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„Freihandel“ in Theorie und Praxis

Aktuell wird in den Medien und der Politik wieder verstärkt über „Freihandel“ gesprochen. Den Anlass dafür liefern u.a. die Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation (WTO) auf Bali und die laufenden Gespräche zum Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU (TTIP). Während die WTO mit dem Abschluß von Bali den dort erzielten „Kompromiss“ der Vertreter der Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern feiert, ist die TTIP-Verhandlung anders gelagert. Hier sitzen die Schwellen- und Entwicklungsländer nicht am Tisch und es geht auch nicht direkt um die klassische Fragen, wie der Außenhandel auf Länder mit unterschiedlicher ökonomischer Ausgangslage wirkt und ob industriell rückständige Volkswirtschaften hierüber ihre Lage merklich verbessern und aufholen können.

Mit dem TTIP soll sich lediglich der nach wie vor größte Wirtschaftsblock konsolidieren und zugleich über die Jahrzehnte verlorenes handels- und industriepolitisches Terrain gegenüber den Schwellenländern, allen voran China, zurückgewinnen. Dieses strategische Ziel bestimmt die Debatte in den Industrieländern, mit der die Dynamik des globalen Warenhandels zur Stärkung der eigenen Exportindustrie genutzt werden soll.

Die Freihandelsidee und deren Fehlinterpretation

Ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA wird die Entwicklungsperspektive anderer Länder logischerweise beeinflussen. Neue Standards und Regeln für den globalen Handel und die Produktion würden gesetzt, denen sich keine Volkswirtschaft wird entziehen können. Dieser jüngste Versuch, die Gesetzgebung und Normsetzung zu ändern, gibt zugleich Auskunft darüber, was „Freihandel“ bedeutet. Gemeint ist damit nie ein Handelsregime ohne umfangreiche und detaillierte Regeln. Weder gab es ein solches Regime in der Blütezeit der Freihandelsidee im 18. und 19. Jahrhundert, noch wird es den regellosen Handel künftig geben. Unternehmen selbst bestehen immer auf einem komplexen Regelsystem, Standards und Normen. Ansonsten lassen sich Eigentumsrechte nie durchsetzen, Produktinnovationen und Produktionsverfahren nicht von der Konkurrenz abgrenzen und Investitionen sichern. Wie ein Zitronenfalter also keine Zitronen faltet, beschreibt „Freihandel“ nie den völlig freien Handel, sondern immer nur den Versuch, geltende Spielregeln zu verändern und anzupassen.
Schon aus diesem Grund ist die öffentlich „heiß“ diskutierte Frage, ob Freihandel gut oder schlecht ist, völlig falsch gestellt. Bedient werden so nur mediale Klischees und der Reflex nach Vereinfachung, aber es wird nicht ausgesagt, zu welchem Zweck und mit welchen Effekten bestehende Handelsregeln verändert werden. Nun steht die differenzierte Debatte ohnehin nicht hoch im Kurs. Meist werden die Segnungen des „freien“ Tauschs von Waren, Gütern, Dienstleistung und Kapital (Arbeit wird meist ausgeklammert) einfach nur unterstellt. Als „Beleg“ werden spezielle Thesen, theoretische Versatzstücke und empirische Untersuchungen angeführt und so wissenschaftliche Seriosität konstruiert und öffentlicher Konsens hergestellt. Im Unterschied dazu steht jede differenzierte Wertung der Effekte des Außenhandels unter dem Zwang sich zu rechtfertigen und dem Generalverdacht der Unwissenschaftlichkeit. Kritik gilt als reaktionär, bestenfalls als rückwärtsgewandt oder strukturkonservativ. Mit der Denunziation als protektionistisch und nationalistisch wird die Debatte zum Außenhandel vollends ideologisch aufgeladen.

Industrielle Revolution und Außenhandel

Im Unterschied dazu waren die klassischen Debatten überaus differenziert und die Antworten auch nicht so eindeutig, wie suggeriert wird. Bei Adam Smith, David Ricardo und Co. wurde der Außenhandel nur zweckgebunden betrachtet. Nämlich ob und wie er die industrielle Dynamik – insbesondere in England – förderte. Unter den Bedingungen des „stofflichen“ Kapitalmangels (viel zu geringe Produktivität und niedriger Output in der Landwirtschaft und Industrie) waren die materiellen Grenzen der industriellen Akkumulation klar gesetzt. Der Außenhandel sollte genau dieses produktionstechnisch Problem des jungen Kapitalismus lösen. Identisch war der Ansatz in den späteren Debatten um die Industrialisierung der sozialistischen Länder und der so genannten Entwicklungsländer.
Allerdings kannte die ökonomische Klassik keinen uneingeschränkten Handel. Jeder Ruf nach „Freihandel“ für bestimmte Güter hatte ebenso harte zweckgebundene Grenzen für unzählige Güter und Produkte. Insbesondere sollten industriell hergestellte Waren aus England in die rückständigen Nationen unbeschränkt geliefert werden und diese dann Rohstoffe und Lohngüter nach England exportieren. Alle Waren, bei denen die englische Industrie also (noch) keinen Wettbewerbsvorteil hatte, wurden nur gezielt und sehr beschränkt importiert, um den internen Strukturwandel nicht zu gefährden. Die Hinwendung zum Außenhandel folgte stets klaren Etappen: Erst war im Inland die industrielle Basis zu schaffen. Sie musste mit allen Mitteln produktiv und stabil genug auf- und ausgebaut werden, um dann erst gegen die ausländische Konkurrenz zu bestehen.

