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Die sozialökologische Transformation der Welt - Gedanken zur Umsetzung und Finanzierung

Der Beitrag ist ein Exzerpt von Karl-Martin Hentschel aus seinem Buch „Demokratie von morgen“, UVK-Verlag 2019

Wir stehen vor der Herausforderung, in diesem Jahrhundert unsere gesamte Lebens- und Produktionsweise so anzupassen, dass die Menschheit wieder mit der Natur und den Ressourcen dieses Planeten im Gleichgewicht leben kann. Die Zeitschiene dafür ist extrem eng: Für die Begrenzung des Klimawandels auf einen Temperaturanstieg von maximal 1,5 Grad bleiben uns maximal 30 Jahre.

Die zentrale These des folgenden Textes besagt, dass eine Lösung dieser Probleme im Rahmen einer demokratischen partizipativen Verfassung nur in Verbindung mit einer sozialen und de-mokratischen Transformation unserer Gesellschaft möglich sein wird. Diese wird uns kaum im Rahmen der Nationalstaaten gelingen. Der vielversprechendste Weg könnte eine paneuropäische kosmopolitische Bewegung sein, die zu einer Neugründung der EU als föderale soziale Demokratie führen sollte.

Das Ende des Kapitalismus

Wir brauchen also eine radikale Wende in wenigen Jahrzehnten. Die Phase der Wachstumsge-sellschaft der letzten 300 Jahre geht zwangsläufig zu Ende. Dieses exponentiell wachsende Sys-tem (das Marx „Kapitalismus“ nannte) wird bis Mitte dieses Jahrhunderts zu einer Verzwanzig-fachung der Bevölkerung, zu einer Verfünfzigfachung des Energieverbrauchs und zu einer mehr als Verhundertfachung des Rohstoffverbrauchs geführt haben. Zum Ende dieses Kapitalismus bedarf es keiner Revolution. Denn die Ressourcen reichen schlicht nicht aus, um weiterzuma-chen.

Die Frage ist nicht mehr, ob der Kapitalismus endet, sondern wie. Kommt es zu einem Zu-sammenbruch der Ressourcen und damit des Wirtschaftssystems und in der Folge zu einem Rückfall ins Mittelalter ähnlich wie nach dem Kollaps der antiken Zivilisation? Kommt es zur Herrschaft von Warlords, zu Hungersnöten und Kriegen um die letzten Ressourcen?

Oder übernehmen die Konzerne wie Google oder gar Roboter die Macht in einer Art Post-demokratie, wie es Colin Crouch oder Yuval Harari befürchten? Kommt es zu einer Welt, in der wir mit Drogen, manipulierten Informationen und Spielkonsolen glücklich und benebelt ge-halten werden?

Oder gelingt es der KP Chinas eine weltweite Meritokratie zu installieren, die von einer an Kaderschulen ausgebildeten Elite gelenkt wird, die mit Hilfe von Spitzentechnologien die Welt optimal managt? (siehe Zhang Weiwei 2012: Meritocracy Versus Democracy; Daniel Bell 2015: The China Model)

Oder gibt es ein demokratisches Modell – ich nenne es „Realotopia“ – eine Demokratie, die einerseits so handlungsfähig ist, dass sie die große Transformation unserer gesamten Lebens- und Produktionsweise hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft bewältigen kann und sogleich so attraktiv ist, dass sie von den Menschen die erforderliche Akzeptanz und Zustimmung erfährt.

