrebungen aus, entbehrt jedoch jedweder empirischen Grundlage. Nicht erst mit dem NSU-Komplex wurde deutlich, wie demokratiegefährdend staatliche Apparate und die vermeintlich stets demokratische Mitte agieren können. Auch der Vergleich von rechts und links, der regelmäßig in ein Gleichsetzen mündet, ist in Erinnerung des Faschismus ahistorisch und angesichts gegenwärtiger Gefahren von rechts fahrlässig. Zutreffend folgert Julika Bürgin: „Nicht trotz, sondern mit dem Extremismuskonzept hat der Verfassungsschutz neonazistische Strukturen finanziert, aufklärungsrelevantes Wissen zurückgehalten und die Aufklärung des NSU-Skandals blockiert.“ (2021, S. 26)

Das Extremismuskonzept spiegelt sich jedoch ebenso seit vielen Jahren in der inhaltlichen Ausgestaltung staatlicher Programme wider. Demokratieförderung heißt in einigen Programmausschreibungen letztlich Extremismusprävention (ebd., S. 60). Kinder, Jugendliche und Erwachsene gelte es demnach davor zu bewahren, ‚extremistisch‘ zu werden. Sie werden damit als potentiell defizitäre Wesen gesehen, was mit einer adressatenorientierten politischen Bildung nur schwer vereinbar ist. Inwiefern sich diese extremismuspräventive Top-Down-Steuerung in der Bildungsrealität äußert, lässt sich nur vermuten. Forschungen darüber sind rar.(1) Vermutlich verwenden Träger der politischen Bildung entsprechende Termini auch als Teil einer Antragslyrik, um überhaupt finanzielle Mittel aus den Programmen zu erhalten. Doch ebenso ist davon auszugehen, dass diese an antiextremistischen Sicherheitsmotiven orientierte Bildungspolitik die Bildungslandschaft insgesamt verändert hat und weiter verändert. Nicht zu Unrecht resümiert Benedikt Widmaier, dass Extremismusprävention inzwischen „das zentrale Thema der politischen Bildung“ (2022, S. 55) sei.

Die Aberkennung der Gemeinnützigkeit ist daher eines von mehreren staatlichen Möglichkeiten, das Subsidiaritätsprinzip und damit das eigenverantwortliche Handeln der Zivilgesellschaft einzuschränken. (2) Im Fall der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) erfolgte dies aufgrund einer Nennung in einem Verfassungsschutzbericht. Der ‚Extremismus‘-Verdacht reichte an dieser Stelle aus. Im Unterschied zu Attac konnte die VVN-BdA die Gemeinnützigkeit bereits zurückerlangen (3). Ob zu wenig ‚geistig offen‘, zu politisch positioniert oder unter ‚Extremismus‘-Verdacht: Die Einhegung der Zivilgesellschaft und daher auch der außerschulischen politischen Bildung ist jederzeit möglich und sie findet statt. Nicht umsonst benannte das Forum kritische politische Bildung ihre Jahrestagung 2023 „Kampffeld politische Bildung“.(4)  Es wird nicht nur in ihr, sondern ebenso um sie gekämpft. Dabei spielen auch Deutungshoheiten darüber eine Rolle, was unter ‚geistig offen‘ überhaupt zu verstehen ist.

