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Friede Freude Freihandel! - Rezension zum Attac BasisText von Christian Christen, Thomas Eberhardt-Köster und Roland Süß

„Jeder, der glaubt, exponentielles Wachstum in einer endlichen Welt kann unendlich weitergehen, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom.“ (Kenneth Boulding)

Es ist bereits ein Vierteljahrhundert her, als Herbert Schui, inzwischen verstorbener Bremer Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied der Memorandumgruppe für alternative Wirtschaftspolitik, auf Einladung der Fachschaft für Wirtschaftswissenschaften in Bochum zu einem Vortrag geladen war. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was das Thema war.

Ehrlich gesagt kam ich auch etwas zu spät. In Erinnerung geblieben ist mir die Situation: Die graue Eminenz der Fakultät umgeben von seinen Studenten, es waren nur Männer, die vorgeschriebene oder auswendig gelernte Fragen stellten, die sie offenbar nicht wirklich begriffen und deren Antworten sie noch weniger verstanden. Wir waren die Kellerkinder aus der Sektion Sozialökonomie der Fakultät für Sozialwissenschaften, vier wissenschaftliche Mitarbeiter, die sich darüber amüsierten, wie wenig geistige Frische und Selbstständigkeit diese Premiumstudenten bewiesen.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass einige von ihnen heute zu denen gehören, die zur wirtschaftswissenschaftlichen Elite des Landes gehören und mit dieser tief verwurzelten Unverständigkeit die Grundrisse unserer Wirtschaftsordnung verbreiten. Das ist, aus heutiger Sicht, wenig amüsant,

Der Attac Basistext von Christian Christen, Thomas Eberhardt-Köster und Roland Süß zum Thema Freihandel hat den Untertitel Theorie, Ideologie und Praxis einer fixen Idee. Damit illustrieren die drei Attac-Aktivisten diesen anekdotisch gezeigten Zustand der neoliberal dominierten Wirtschaftswissenschaften.

Tatsächlich geht es bei der Ökonomie grundsätzlich weniger um das Wissen das Wissen schafft, sondern um Grundsatzüberzeugungen, um unausgesprochen normative Überzeugungen, die keiner weiteren Begründungen bedürfen. Besonders deutlich wird das daran, dass wir Gesellschaftstypologien aus Sicht der (traditionellen) Ökonomie vor allem nach ordnungspolitischen Grundsätzen differenzieren, nach (freien) marktwirtschaftlichen und nach (sozialstaatlich) regulierten sowie schließlich nach staatlich gelenkten (planwirtschaftlichen) Systemen. Der Begriff Planwirtschaft ist dabei ebenso irreführend - ohne Planung wären die meisten Unternehmen schnell pleite - wie der Begriff der freien Marktwirtschaft, der ja nicht die Freiheit von und für Menschen an sich meint, etwa in Form von Handlungsfreiheit, Meinungsfreiheit oder der Freiheit den Menschen zu lieben den man lieben will. Er meint eigentlich nur ein nicht reguliertes wirtschaftliches Ordnungssystem zur Verteilung von knappen Ressourcen, ist mit anderen Worten nur ein technischer Begriff, wie der eines „frei schwingenden Pendels“ oder eines frei laufenden Motors“. Die nahezu religiöse Überhöhung der „freien Marktwirtschaft“ als die Grundlage einer „freien“ Gesellschaft schlechthin macht ihren ideologischen Charakter aus.

Der Begriff Freihandel scheint auf den ersten Blick technischer zu sein und weniger ideologiebehaftet zu sein. Christen, Köster und Süß machen aber schnell deutlich, dass dies eine irrige Annahme ist. Die Geschichte des Freihandels ist zunächst vor allem der eines Gedankens, eines Begriffs, einer Idee, keine der Empirie oder auch nur eines zu analysierenden, beobachtbaren Ordnungsrahmens. Denn Freihandel gab es in den Jugendjahren des Kapitalismus nicht. Der grenzüberschreitende Handel war noch verhältnismäßig unbedeutend. Hingegen waren staatlich autorisierte Handelsgesellschaften, Exportverbote für wichtige Technologien, z.B. für die Watt’sche Dampfmaschine, Handels- und Eroberungskriege an der Tagesordnung, und sie sind es dem Grunde nach bis heute, auch wenn das Zeitalter der Kolonien und zuletzt, mit dem Übergang von Hongkong an China, der Handelskolonien offiziell vorbei ist. Der nationale Zugriff auf außernationale Ressourcen sowie die Abwehr extranationaler Konkurrenz war und ist die Wirklichkeit des real existierenden Kapitalismus. Er ist damit erwachsen geworden und hat diese Mittel immer noch im geöffneten Waffenschrank.