Die ökologische Transformation zur Gleichgewichtsgesellschaft

Um zu verstehen, welche Herausforderung die ökologische Transformation für uns bedeutet, müssen wir uns ein Bild von der zukünftigen Gesellschaft machen. Man kann diese Gesellschaft durch fünf Eckpunkte beschreiben:

  1. Ende des Bevölkerungswachstums: Ein endlicher Planet kann nur von einer endlichen Zahl von Menschen bewohnt werden. Als der entscheidende Hebel hat sich die Schulbildung aller Mädchen herausgestellt. Selbst in armen Gesellschaften erwies sich dieses Konzept durchweg als erfolgreich. Da sich die Bevölkerung in Europa, Asien und Amerika bereits zunehmend stabilisiert, hängt der Erfolg dieser Aufgabe vor allem von der Entwicklung in Afrika ab.
  2. 100 Prozent erneuerbare Energien: Ein wesentlicher Schritt zur Energiewende ist die Steigerung der Effizienz und die Energieeinsparung. Als künftige Energiequellen kommen nur vier Komponenten in Frage: Sonne, Wasserkraft, Wind und Erdwärme, nicht aber Biomasse und auch nicht Atomkraft.
  3. Recycling-Wirtschaft: Ziel ist ein 100-prozentiges Recycling aller Rohstoffe, die nicht nachwachsen oder aus dem Meerwasser entnommen werden können durch Pfandsysteme und Recyclingvorfinanzierung für alle Produkte.
  4. Emissionsstopp: Beendigung aller Emissionen, die nicht natürlich abbaubar sind und Reduktion aller anderen Emissionen auf ein Maß, das die natürlichen Kreisläufe stabil hält. Dies beinhaltet insbesondere den Stopp der Treibhausgasemissionen, die Umstellung auf ökologische Land- und Forstwirtschaft und die Umstellung der Chemieindustrie (u. a. kein Mikroplastik, Ausstieg aus der Chlorchemie usw.).
  5. Naturschutz: Bereitstellung von ausreichenden und vernetzten Flächen (vermutlich mindestens 20% der Landflächen und erhebliche Teile der Wasserflächen) für Natur-schutz ohne menschliche Einwirkung, um das Artensterben zu stoppen. Zugleich muss auch die Bewirtschaftung der genutzten Flächen naturverträglich gestaltet werden.

Wenn wir diese fünf Aufgaben bewältigt haben, dann haben wir das angestrebte Gleichge-wicht zwischen der menschlichen Lebens- und Produktionsweise und der Biosphäre des Planeten erreicht. Damit erübrigen sich auch die oft geführten Diskussionen, ob und welches Wachstum noch möglich sein wird. Wachstum in Form von ökonomischen Zahlen, oder in Form von neuen Produkten, Erfindungen, Freizeitangeboten usw. wird möglich sein, wenn dabei die fünf Eckpunkte eingehalten werden. Entscheidend ist also das ökologische Gleichgewicht – nicht die ökonomischen Zahlen! Dies zu betonen ist wichtig, da in diesem Punkt häufig eine große Verwirrung der Begriffe besteht.

Die Transformation der Demokratie

Die Staatsform „Demokratie“ wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie „gerecht“ ist, also das Auseinanderdriften von Reich und Arm beendet, wenn sie „sozial“ und „inklusiv“ ist, also allen Menschen eine gute Perspektive liefert und glaubhaft die Chance gibt, die Gesellschaft mitzuge-stalten, so dass jeder Bürger praktisch erlebt: „Ich bin der Souverän“.

Dazu brauchen wir eine neue innere Ordnung, eine neue Art von Demokratie. Diese zukünf-tige Form der Demokratie Realotopias wird sich in einem offenen Lernprozess entwickeln. Trotzdem kann man wichtige Eckpunkte beschreiben:

