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Die Krise der EU und die Wahlen zum Europaparlament

Klaus Busch hat im Folgenden fünf Thesen zur Krise der EU und zur Bedeutung der Wahlen zum Europaparlament formuliert.

These 1: Die Krise der EU

Der europäische Integrationsprozess befindet sich zurzeit in der tiefsten Krise seit seinem Beginn Ende der 1950er Jahre.

Zeichen der Krise sind:

  1. Der Aufschwung des Rechtspopulismus, der mit einer Stärkung der Re-Nationalisierungstendenzen in vielen Mitgliedstaaten einhergeht. Ein wesentlicher Treiber dieses Trends ist die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU und der Eurozone nach der Großen Finanzkrise 2008/2009. Diese hat zwischen den Mitgliedstaaten die ökonomische Spaltung und innerhalb der Mitgliedstaaten die soziale Ungleichheit erheblich verstärkt.
  2. Das bisherige Scheitern, durch Reformen die Strukturdefizite des Euro zu überwinden, welche dieser seit seiner Einführung mit sich herumschleppt. Weder ist es bisher gelungen, durch eine europäische Koordinierung der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken das System der Wettbewerbsstaaten zu durchbrechen, das die Praxis des Lohn-, Sozial- und Steuerdumpings fördert. Noch konnten die 2012 von der Barroso-Kommission im Zuge der Eurokrise vorgeschlagenen Pläne verwirklicht werden, eine vom EP kontrollierte europäische Wirtschaftsregierung einzuführen, um die Wirtschafts- und Finanzpolitik besser europäisch abstimmen und Wirtschaftskrisen effektiver bekämpfen zu können. Die immer wieder vorgetragenen Vorschläge zur Einführung dieser fiskalpolitischen Stabilisierungsfunktion – zuletzt vehement von Emmanuel Macron – sind schließlich auf dem Euro-Gipfel im Dezember 2018 zu Grabe getragen worden. Die rechtspopulistische Kritik an der EU hat inzwischen in vielen Staaten (Hanseatischer Club!) auch die Parteien des Zentrums so stark affiziert, dass entscheidende Vertiefungsschritte der Integration abgeblockt werden, selbst wenn sie entscheidend zur wirtschaftspolitischen Stabilisierung von EU und Eurozone beitragen würden.
  3. Das Elend der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik, das sich darin äußert, dass einerseits alle Pläne für eine solidarische Aufnahme von Flüchtlingen in der EU von vor allem osteuropäischen Mitgliedstaaten immer wieder torpediert werden und andererseits der mehrdimensionale Bau an der Festung Europa immer inhumanere, ja, brutalere Züge annimmt. In vielen Mitgliedstaaten wird das Asylrecht in einer Art Dauerreformprozess immer weiter verschärft, und nach außen schirmt sich die EU durch vielfältige Maßnahmen vor den Flüchtlingen ab. Der größte Bruch des Völkerrechts sind jedoch das Rettungsschiff freie Mare Nostrum sowie das Bündnis der EU-Staaten mit dem Regime al-Sarraj in Libyen, das mit europäischen Geldern ausgestattet wird, um die Flüchtlinge durch die Inhaftierung in Lagern an der Flucht zu hindern. In diesen Lagern wird mit Wissen der EU vergewaltigt, gefoltert und gemordet. In den Mitgliedstaaten empören sich inzwischen nur noch Minderheiten über diese Praxis einer Staatengemeinschaft, die sich auf die Werte des christlichen Abendlandes zu gründen behauptet.
  4. Die Ohnmacht der EU im Umgang mit Mitgliedstaaten, die offen die Demokratie und den Rechtsstaat unterhöhlen durch eine staatliche Kontrolle der Medien und die Unterwerfung der Judikative unter die Exekutive. Die eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen und Ungarn erweisen sich wegen des Einstimmigkeitsprinzips letztlich als stumpfe Waffen. Das gleiche gilt für das Vorgehen der EU gegen Rumänien, wo selbst korrupteste Politiker durch Änderungen der Anti-Korruptionsgesetze quasi eine „carte blanche“ erhalten.