Politische Bildung kann weder ‚geistig offen‘ noch ‚neutral‘ sein

Die Formulierung des Bundesfinanzhofs, politische Bildung solle ‚geistig offen‘ sein, reiht sich in weitere Konzepte ein, die mindestens unklar sind, aber als Ansprüche an die Bildungsarbeit gestellt werden. Dies betrifft u.a. auch die von unterschiedlichen Akteuren geforderte ‚Neutralität‘. So erwartet bspw. die AfD politische ‚Neutralität‘ in Schulen und ringt darum mit Meldeportalen, in denen Eltern und Schüler*innen Lehrkräfte denunzieren sollen, die sich im Unterricht kritisch oder nicht zur AfD äußern. Doch die AfD konnte mit dieser Positionierung „nur deshalb eine derartige Wirkmächtigkeit entfalten, da sie eingebettet ist in einen größeren Diskurs zur politischen Neutralität“, wie Gudrun Hentges und Bettina Lösch (2021, S. 133) klarstellen. In der Tat findet sich der Begriff inzwischen in einigen auf Schule bezogenen Gesetzen. Im Alltagsdiskurs ist er ohnehin angekommen. Nicht selten erhält man auf die Frage, was guten Politikunterricht ausmacht, die Antwort: „Neutralität!“ Letztlich stehen Ansprüche an Bildungsarbeit wie ‚Neutralität‘ und ‚geistige Offenheit‘ oder ‚keine Einflussnahme auf die politische Willensbildung‘ für Ähnliches.

Oft wird dabei auf den Beutelsbacher Konsens Bezug genommen. Dieser ist eine Tagungsnotiz einer Tagung in Beutelsbach aus dem Jahr 1976, bei der festgehalten wurde, dass politische Bildung nicht indoktrinieren dürfe sowie kontrovers und subjektorientiert sein müsse. Die Formulierung des Konsenses ist sehr allgemein, sodass es nicht verwundert, dass dieser grundsätzlich keinen Widerspruch hervorruft. Aber er lässt sich durch „seine normative Unbestimmtheit […] für alle Richtungen nutzen“ und „instrumentalisieren – eben auch oder gerade im Sinne autoritärer Politik.“ (ebd., S. 137) Entsprechend zieht auch die AfD den Beutelsbacher Konsens als Kronzeugen heran, um aus ihm ein Neutralitätsgebot abzuleiten. Damit begibt sie sich in eine deutsche Tradition. Schon in den siebziger Jahren war er geeignet, um 68er und andere Linke, die es trotz „Radikalenerlass“ und Berufsverbotspraxis in den öffentlichen Dienst geschafft hatten, davor zu warnen, Indoktrination im Klassenzimmer anzustreben.

Jedoch lässt sich für politische Bildungsarbeit an allen Orten in einer Demokratie festhalten: Sie kann und sollte nie ‚neutral‘ sein – nicht gegenüber Gegner*innen von Demokratie, Menschenrechten und Frieden. Sofern mit ‚geistiger Offenheit‘ gemeint ist, dass es nicht darum gehen kann, Bedarfe und Interessen von Teilnehmenden der Bildungsangebote zu ignorieren, und ihre Stimmen hörbar und damit bearbeitbar zu machen, wäre dem Konzept etwas abzugewinnen. Aber es meint im Kontext des Attac-Urteils etwas anderes, nämlich die politische Positionierung eines Bildungsakteurs. Überraschend ist grundsätzlich, dass der ursprünglich für die Schule formulierte Konsens inzwischen auch in der außerschulischen Bildungslandschaft verankert ist. Daher überrascht es wiederum nicht, dass auch von den außerschulischen Trägern eine ‚geistige Offenheit‘ verlangt werden soll. Jedoch besteht zwischen schulischen und nicht-schulischen Bildungseinrichtungen der entscheidende Unterschied, dass die Teilnahme an Bildungsangeboten außerhalb von Schulen freiwillig ist. Kontroversität, so betont Klaus Ahlheim, müsse im außerschulischen Bereich durch eine „Vielfalt der Träger und Institutionen“ (2019, S. 15) sichergestellt werden. Dies habe zur Folge, dass die Träger „ihre eigenen Positionen durchaus offensiv parteiisch“ (ebd., S. 16) vertreten können sollten. Andernfalls müssten kirchliche Träger ebenso verpflichtet sein, über die Existenz Gottes ergebnisoffen und kontrovers zu diskutieren, wie Gewerkschaften über Tarifauseinandersetzungen oder eben Attac über wirtschaftspolitische Angelegenheiten. Außerdem muss eine Kritik bestehender Verhältnisse, wie diese auch Attac immer wieder übt, als Beitrag zur Kontroverse in der Zivilgesellschaft angesehen werden. Perspektiven, die bspw. über die Marktwirtschaft hinausgehen und in Deutschland gegenwärtig oft nicht hörbar sind, können den Möglichkeitshorizont der Debatte erweitern und damit den demokratischen Diskurs bereichern – zumal das Grundgesetz explizit nicht wirtschaftspolitisch positioniert ist und eher mit Wolfgang Abendroth als „Klassenwaffenstillstand“ (1977, S. 188) gedeutet werden muss. Es ist die Vielfalt der Träger, die die Zivilgesellschaft in einer Demokratie ausmacht – nicht ‚geistige Offenheit‘ oder ‚Neutralität‘. 