  1. Dezentrale Demokratie: Menschen bringen sich am ehesten vor Ort in ihrer Gemeinde oder Stadtteil ein. Dort können sie Demokratie erfahren, dort sehen sie, was mit ihrem Geld gemacht wird. In Ländern wie Dänemark oder der Schweiz werden bis zu zwei Drittel der Ausgaben des Staates durch die Kommunen getätigt – in Deutschland nur ein Sechstel. Daraus sollten wir lernen und eine radikale Dezentralisierung ins Visier neh-men.
  2. Direkte Demokratie: Die weltweiten Erfahrungen mit direkter Demokratie sind durchweg positiv – in der Schweiz, in Kalifornien, in Uruguay, in Neuseeland, in Tai-wan usw. Die Akzeptanz von wichtigen Weichenstellungen ist viel größer, wenn die Menschen – der Souverän – selbst entscheiden können. Die Gesetze in Staaten mit DD sind nach Vergleichsstudien sozialer, umweltfreundlicher und bürgernäher, die Schul-den sind geringer und vor allem: Die Akzeptanz der Demokratie ist um vieles größer!
  3. Partizipative Demokratie - Tribunat: Menschen wollen immer mehr mitreden. Aber leider ist die heutige Demokratie vor allem eine Demokratie der besser situierten Schichten mit höherem Schulabschluss. Deshalb brauchen wir neue inklusive Beteili-gungsverfahren. Als beste Lösung haben sich dazu geloste Versammlungen erwiesen, in denen Bürger aus allen Schichten und Altersgruppen vertreten sind – insbesondere, wenn sie mit Vetorechten (Tribunat) ausgestattet werden.
  4. Konsensregierung: Mehrheitsregierungen und direkt gewählte Präsidenten tun sich schwer damit, einen breiten Konsens in der Gesellschaft herzustellen und langfristige Planungen und Weichenstellungen vorzunehmen. Als das stabilste Regierungssystem hat sich das Modell der Konsensregierung, das Konkordanzsystem der Schweiz, erwie-sen. In einem solchen System sind Parlament und Zivilgesellschaft (per Direkter Demo-kratie) für den politischen Diskurs und die Weichenstellung durch Gesetze zuständig. Die Regierung dagegen sollte politisch neutral sein, damit sie die Bevölkerung nicht spaltet und langfristig planen kann.
  5. Neue Gewaltenteilung: 300 Jahre nach der Konzeption der Gewaltenteilung durch Montesquieu hat sich diese bewährt und wurde zu einem Grundpfeiler jeder Demokra-tie. Die konkrete Ausformung der Gewalten ist jedoch reformbedürftig. So sind bis heute zentrale Fragen nicht beantwortet: 
  • Wie kommen wir zu einer Regulierung der öffentlichen und privaten Medien, die die Unabhängigkeit und Vielfalt sichert?
  • Wie kommen wir zu einer demokratischen Regulierung der Wirtschaft? Wie verhindern wir die Bildung von Oligopolen oder gar Monopolen?
  • Welche Rolle soll eine unabhängige Zentralbank spielen?

Aus diesen Überlegungen erwuchsen neue Konzepte der Gewaltenteilung – so das Sieben-Gewalten-Modell.

Eckpunkte für ein gerechtes Steuer- und Abgabensystem

Eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation erfordert ein stabiles armutssicheres Sozialsystem und umfangreiche Investitionen, die entweder von den Staaten und der Weltgemein-schaft direkt finanziert oder durch geeignete staatliche Anreize und Regeln induziert werden müssen. Zahlreiche Studien haben mittlerweile nachgewiesen, dass eine Politik des Green New Deal, eine engagierte sozial-ökologische Transformation, bereits mittelfristig mehr Kosten spart als sie verursacht und mehr Arbeitsplätze schafft, als eine Politik des Weiter-So.

1. Die Staatseinnahmen

Die Einnahmen sollen ausreichen, um eine gute Versorgung der Gesellschaft mit öffentlichen Dienstleistungen, Sozialleistungen und öffentlicher Infrastruktur und insbesondere die erforder-lichen Mittel für die sozial-ökologische Transformation sicherzustellen. In einer Krise sollte die Zentralbank der Regierung direkt Mittel zur Verfügung stellen, um die Aufnahme von Schulden zu vermeiden.

2. Dezentralisierung und Finanzausgleich

Zur Dezentralisierung des Staates gehört auch, dass die Ausgaben des Staates soweit wie mög-lich durch die Kommunen und Regionen vor Ort getätigt werden. Ein vertikaler Finanzausgleich soll überall gleiche Lebensbedingungen sicherstellen. Künftig wird daher schrittweise auch ein europäischer und weltweiter Finanzausgleich erforderlich.