Diese vielfältigen Krisenerscheinungen sind Ausdruck eines schleichenden Selbstzerstörungsprozesses der EU. Dieser wird durch den ungewissen Ausgang des Brexits, dessen Chaos die EU bald in ihrem Inneren lähmen könnte, und die ungewissen politischen Entwicklungen in Italien komplettiert, wo eine unfähige populistische Regierung die Volkswirtschaft auf ein Desaster zutreibt.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Bedeutung den Wahlen zum EP Ende Mai zukommt.

These 2: Der Aufschwung des Rechtspopulismus im EP ist begrenzt

In Teilen der Öffentlichkeit und gerade auch in der linken Öffentlichkeit wird vor einem weiteren dramatischen Aufschwung des RP durch die EP-Wahlen gewarnt. Besorgnis erregt dabei auch der Versuch Salvinis, eine Europäische Allianz der Völker und Nationen zu gründen, die von sich behauptet, die stärkste Fraktion im EP bilden zu können.

Eine nüchterne Analyse der Wahlprognosen, die Anfang Mai vorliegen, relativiert diese Befürchtungen deutlich.

  1. Die beiden rechtspopulistischen Fraktionen im jetzigen EP, die ENF und die EFDD erreichen zusammen momentan 10,5% der Sitze. Nach den jüngsten Prognosen werden die Allianz Salvinis und die Gruppe um die M5S zusammen 12% erreichen, also einen leichten Zuwachs von 1,5 Prozentpunkten. Die dritte Gruppe „rechts von der Mitte“, die EKR, wird von jetzt 10% auf 8% absinken. Das gesamte „rechte Lager“ würde danach 2019 ebenso wie 2014 20% der Sitze erhalten. Auch eine Berücksichtigung der Gruppe der Fraktionslosen ändert nichts an diesem Bild. Diese umfasst heute ca. 10% der Sitze, einen Anteil, den sie auch aufgrund der Prognosen für 2019 erzielen kann. Schlägt man die Hälfte dieser Gruppe dem rechten Lager zu, läge deren Anteil wie bislang bei ca. 25%.
  2. Die Redeweise vom „rechten Lager“ übersieht, dass es innerhalb dieser Gruppe erhebliche politische Differenzen gibt. Die beiden Regierungsparteien in Italien, die Lega um Salvini, und die M5S um di Maio, liefern sich momentan heftigste politische Auseinandersetzungen. Beobachter erwarten nach den Wahlen einen Bruch der Regierung und eine neue rechte Regierung unter Salvini, unterstützt von der FI Berlusconis und den FdI Melonis. Im EP werden die Lega und die M5S vor diesem Hintergrund keine gemeinsame Fraktion bilden. Zwischen der AfD und der Lega, die in der Allianz der Rechten zusammen gehen wollen, gibt es in der Frage des italienischen Haushalts und der Verschuldung Südeuropas tiefgreifende Differenzen. Die AfD wird im sich im Herbst erneut anbahnenden Haushaltskonflikt zwischen Rom und Brüssel nicht auf die Seite Italiens stellen, im Gegenteil. Selbst in der Migrationsfrage, welche die Rechten am stärksten eint, gibt es Differenzen. Fordert doch Italien eine Übernahme von Flüchtlingen, die in Italien ankommen, durch die übrigen EU-Staaten, was von vielen dieser Länder – auch von möglichen Bündnispartnern Salvinis in Ungarn, Polen, Estland und Dänemark, strikt abgelehnt wird. Sollte die Flüchtlingsbewegung nach Italien wieder stärker zunehmen, würden diese Differenzen erneut aufflammen. Die enge Kooperation der Lega mit Putin stößt in vielen osteuropäischen Staaten auf heftige Kritik. Dies ist einer der Gründe, weshalb sich die polnische PIS nicht der Allianz Salvinis anschließen wird. Auch das Bündnis zwischen Orbon und Salvini ist mit Skepsis zu betrachten. Ungarn ist heute der drittgrößte Profiteur des EU-Haushalts. Sollte Orbon sich von der EVP trennen und in die Allianz antreten, wird dieser Geldregen der EU für Ungarn deutlich abschmelzen. Über die mittelfristige Finanzplanung der EU (2021-2017) wird gerade verhandelt. Der Rechtsschwenk Orbons im EP hätte auch zur Folge, dass das Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Ungarn mit einer größeren Härte ausgetragen würde als bislang. Orbon wird deshalb eher an der Praxis des Doppelspiels festhalten, einerseits der pro-europäischen EVP nahe zu stehen, andererseits die EU scharf zu attackieren, und immer wieder changierend – je nach politscher Lage und Kritik - die eine oder die andere Seite zu betonen. Konservative Parteien, wie die britische, die sich in der Gruppe EKR befinden, lehnen eine weitere Vertiefung der Integration ab und wollen die nationale Souveränität stärken. Diese punktuelle Übereinstimmung mit rechtspopulistischen Parteien bedeutet nicht, dass sie auch die antidemokratischen Tendenzen dieses Lagers am rechten Rand unterstützen. Insofern sollten die beiden rechtspopulistischen Fraktionen nicht leichtfertig mit der Fraktion EKR in „einen Topf“ geworfen werden.