Dementsprechend erfahren wir wenig über die praktische Geschichte des Freihandels, sondern mehr über die Geschichte der Freihandelstheorie. Beginnend mit den eher sporadischen Aussagen eines Adam Smith über die Referenz der „komparativen Kostenvorteile“ des David Ricardo bis hin zum Versuch einer aktualisierten theoretischen Begründung des Freihandels durch das Faktorproportionentheorem (Heckscher-Ohlin-Theorem). Es wird deutlich, dass die Aussagen der Freihandelstheorie auf relativ einfachen Annahmen über die Bedeutung wirtschaftlicher Stärken eines Landes beruhen. Es hört sich nahezu rational an, aber auch recht simpel, dass eine Ananasfarm in Alaska keine volkswirtschaftlich sinnvolle Entscheidung wäre, die es zu schützen gilt. Die Formulierung einer internationalen Arbeitsteilung auf der Basis regionaler (wirtschaftlicher) Stärken überträgt die soziale Mikroebene (personeller Verhältnisse) auf die weltwirtschaftliche Bühne, wo sie auf den ersten Blick plausibel erscheint, aber weder die Aufgabe und Funktion der regionalen Ökonomien (für die Versorgung der heimischen Bevölkerung) berücksichtigt noch der empirischen Wirklichkeit gerecht werden kann. Die regionale Wirtschaft wird quasi für eine höhere Aufgabe instrumentalisiert, die einer abstrakten Wohlstandsidee folgt. Es wäre in diesem Kontext sicherlich spannend gewesen, wenn die Autoren auch noch den Bezug zu neoliberalen Modernisierungstheorien hergestellt hätten, die mit dem Konzept der nachholenden Entwicklung in die gleiche Kerbe schlagen und die Freihandelstheorie als Unterwerfung der regionalen Ökonomie unter ein weltwirtschaftliches Regime mit der Vorbildfunktion (erfolgreicher) kapitalistischer Vorreiterstaaten, insbesondere der USA, ergänzen. Die Annahme des Heckscher-Ohlin-Theorems, dass man zwischen kapital- und arbeitsintensiven Produktionsländern differenzieren kann und einzelne Länder sich entsprechend ihrer nationalen Stärken im Welthandel spezialisieren sollen, kann empirisch nicht belegt werden und wird der Komplexität der wirtschaftlichen Bedingungen nicht gerecht. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass für die wirtschaftliche Prosperität eines Landes die Durchsetzung von Freihandel einen wesentlichen Anteil hatte, unabhängig davon, dass auch die umgekehrte wirtschaftliche Strategie des strikten Protektionismus keine besseren Ergebnisse aufweist. Der Nachweis musste misslingen, „da entscheidende soziale und ökonomische Faktoren nicht im Zentrum stehen, die am Ende (…) über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Effekte des Außenhandels entscheiden“ (S. 40).

Damit entfällt die theoretische Begründung für eine auf Freihandel und Freihandelsabkommen setzende Außenwirtschaftspolitik, wie sie zumindest in Europa als politische Doktrin (noch) en vogue ist. So liegt der Verdacht nahe, dass die Freihandelstheorie nicht wegen ihrer theoretischen und praktischen Validität propagiert und protegiert wird, sondern zur (pseudo-)wissenschaftlichen Immunisierung interessengeleiteter Politik, als „Deckmantel“ (S.68) für eine Politik zur strategischen Durchsetzung ökonomischer Machtinteressen. Dabei stehen die Durchsetzung und Sicherung von privaten Eigentumsinteressen gegenüber Gemeinwohlinteressen deutlich im Vordergrund.

Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass diese ideologische Durchsetzung der praktischen Politik die ideologischen Träger als politische Eliten zunehmend diskreditiert und damit im Sinne eines so begründeten vermeintlichen Sachzwangs gleichzeitig zur Erosion politischer Entscheidungsfindung und damit auch der demokratischen Institutionen beiträgt.

Seien es multilaterale Vereinbarungen und Rechtssysteme wie die World Trade Organisation (WTO) oder bi- bis trilaterale Handelsabkommen, wie CETA oder TTIP. Sie alle entwerten nationale Regulierungen und befreien das internationale Kapital und deren Besitzer von Bindungen und Verpflichtungen, ohne dabei das Versprechen der Förderung des Wohlstands allgemein, national und für den Einzelnen einzulösen oder einlösen zu müssen. Das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA zwischen Mexiko, den USA und Kanada belegt dies deutlich. Zwar hat sich der Handel zwischen den Ländern verdreifacht, aber eine Million Arbeitsplätze gingen allein in den USA verloren und die Existenzgrundlage hundertausender mexikanischer Kleinbauern wurde zerstört (S.86). Big Business nutzt eben den Großen im Business. Die theoretischen Heilsversprechen sind der Köder, dem die kleinen Fische hinterherlaufen, mit wenig Aussicht auf Erfolg.

Das alternative Handelsmandat, dem in Europa mehr als 50 Organisationen beigetreten sind, in Deutschland u.a. Attac, WEED, Miserior,, Powershift und Colibri e.V., sowie mehr als ein Dutzend außereuropäischer Organisationen und Netztwerke, formuliert eine Alternative zur neoliberalen Freihandelsdoktrin des ökonomischen Wettrüstens. Dieses Mandat ist eine ethisches Normenwerk, es formuliert den Weg und die Institutionen für einen gerechten Welthandel. Entlang dieser konkreten Normen kann eine heterodoxe Wissenschaft hilfreich sein, Instrumente aufzuzeigen, die dieses Mandat erfolgreich werden lassen können. Ökonomie ist Gesellschaftswissenschaft und kann daher auch nicht ohne die Formulierung solcher normativen Vorgaben arbeiten. Da die neoliberale Wissenschaft einseitig ist, mit nicht offen gelegten Interessen und Nutznießern, bedarf es des öffentlichen formulierten Drucks, um eine auch alternative Form des ökonomischen Denkens zu etablieren. Die Arbeit von Attac, aber auch der Vielzahl anderer Organisationen und Netzwerke hat den Widerspruch erstarken lassen und gesellschaftlich sichtbar gemacht, auch wenn er in der Mitte der Parteienlandschaft nur unzureichend Widerhall findet.

Das Buch von Christen, Eberhardt-Köster und Süß illustriert in aller Kürze die „Ideengeschichte“ der Freihandelsdoktrin. Er tut dieses im Rahmen des Umfangs eines Basistextes und muss sich daher beschränken. Deutlich im Fokus steht die Auseinandersetzung mit den theoretischen Aspekten, und dies in einer veritablen Form. Allerdings führt diese Konzentration dazu, dass für diejenigen, die die Auseinandersetzung mit ökonomischen Denkmodellen nicht gewohnt sind, inhaltliches Verstehen nicht augenblicklich vorausgesetzt werden kann. Eine grundlegende Kenntnis in und die basale Auseinandersetzung mit ökonomischen Fragen ist also hilfreich. Ein Abkürzungsverzeichnis und Verzeichnis von Begriffserläuterungen hätten die Verständlichkeit erhöhen können. Diese Einschränkungen beiseitegelassen ist das Buch ein sehr kurzweiliges Lesevergnügen und ein sehr hilfreiches und nützliches Grundlagenwerk für das Verständnis des ökonomischen Denkens zum Freihandel Am Ende bleibt die Frage, warum so viele eigentlich zur sozialen Intelligenz befähigte Wissenschaftler mit der bekannten Inbrunst an inhaltlich widersprüchlichen und kaum haltbaren Lehrmeinungen festhalten. Ist es letztlich nur der Sachzwang der Sicherung der eigenen beruflichen Karriere? Da hilft dann ein, etwas anders bezogener, alter Spruch von John Maynard Keynes: „On the long run we are all dead“ („Auf lange Sicht sind wir alle tot“)


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