3. Einkommens- und Vermögenssteuern sowie Sozialabgaben

Die Steuern, Abgaben und Gebühren sollen so gestaltet werden, dass mittelfristig eine von der großen Mehrheit als gerecht akzeptierte Einkommens- und Vermögensverteilung erreicht wird. Dies ist nur möglich mit einer progressiven Besteuerung von Einkommen und Vermögen und einer Neujustierung der Sozialabgaben und Gebühren.

4. Umweltabgaben

Die Abgaben (einschließlich Steuern und Gebühren) auf die Ausbeutung von natürlichen Res-sourcen und die Belastung der Umwelt sollen so justiert werden, dass die Folgekosten und etwa-ige Wertverluste für die Gesellschaft damit abgegolten werden – man spricht vom Verursacher-prinzip.

5. Unternehmenssteuern

Durch Unternehmenssteuern tragen die Firmen dazu bei, die Infrastruktur und den Ordnungs-rahmen, von denen sie profitieren, zu finanzieren. Sie sollen deshalb dort erhoben werden, wo die wirtschaftlichen Aktivitäten stattfinden. Dies erfordert einen Systemwechsel vom jetzigen Verrechnungspreissystem auf Basis einzelner Betriebsstätten zur Gesamtkonzernbesteuerung. Unternehmenssteuern sollen auch dazu beitragen, die Konzentration von Firmen, Banken und anderen Unternehmen in immer größere Oligopole zu verhindern. Dazu bedarf es progressiver Steuersätze.

6. Mehrwertsteuer

Mehrwertsteuern sind heute die einzigen globalisierungsfesten Steuern, da sie auch auf die Im-porte, nicht aber auf die Exporte erhoben werden. Deswegen sind sie in vielen Staaten Europas – ganz besonders in Skandinavien – die Basis der Finanzierung des Sozialstaates. Da Mehrwert-steuern je nach Konstruktion eine degressive Steuerbelastung bewirken können, müssen ihre verteilungspolitischen Auswirkungen im Zusammenspiel mit den anderen Steuern und Abgaben mitberücksichtigt werden.

Wie ein gutes Abgabensystem durchgesetzt werden kann:

Die zukünftige Demokratie braucht nicht nur neue Steuerkonzepte. Sie braucht ein Verfahren, das gewährleistet, dass das Urversprechen der Demokratie – die Gerechtigkeit – zumindest schrittweise verwirklicht wird. Dazu sollten die oben beschriebenen Eckpunkte des Steuersys-tems einklagbar in die Verfassung aufgenommen werden.

Darüber hinaus müssen sowohl für die Einkommensverteilung wie auch für die Vermögens-verteilung konkrete Ziele als einklagbare Vorgaben in die Verfassung geschrieben werden (zum Beispiel einen Gini-Index für Einkommensverteilung von 20 Prozent). Weiterhin muss ein poli-tischer Mechanismus implementiert werden, der die Umsetzung dieser Ziele im Rahmen der Gesetzgebung möglichst automatisch gewährleistet. Zu diesem Zweck sollte eine unabhängige Kontrollkommission (unter Beteiligung von Sozialverbänden und Gewerkschaften) eingerichtet werden, die die reale Entwicklung jährlich evaluiert und Vorschläge zur Umsetzung macht.

Auf dem Weg zur Weltgesellschaft

Das Ende des Wachstums, der Klimawandel, die wachsende Ungleichheit der Welt und die daraus entstehenden Konflikte sind allesamt globale Probleme. Sie können nicht mit einer Rückkehr in nationalstaatliches Denken gelöst werden. Der Übergang zur Gleichgewichtsgesellschaft – zu Realotopia – ist daher direkt verbunden mit dem Übergang vom industriellen Nationalstaat zur künftigen Weltgesellschaft. Diese Entwicklung hat längst begonnen. Es gibt kein Zurück.