Paradoxer Ratschlag: Tue was ich sage, nicht was ich gemacht habe

Richtig bleibt bis heute, dass das Kernproblem des stofflichen Kapitalmangels unter anderen Vorzeichen die industriell rückständigen Ländern prägt (vgl. Schoeller 1976, 2000). Falsch ist zu behaupten, die rapide Integration in den Welthandel und mehr „Freihandel“ würde dieses Problem beseitigen, der produktive wie industrielle Rückstand abgebaut und ein breites Wirtschafts- und Einkommenswachstum realisiert. Unzählige Medien und Experten aus den Industrienationen empfehlen genau diese „Strategie“ den Ländern des globalen Südens. Aktiv wird dies über die bi- und multilaterale Zusammenarbeit, Handels- und Investitionsabkommen sowie Stützungs- und Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und IWF durchgesetzt. Der umfassende Erfolg ist bis heute ausgeblieben, was aber nicht zur gründlichen Prüfung der angebotenen Strategien führte.

Schon aus Gründen der Redlichkeit sollte sich niemand als Kronzeuge für diese ineffektive Strategie auf Adam Smith und David Ricardo berufen. Zu deren Zeit wurde der unbändige Ruf nach freiem Außenhandel, nach unkonditionierter Marktöffnung sowie interner Liberalisierung bestenfalls bei ökonomischen Wirrköpfen laut. Zumindest kannte man noch den Unterschied zwischen Propaganda und den Bedürfnisse nach Auf- und Ausbau nationaler Produktionsstrukturen und der heimischen Akkumulation.

Wer heute nur den Außenhandel und die Marktöffnung anbietet, argumentiert ideologisch und geschichtsvergessen. Denn alle heutigen Industrienationen und erfolgreichen Schwellenländer haben nie diese Rezepte verfolgt (vgl. Steiner 1997; Chang 2012:92ff.). Ihre Politik widerlegt praktisch das Liberalisierungsmantra und die Hoffnung auf private Initiative und ominöse Marktkräfte. Heimische Märkte wurden immer abgeschottet und Investitionen gelenkt. Der Kapitalzufluß/-abfluß war strikt geregelt. Die Landwirtschaft und junge Unternehmen wurden massiv geschützt und subventioniert. Eine konditionslose Liberalisierung des Außenhandels und die Marktöffnung gab es nie.

Leerstellen der ökonomischen Theorie

Sucht man nach Gründen für die bornierte Dogmatik der modernen Debatten zur Funktion und über die Effekte des Außenhandels für Entwicklungsländer so ist eine Antwort, dass die vorgeschlagenen Rezepte die Vorherrschaft der Industrienationen in der Globalisierung sichern sollen. Deren Unternehmen, Konzerne und Finanzakteure profitieren massiv und überproportional von der Liberalisierung, Marktöffnung, dem Abbau von Handelsschranken, veränderten Normen, Standards und Regulierungen.

Wenig überraschend sind deshalb auch die aktuellen Ergebnisse des „Globalisierungsreport 2014“ der Bertelsmann Stiftung, die den banalen Sachverhalt erneut mit obskurer Methodik eines „Globalisierungsindexes“ aufwendig umschreibt. Banal deshalb, da die Voraussetzung für diesen „Erfolg“ der historische Aufbau einer immens produktiven industriellen Basis und massiven Wertschöpfung ist, die in solchen Untersuchung gar nicht mehr erklärt und eingeordnet wird. An der Spitze stehen dann eben Unternehmen aus den Ländern, die bei Produktion, Innovation und Finanzierung auf dem Weltmarkt haushoch überlegen sind. Sie bestimmen die Richtung des globalen Kapitalismus und die Gewinne und Verluste der Globalisierung. Die Differenzierung internationaler Wertschöpfungsketten, die Auslagerung von Produktion und Konstruktion komplexer Unternehmensstrukturen und der Anstieg der Direktinvestitionen in dynamisch wachsenden Märkten hat daran kaum etwas verändert.

Nach wie vor ist bis zu 2/3 des Welthandels intra-industrieller Handel – also Handel zwischen Unternehmen. Da diese zahlenmäßig am häufigsten in den Industrienationen angesiedelt sind bzw. hier ihren Heimatstandort oder unzählige Tochterunternehmen haben, erklären sich so die Grundstruktur des Welthandels und der interregional Zuschnitt des Welthandels.

