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Demokratie für morgen. Roadmap zur Rettung der Welt. Mit einem konkreten Entwurf für ein gerechtes Europa

Rezension zu Karl-Martin Hentschel: Demokratie für morgen. Roadmap zur Rettung der Welt. Mit einem konkreten Entwurf für ein gerechtes Europa

Karl-Martin Hentschel veröffentlicht zwar regelmäßig Artikel und Bücher, aber er ist vor allem ein politischer Praktiker. Er war Grüner Landtagsabgeordneter in Schleswig-Holstein, ist Mitglied im Bundesvorstand von Mehr Demokratie und aktiv in der AG Finanzmärkte und Steuern von Attac Deutschland, für die er auch im Vorstand des Netzwerks Steuergerechtigkeit sitzt. Wenn man die Liste der Danksagungen (S. 7) liest, begegnen einem zahlreiche politische Aktivist*innen aus vielen politischen Zusammenhängen. Der Autor ist also nicht nur selbst in diversen Politikfeldern aktiv, sondern auch allerbestens vernetzt.

Ich erwähne das deshalb, weil das ganze Buch davon geprägt ist. Karl-Martin Hentschel geht es darum, zu zeigen, dass für alle wichtigen Probleme und Herausforderungen, vor denen Politik aktuell steht, Lösungen da sind. Und damit meint er in der Regel nicht Ideen, sondern praktische Ansätze, Erfahrungen oder zumindest sehr lange, gründlich und von vielen durchgedachte Konzepte. Insofern sind die Begriffe „Roadmap“ und „konkreter Entwurf“ in den beiden Untertiteln des Buches durchaus wörtlich zu nehmen. „Am Mangel an Lösungen scheitert die Politik nicht. Und mehr noch: Für die meisten Lösungen gibt es auch bereits konkrete Beispiele, wo diese erfolgreich angewandt werden: Für Bildungspolitik in Finnland, für Umweltschutz in Japan, für Renten in den Niederlanden, für die Energiewende in Dänemark, für das Bahnsystem in der Schweiz, für die Kinderbetreuung in Frankreich, für ein Unternehmenssteuerrecht in Kanada.“ (S. 19f)

Nicht nur die Liste der Beispiele und Länder, auch die der besprochenen Themen ist beeindruckend. Es geht um Ungleichheit und Krieg, um Krise und Sozialstaat, um kommunale Steuerhoheit und alternative Wahlverfahren und immer wieder um Demokratie. Das meiste ist genau beobachtet, vieles ist klug auf andere Anwendungsmöglichkeiten übertragen und manchmal scheint Karl-Martin Hentschel selbst von seinem Bemühen, alle Felder abzudecken, so getrieben zu sein, dass man meint, seine Atomlosigkeit geradezu hören zu können. Immer wird deutlich, dass der Autor fest von der Notwendigkeit und der Sinnhaftigkeit demokratischer Bemühungen und demokratischer Regelungen überzeugt ist. Das muss man nicht in jedem Fall teilen und wird es auch nicht in jeder Einzelheit tun, etwa wenn die Grenzen des Wachstums und das Bevölkerungswachstum gleichzeitig erscheinen oder wenn er die „Schuldenbremse ... als Druckmittel“ sieht, mit dem „in den letzten Jahren trotz guter Einnahmen Steuersenkungen verhindert“ wurden (S. 142). Das klingt wie die Idee, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.

Aber die enge Verbindung, die Karl-Martin Hentschel zwischen funktionierender Demokratie und sozialer Gleichheit herstellt, ist gut begründet und belegt. Unter Bezug auf Richard Wilkinsons und Kate Pickets entsprechende Untersuchung („Gleichheit ist Glück“) argumentiert er: „Wenn Gesellschaften ungleicher werden, dann trägt das nicht zum Wohlbefinden bei. Wenn die Menschen – insbesondere ärmere Menschen oder Menschen mit Abstiegsängsten, die also besonderem sozialen Stress ausgesetzt sind – das Vertrauen in die Demokratie verlieren, dann kann man das nicht als subjektiv und unwichtig abtun und behaupten, dass es doch allen bessergeht. Offensichtlich erfüllt die Demokratie dann nicht die Erwartungen der Menschen von einer gerechten Gesellschaft.“ (S. 136) Dabei zielt er nicht auf die verlogene Migrationsdebatte, sondern auf die seit den 80er-Jahren massiv zunehmende soziale Ungleichheit in den Industrieländern und speziell in Deutschland.

Die Vorschläge für konkrete Gestaltung demokratischer Verhältnisse, auch für eine neue Verfassungsordnung Europas und erst recht für eine umfassende neue demokratische Weltordnung, werden dann so kleinteilig, dass sie zu würdigen den Rahmen einer Rezension überschreiten würde.

Spannend ist die Einschätzung des Autors über die Abläufe oder Phasen der Weltgeschichte. Ähnlich wie Immanuel Wallerstein, aber ohne sich irgendwie auf ihn oder überhaupt die Weltsystemtheorie zu beziehen, schreibt er: „Der Kapitalismus – die industrielle Wachstumsgesellschaft – geht zu Ende. Historisch war der Kapitalismus nichts weiter als eine 300jährige (!) expansive Übergangsphase von der alten Agrargesellschaft zur Postindustriegesellschaft – wie immer letztere aussehen wird.“ (S. 227) Und zum Übergang meint er: „Das Konzept der Singularitäten gilt übrigens auch für den Kampf um mehr Demokratie. Wir bekommen keine direkte Demokratie, weil wir noch lauter schreien. Wir bekommen kein demokratisches Europa, weil die Kommission einen juristisch perfekten Plan vorlegt. Es sind Ereignisse – Singularitäten – wie die missglückte Abstimmung über den Brexit, die plötzlich Millionen junge Menschen in der EU aufwecken und ihnen deutlich machen: So geht es nicht weiter. Und dann kommt es darauf an, ob Verbände, ob Politiker oder gar ganz neue Akteure da sind, die im richtigen Moment den richtigen Vorschlag machen, zu dem alle sagen: Ja – das ist es! Aber dazu müssen wir die Vorarbeit machen. Die Konzepte müssen vorher existieren.“ (S. 232)

Auch hier gilt wieder, dass niemand dieses Politikkonzept teilen muss. Es wird aber sehr deutlich, wie sich der Autor die gesellschaftliche Transformation vorstellt, und die Leser*innen können sehr gut einschätzen, woran sie sind. Insofern ist das Buch nicht nur eine umfassende Sammlung konkreter Lösungsvorschläge, sondern auch ein Angebot für und eine Aufforderung zu eine/r gemeinsame/n Praxis. Der konkreteste Vorschlag dazu ist „eine Kampagne für einen europäischen Verfassungskonvent“ (S. 266).

Das Buch enthält vieles, das erfahrene Aktivist*innen kennen werden, aber auch manche interessanten und neuen Verbindungen bisher isolierter Elemente. Es gibt einen guten Überblick über vielleicht realpolitisch machbare Dinge und anderswo breit akzeptierte Regulierungen. Es wird in all seinen detaillierten Einzelvorschlägen wahrscheinlich von kaum eineR Leser*in Zustimmung finden, aber jedeR wird etwas darin finden können.


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