Fairhandel statt Freihandel

Ein zentraler Baustein der weltweiten Transformation muss der Übergang vom Freihandel zum Fairhandel sein. Es bedarf dazu dringend einer neuen Welthandelsordnung, wie sie Christian Felber und andere Autoren vorschlagen:

Für den Welthandel soll künftig die UNO zuständig werden – was praktisch bedeuten könnte, dass die WTO eine Tochterorganisation der UNO wird. Ein Land handelt fair, wenn es alle UNO-Deklarationen einhält. Wenn also jemand gegen die Menschenrechte verstößt – oder gegen den Umweltschutz, Klimaschutz, Meeresschutz, Kinderrechte, Arbeitnehmerrechte und an-dere – dann verschafft sich diese Firma oder der Staat, der das zulässt, einen unfairen Vorteil. Und das soll in Zukunft gleichbedeutend sein mit Preisdumping. Wenn also ein Staat Kinderar-beit zulässt, dann können andere Staaten die so produzierten Waren mit Strafzöllen belegen.

Das hätte radikale Auswirkungen: Es würde nämlich einerseits bewirken, dass der Handel fairer wird. Aber andererseits hätte es auch die Wirkung, dass die UN-Resolutionen zu den Menschenrechten, zum Klimaschutz, zur Kinderarbeit und andere „hart“ werden. So entstände nicht nur Völkerrecht, sondern auch einklagbares „Weltrecht“. Es entstände ein gewaltiger ökonomischer Druck auf alle Regierungen der Welt, die „Regeln“ der UNO einzuhalten.

Demokratisierung der internationalen Ordnung

Der logisch nächste Schritt zur Weiterentwicklung der internationalen Ordnung wäre ein Welt-parlament. Der interessanteste Vorschlag ist die United Nations Parliamentary Assembly (UN-PA) – also eine repräsentative erste Kammer der UNO – neben der Generalversammlung, die ja eine Staatenkammer darstellt. Diese sollte dann auch in einem Konsensverfahren (kein Mehr-heitsverfahren) den Sicherheitsrat der UN wählen.

Um der Angst der Mächtigen vor dem Kontrollverlust und der Angst der Kleinen, untergebut-tert zu werden, Rechnung zu tragen, könnte zunächst eine „Binding Triad“ gelten. Beschlüsse des Parlaments sollten dann verbindlich sein, wenn diese von 2/3 der Länder unterstützt werden, die mindestens 2/3 der Weltbevölkerung repräsentieren und deren Staaten 2/3 der Beiträge zum UN-Etat zahlen würden. Ein solches Verfahren würde es den USA oder auch China und Russ-land und vielen anderen Staaten schwerer machen, die Beschlüsse weiterhin zu ignorieren.

„Marshall-Plan“ und „New Deal“

Von Al Gore stammt die Idee des Marshall-Plans für die Erde. Eine globale Initiative, die den armen Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ein Angebot macht. Es ist eine faszinierende Idee, aber wie könnte sie umgesetzt werden?

Einen Vorschlag dazu machte der wohl bedeutendste afrikanische Historiker und Philosoph Achille Mbembe: Er schlägt einen „New Deal für Demokratie und ökonomischen Fortschritt“ vor. Er sollte zwischen den afrikanischen Staaten und den europäischen Mächten ausgehandelt werden, um die „Narben des Kolonialismus“ zu überwinden. Der Deal sollte auch juristische und strafrechtliche Sanktionen (vom Ausschluss aus dem Deal bis zur Amtsenthebung von Re-gierungen) vorsehen bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schweren Fällen von Korruption und Ausplünderung des eigenen Volkes. Ein solcher Deal wäre auch für Europa ein wichtiger und notwendiger Schritt, um die Geschichte des Rassismus und Kolonialismus zu überwinden.