Aus all diesen Gründen wird es nach den EP-Wahlen keine einheitliche und große Fraktion rechts von der Mitte geben. Der diesbezügliche „Alarmismus“ ist übertrieben. Er ist politisch auch schädlich, weil die Rechtspopulisten in der Öffentlichkeit damit erneut wesentlich stärker gemacht werden als sie tatsächlich sind.

These 3: EVP und S&D werden mit ALDE eine Koalition bilden

Die EVP und die S&D werden bei den Wahlen etliche Mandate verlieren. Sie werden zusammen nicht mehr eine Große Koalition im EP bilden können, sondern sind auf eine Zusammenarbeit mit den Wahlgewinnern, der liberalen ALDE, angewiesen. Diese profitiert vor allem durch ein Zusammengehen mit der Partei Macrons, der LREM. Für eine Koalition links der Mitte (S&D, ALDE und Grüne) wird es bei weitem nicht reichen. Insofern ist Katarina Barleys Ankündigung, nicht mehr mit der EVP koalieren zu wollen, reines Wahlkampfgerede.

Die neue Koalition ist aus integrationspolitischer Sicht eher als eine leichte Verbesserung zu betrachten, ist doch der Flügel um Guy Verhofstadt in der ALDE wesentlich pro-europäischer als viele Kräfte in der EVP. Durch die Kooperation mit Macrons LREM würden diese Strömungen noch weiter gestärkt werden.

Die Bildung der neuen Europäischen Kommission wird etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen als früher. Macron möchte Manfred Weber als Präsidenten verhindern, und hier wird es möglicherweise einen Kompromisskandidaten geben (Barnier? Lagarde?).

Auch die Benennung von einzelnen Kommissaren könnte sich in die Länge ziehen, da hier die Mitgliedstaaten faktisch ein Vorschlagsrecht haben und in vielen Staaten (Italien, Österreich, Ungarn, Polen, Estland, Dänemark) Rechtspopulisten jetzt Teil der Regierung sind (oder auf eine Tolerierung durch die RP angewiesen sind). Nach der Befragung der Kandidatinnen im EP könnte es wegen deren europaskeptischen Positionen zu ablehnenden Voten kommen, so dass neue Kandidatinnen vorgeschlagen werden müssten, weil das EP sonst seine Zustimmung zur gesamten Kommission verweigern könnte.