‚Geistige Offenheit‘ und ‚Neutralität‘ sind daher keine geeigneten Bezugsgrößen der politischen Bildung. Das betrifft Schulen und erst recht außerschulische Akteure. Sollte also das Urteil zur Gemeinnützigkeit von Attac auch vor dem das Bundesverfassungsgericht Bestand haben, gefährdet dies die Vielfalt der politischen Bildung und damit die Demokratie.

 

(1) Bspw. betrachteten Maximilian Fuhrmann und Martin Hünemann Projekte, die mit Mitteln eines Linksextremismuspräventionsprogramms gefördert wurden. Ein großer Teil der Projekte habe sich im Rahmen der Bildungsarbeit von der Kategorie ‚Linksextremismus‘ implizit oder explizit distanziert (2017, S. 22).
(2) Ein weiteres Beispiel wäre das neue Stiftungsgesetz im Bund, das ähnlich wie die Demokratieerklärung die politischen Stiftungen dazu verpflichtet, jederzeit im Sinne der fdGO zu handeln.
(3) Eine Zusammenstellung, aus welchen Gründen die Gemeinnützigkeit in den letzten Jahren entzogen wurde, findet sich bei Bürgin (2021, S. 107).
(4) Bald erscheint ein Sammelband, der auf einigen Beiträgen dieser Tagung basiert (Feldmann/Pelzel/Sämann 2024).
 

Literatur
Abendroth, Wolfgang (1977): Wortmeldung in einer protokollierten Diskussion. In: Römer, Peter (Hg.): Der Kampf um das Grundgesetz. Über die politische Bedeutung der Verfassungsinterpretation. Referate und Diskussionen eines Kolloquiums aus Anlass des 70. Geburtstages von Wolfgang Abendroth. Frankfurt/M., S. 188-194.
Ahlheim, Klaus (2019): Beutelsbacher Konsens? Politische Bildung in Zeiten von AfD und Co. Ulm.
Bürgin, Julika (2021): Extremismusprävention als polizeiliche Ordnung. Zur Politik der Demokratiebildung. Weinheim/Basel.
Feldmann, Dominik (2023): Demokratie trotz(t) Antiextremismus? Zur Bedeutung von Extremismusprävention für (Ent-) Demokratisierung und politische Bildung. Frankfurt/M.
Feldmann, Dominik/Pelzel, Steffen/Sämann, Jana (Hg.) (2024, i.E.): Kampffeld politische Bildung. Theorie und Praxis zwischen Einhegungen und Entgegnungen. Münster.
Fuhrmann, Maximilian/Hünemann, Martin (2017): Fehlschlüsse der Extremismusprävention. Demokratieförderung auf ideologischen Abwegen. Berlin.
Hentges, Gudrun/Lösch, Bettina (2021): Politische Neutralität vs. Politische Normativität in der politischen Bildung. Die Veränderung politischer Öffentlichkeit durch Denunziationsplattformen im Internet. In: Hubacher, Manuel S./Waldis, Monika (Hg.): Politische Bildung für die digitale Öffentlichkeit Umgang mit politischer Information und Kommunikation in digitalen Räumen. Wiesbaden, S. 131-152.
Widmaier, Benedikt (2022): Extremismuspräventive Demokratieförderung. Eine kritische Intervention. Frankfurt/M.


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