Erster Schritt: Neugründung der EU

Es stellt sich also die Frage, wie, wo und wann die politische Initiative für die Transformation gestartet werden kann. Heute gibt es nur noch drei Akteure, denen der notwendige Impuls zur Gleichgewichtsgesellschaft zugetraut werden kann. Da jedoch die USA weitgehend das Vertrauen verloren hat und China nicht demokratisch ist, gerät Europa immer mehr in den Fokus der Hoffnungen. Immerhin hat die EU – bei allen gravierenden Fehlern – es geschafft, den Kon-tinent, der seit tausend Jahren ununterbrochen blutige Kriege geführt hat, zu einen und zu be-frieden.

Heute ist die EU in einer existenziellen Krise. Aber gerade Krisen sind stets eine Chance für Neues. Ziel muss es sein, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen und die EU als demokratischen Staat neu zu gründen. Dies könnte Ergebnis einer europaweiten Mobilisierung von Tausenden von NGOs, Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbänden sein. Der Verfassungskonvent müsste gewählt werden mit dem Auftrag, eine Verfassung vorzulegen, die in allen Staaten der EU per Volksabstimmung abgestimmt wird.

Ich bin überzeugt, dass eine solche Verfassung nur dann mehrheitsfähig sein wird, wenn:

  • Die EU als stark dezentraler und sozialer Föderalstaat mit starken Regionen und Kommunen konzipiert wird mit einem Finanzausgleich, der schrittweise die Grundlage für gleiche Lebensbedingungen in ganz Europa und für ein gemeinsames Sozialsystem legt.
  • Die Verfassung eine Demokratie mit einem starken Parlament, mit direktdemokrati-schen Instrumenten, mit einer konsensualen Regierungsform (keine Direktwahl des Prä-sidenten) und einer friedlichen Außenpolitik beschreibt.

Das Modell für die neue EU wäre also nicht die USA, sondern eher eine Art große Schweiz. Eine solche Neugründung der EU könnte der Wendepunkt sein, aus dem die Transformation her-vorgeht.

Zweiter Schritt: Die „Assoziation für Demokratie und nachhaltige Entwicklung“

Wie könnte dann der von Mbembe beschriebene Deal umgesetzt werden?

Eine neue demokratische EU die Gründung einer „Assoziation für Demokratie und nachhal-tige Entwicklung“ initiieren. Mitglied dieser Assoziation können alle Staaten werden, in denen demokratische Standards wie faire, demokratische Wahlen, Einhaltung der Menschenrechte, un-abhängige Gerichte, Gewaltenteilung und freie Presse gewährleistet sind. Weiterhin sollten sich die Mitglieder verpflichten, keine militärischen Aggressionen gegen andere vorzunehmen und auch kein Militär im Inneren einzusetzen.

Die Assoziation sollte so konstruiert werden wie die ursprüngliche Europäische Wirtschafts-gemeinschaft (EWG). Sie sollte den Mitgliedern Fördermittel anbieten zur Finanzierung der Energiewende, für Bildungseinrichtungen, Aufforstung, Müllentsorgung, Verkehr (Bahn und Straße) und anderer wichtige Infrastrukturprojekte. Sie sollte weiterhin allen Mitgliedern anbieten, den Markt für Agrarprodukte der armen Länder zu öffnen und privilegierte Angebote für den Import von fair gehandelten Gütern machen wie oben beschrieben. Es gibt sogar den Vor-schlag, für die „least developed countries“ anstelle einer Wirtschaftsförderung ein minimales Grundeinkommen von zwei Dollar pro Kopf täglich zu finanzieren, um Kaufkraft und damit ei-nen Impuls für eine selbstinduzierte Wirtschaftsentwicklung zu generieren.

Eine solche Assoziation könnte einen enormen Anreiz auf alle Staaten ausüben, sich selbst zu demokratisieren und zu zivilisieren. Gerade die Eliten, die heute oft die Demokratie untergraben und verhindern, würden einem hohen Druck ausgesetzt sein, Demokratie zuzulassen, um eine wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen und davon zu profitieren.