Entsprechend wirkt das bekannte Problem von Zentrum und Peripherie fort: Im Unterschied zu den Industrienationen und wenigen Schwellenländer sind die übrigen Volkswirtschaften bei Produktion und Handel abgehängt. Primär sind sie auf den Verkauf mineralischer, fossiler Rohstoffe, Agrargüter (cash crops) auf dem Weltmarkt angewiesen und bleiben abhängig von der kaufkräftigen Nachfrage industrieller Zentren und/oder sie haben in gleicher Abhängigkeit ihre Rolle als verlängerte Werkbank.

Eine relativ kleine Gruppe korrupter Eliten in den Ländern kann sich gut reproduzieren. Von ihnen ist aber keine sinnvolle Verwendung der ökonomischen Überschüsse zu erwarten. Entsprechend fehlt es an Investitionen in die Infrastruktur und einer aktiven Politik, die Industrien und Unternehmen fördert, durch Protektion begleitet und so den Anteil der Wertschöpfung erhöht und die Produktivität in Industrie und Landwirtschaft massiv steigert.
Nun ist eine machtpolitische Antwort auf die Frage, warum sich die neoklassische/neoliberale Logik bei der Betrachtung des Außenhandels in den Debatten durchgesetzt hat,  allein wenig befriedigend. Ein weitere Aspekt ist der theoretische Ansatz der Wirtschaftswissenschaft. Während in der klassischen Ökonomie und darauf aufbauenden Wertung der nachholenden Industriealisierung der „stoffliche Kapitalmangel“ und somit die Ausgangsbedingungen für den Außenhandel zentral waren, verliert dies später an Bedeutung. Bereits die im späten 19. Jahrhundert sich etablierende Neoklassik und der in Kontrast dazu später formulierte Keynesianismus haben einen völlig anderen analytischen Gegenstand (vgl. Rostow 1990). Die Neoklassik konzentrierte sich u.a. auf die gleichgewichtstheoretische Begründung von Preisen, Zinsen, Profiten und Löhnen und Bedingungen der Markträumung. Es geht um die effiziente Allokation der Produktionsressourcen (Arbeit, Kapital und Boden) im Kapitalismus, der das Problem unzureichender absoluter Überschüsse nicht kennt. Der Keynesianismus grenzte sich zwar vom orthodoxen Ansatz (Klassik und Neoklassik) ab, betrachtete aber den gleichen Gegenstand. Ungleichgewichte, Konjunktur- und Wachstumsprozesse, die effektive Nachfrage, Verteilungsverhältnisse und die negativen Folgen und strukturellen Risiken einer industriellen Geldwirtschaft stehen hier im Zentrum (vgl. Christen 2013:381ff.).

In allen Varianten der Neoklassik und des Keynesianismus wird erstens nicht danach gefragt, wie Wachstum und Entwicklung in einer vorindustriellen Gesellschaft entsteht und zweitens wird nicht direkt nachholende Industrialisierung und Entwicklung erklärt. Beides wird nur indirekt beschrieben. Neoklassische und (post)-keynesianische Ansätze geben deshalb keine  hilfreichen Antworten für die Probleme industriell rückständiger Volkswirtschaften.

Nach Art eines modernen Glasperlenspiels dreht sich auch deshalb weiter alles um die Gegenüberstellung von Freihandel oder Protektionismus. Es wird aber so nicht erklärt, wie in einer Welt mit exorbitanten Unterschieden industrieller wie landwirtschaftlicher Produktivität die strukturelle Abhängigkeit der meisten Länder verringert werden kann. Wie sollen industriell rückständige Ökonomien und deren Unternehmen gegen Unternehmen, Konzerne und Finanzakteure aus den Industrienationen „wettbewerbsfähig“ werden und wie intern „Märkte“ für eigene Produkte und Dienstleistungen entstehen? Wie wird also Entwicklung möglich in einem Umfeld, in dem alle Industrienationen versuchen die binnenwirtschaftliche Stagnation durch Ausweitung des Exports zu kompensieren? Unter diesen Bedingungen ist die Aufforderung, treibt Handel und öffnet Märkte nicht nur geschichtsvergessen, praxisfern und theoretisch fragwürdig, sie ist auch zutiefst zynisch.

Literatur
Rostow, Walt W. (1990): Theorists of Economic Growth from David Hume to the Present. New York/Oxford
Steiner, Roald (1997): Investierbarer Überschuss und Außenhandel – Über interne und externe Bedingungen nachholender Entwicklungsprozesse. Marburg
Schoeller, Wolfgang (1976): Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals. Frankfurt a.M.
Ders. (2000): Die offene Schere im Welthandel – Und wie sie zu schließen ist. Heilbronn


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