These 4: Die Fraktion der Grünen und der Linken werden mit nur leicht unveränderter Stärke ins neue Parlament einziehen

Nach den Umfragen vom 5. Mai würden die Grünen/EFA mit 56 Mandaten einen leichten Zuwachs um vier Sitze erzielen und die Fraktion der Linken GUE/NGL mit 49 Mandaten einen leichten Verlust von drei Sitzen erleiden.

Mit 14% der Sitze wären diese beiden Fraktionen des linken Spektrums nur leicht stärker als die beiden rechtspopulistischen Fraktionen mit zusammen 12% der Mandate.

These 5: Bekämpfung des Rechtspopulismus erfordert radikalen Politikumschwung

Zwar werden die Rechtspopulisten aufgrund der Prognosen im EP nur leicht an Zuwachs gewinnen, aber gleichzeitig verdeutlicht das erwartete Wahlergebnis, dass momentan weder auf der nationalstaatlichen noch auf der europäischen Ebene mit einem Politikumschwung zu rechnen ist, der dem Rechtspopulismus den Boden entziehen könnte.

Die entscheidenden Ursachen für den Aufschwung des Rechtspopulismus sind – wie in These 1 ausgeführt – in den nationalen wie europäischen ökonomischen und sozialen Ungleichgewichten zu sehen. Nur durch eine Politik des ökonomischen und sozialen Ausgleichs lässt sich deshalb der Rechtspopulismus an den Wurzeln bekämpfen.

Die wachsende Tendenz zu Rechtspopulismus und Nationalismus in Europa kann nur durch ein alternatives europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell überwunden werden. Die neoliberale Sparpolitiken und die rigiden Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen, die vor allem in den mediterranen Ländern verhängnisvolle sozialökonomische Auswirkungen hatten und in den meisten EU-Staaten die soziale Spaltung verschärft haben, müssen beendet werden. Die EU braucht eine Wirtschaftsregierung, die gemeinsame und asymmetrische Krisen bekämpfen kann. Diese Regierung muss eine ökologisch nachhaltige und beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik betreiben und mit Hilfe eines europäischen Investitionsprogramms die Überwindung der sozialökonomischen Spaltung in Europa in Angriff nehmen. Nach einer mehr als dreißigjährigen und weitgehend ergebnislosen Debatte über die soziale Dimension der Integration müssen endlich europäisch geregelte Mindestlöhne und europäisch koordinierte soziale Sicherungssysteme eingeführt werden, die den sozialen Fortschritt mit dem ökonomischen Entwicklungsniveau der Staaten Schritt halten lassen. In einem derartigen sozialökonomischen Umfeld hätten die Gewerkschaften beste Voraussetzungen für eine Re-Kollektivierung der Tarifbeziehungen und eine Wiederaufnahme der europäischen Koordinierung der Lohnpolitiken. Die heute immer stärker werdende Tendenz zum Irrationalismus in der europäischen Politik kann nur durch eine solidarische Wirtschafts- und Sozialpolitik überwunden werden, die sowohl die ökonomische und soziale Spaltung zwischen den Mitgliedstaaten als auch innerhalb der Staaten bekämpft.

Wie die Wahlen in vielen Mitgliedstaaten der EU in den letzten Jahren und wie die Wahlprognosen für das EP zeigen, fehlen für einen solchen Politikwechsel in der EU die Voraussetzungen. Der vom Rechtspopulismus ausgehende Rechtsruck, der auch die politische Mitte erfasst hat, und die damit einhergehende Re-Nationalisierungstendenz werden damit weiterhin die Politik in den Mitgliedstaaten und auf der Ebene der EU bestimmen. Auch wenn die rechtspopulistischen Fraktionen im nächsten Europaparlament nur im geringen Ausmaß zulegen werden, wird es deshalb bei den in These 1 beschriebenen Krisentendenzen in der EU bleiben, die auf Dauer den Integrationsprozess gefährden.


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