Bei der Bildung einer solchen Assoziation sollte auch von den negativen Erfahrungen der EU gelernt werden. Es müsste geregelt werden, was passiert, wenn ein Mitglied der Assoziation die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt. Dann sollte es möglich sein, dass die Mitgliedsrechte durch ein oberstes Gericht suspendiert werden können, damit nicht das passiert, was wir heute in der EU mit Ungarn und Polen erleben.

Dabei sollte Europa bewusst eine besondere Beziehung zu Afrika eingehen, wie Achille Mbembe es gefordert hat. Denn die Geschichte der beiden Kontinente bedeutet für uns auch ei-ne besondere Verantwortung. Dies liegt im gegenseitigen Interesse: Wenn wir Afrika helfen, wirtschaftlich auf die Beine zu kommen, dann kommen nicht nur weniger Flüchtlinge, es gibt auch mehr Frieden in der Welt, und letztlich profitieren alle – auch und insbesondere Europa.

Eine Assoziation für den Frieden

Eine solche Assoziation würde auch friedenspolitisch eine enorme Ausstrahlung entfalten. Denn faktisch würde sie durch das Aggressionsverbot einen Friedensraum in der Welt definieren. Dieser funktioniert natürlich doppelt: Einmal wirkt es auf die Mitglieder und die potentiellen Mitglieder ein, da ein Verstoß gegen das Aggressionsverbot zur Suspendierung der Mitglied-schaft führen würde. Das Konzept funktioniert aber auch nach außen. Die Mitgliedschaft in der Assoziation wäre ein attraktives Angebot, wenn ein Land sich vor Aggressionen durch Dritte schützen möchte.

Eine solche Assoziation würde natürlich auch ein Angebot an die Staaten bedeuten, die heute dabei sind, sich von der Demokratie zu entfernen – wie zum Beispiel Russland oder die Türkei.

Natürlich zielt die Idee der Assoziation noch weiter. Es geht um die Konstituierung der Weltdemokratie. Die Assoziation könnte entscheidend dazu beitragen, das UN-Parlament durchzusetzen, die WTO, OECD, IEA und andere Organisationen in die UN zu integrieren und Schritte in Richtung einer Weltexekutive – also einem gewählten Sicherheitsrat – zu ergreifen.

Realotopia

Realotopia ist keine Utopie. Es wird auch nicht das Ergebnis einer Revolution sein, sondern Ergebnis der sozialökologischen und demokratischen Transformation. Es ist daher eher eine Art Bauprojekt für eine künftige Welt.

Ist das Projekt unrealistisch? Ich denke nicht. Schon Hegel stellte fest: Große Veränderungen kommen immer plötzlich und unerwartet – wie 1968 oder 1990 oder Fukushima und der Atomausstieg. Wir müssen sie aber nutzen und darauf vorbereitet sein.

Natürlich kann das Projekt scheitern. Allerdings halte ich einen erneuten Sieg des Antikosmopolitismus wie in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts für unwahrscheinlich. Marx bemerkte mal, dass alle großen weltgeschichtlichen Vorgänge sich zweimal ereignen. Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Man kann es auch anders ausdrücken: Die Menschheit ist lernfähig. Gerade wir Deutschen haben dies bitter erfahren.

Letztlich kommt es auf uns alle an, ob der Bau von Realotopia gelingt. Denn in allen Krisen der Weltgeschichte sind die Menschen, die Zivilgesellschaft, ein entscheidender Faktor – der Motor, der die Veränderung schließlich in Gang bringt. Da ich sicher davon ausgehe, dass mindestens 99,99 Prozent der Menschen den Wunsch haben, dass wir die globale Krise bewältigen und den Klimawandel überleben, halte ich den Erfolg nicht nur für möglich. Wir haben eine rea-listische Chance, dass die Transformation erfolgreich gelingt. Nicht glatt und auf dem geraden, einfachen Weg. Umwege, kleine und große Krisen und heftige Konflikte werden sich nicht vermeiden lassen. Aber wenn immer mehr Menschen ein positives Verständnis von der Aufgabe entwickeln, dann schaffen wir es!


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