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Das Grundgesetz verbietet die vorläufige CETA-Anwendung

Die vorläufige Anwendung nach EU-Recht unterscheidet sich wesentlich von dem herkömmlichen völkerrechtlichen Institut. Man könnte von einem Formenmißbrauch sprechen.

Als frühe Beispiele für vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge werden Friedensverträge (Vertrag von Osnabrück vom Oktober 1648), bilaterale Handels- und Wirtschaftsverträge, nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend auch multilaterale Abkommen, wie das GATT von 1947 oder das Abkommen über die europäische Zahlungsunion vom September 1950 genannt1.

Hauptgrund für die vorläufige Anwendung ist regelmäßig der, dass die in dem Vertrag geregelte Materie keinen Aufschub bis zur Ratifikation verträgt. Dies waren historisch zunächst Fälle, in denen die Entfernung zwischen den vertragsschließenden Parteien noch nicht durch moderne Nachrichtenübermittlung überbrückt werden konnten2; im 20. Jahrhundert stellte sich als neues Verzögerungsmoment das Mitwirkungsrecht der Parlamente heraus. Die vorläufige Anwendung führt einerseits zu einer ebenso schnellen Inkraftsetzung wie bei der sofortigen Ratifizierung, wie sie andererseits an der traditionellen Ratifizierung als Vertragsvoraussetzung festhält. „Die vorläufige Anwendung verbindet die Vorteile der Inkraftsetzung mit Unterzeichnung mit Vorteilen der Inkraftsetzung durch Ratifikation“3. Es ging also stets um die Abwägung zwischen dem Erfordernis alsbaldiger Fixierung des Vertragsinhalts und der Sicherung der innerstaatlichen Interessen, also auch der Entscheidungsfreiheit des Parlaments.

Die vorläufige Anwendung durch die Exekutive setzt, da sie ähnliche Wirkungen entfaltet wie das ratifizierte Abkommen, eine verfassungsrechtliche Ermächtigung voraus. In der Weimarer Republik wurden dazu gesetzliche Ermächtigungen erteilt, der für Wirtschaftsabkommen vorsah, diese nur „im Falle eines dringenden wirtschaftlichen Bedürfnisses …vorläufig, jedoch längstens für die Dauer von drei Monaten anzuwenden.“4. Für die BRD gibt es bisher wohl keine solche Ermächtigung5. Ein von der Bundesregierung im Jahre 1953 eingebrachter Gesetzentwurf, der sich daran anlehnte, wurde später nicht vom Bundestag verabschiedet6.


Exkurs: In der Praxis des Schweizer Außenministeriums ist Voraussetzung der v.A. eine „besondere Dringlichkeit“, bedarf also in jedem Fall einer Begründung. Das Parlament hat ein Vetorecht7. Die Exekutive der EU ist erst 1997 durch Art. 300 Abs. 2 des Vertrages von Amsterdam zur vorläufigen Anwendung ermächtigt worden. Die Neufassung diente u.a. der Vorbereitung der Osterweiterung der EU, und auch zu diesem Zweck der „Steigerung von Effizienz und Handlungsfähigkeit der EU durch Überprüfung ihrer Entscheidungsprozesse“8. In der Kommentierung von Carl Otto Lenz, bis 1997 Generalanwalt am EuGH, war die vorläufige Anwendung auch deshalb unproblematisch, da sie „ ein einseitiger Akt ist, der völkerrechtlich keine Bindungswirkungen auslöst9. Die heutige Praxis, die eine Vereinbarung und keine einseitige Erklärung der vorläufigen Anwendung vorsieht, geht damit über die Intention der Vorschrift hinaus. In Einzelfällen wurde allerdings auch früher von der vorläufigen Anwendung Gebrauch gemacht10. Die vorläufige Anwendung stand demnach traditionell u.a. unter folgenden Maßgaben:

  1. Sie erfordert eine besondere Dringlichkeit, die ein Zuwarten bis zur Ratifizierung nicht gestattet.
  2. Sie ist auf eine kurze Geltungsdauer angelegt11
  3. Sie muß jederzeit zu beenden sein, um unerwünschte Nebenfolgen kontrollieren zu können.
  4. Sie zeitigt keine irreversiblen Folgen.

Fazit: Die Praxis der Beschlüsse nach Art. 218 Abs. 5 AEUV, wie sie seit einigen Jahren von der EU praktiziert wird, entspricht nicht dem hergebrachten völkerrechtlichen Modell der vorläufigen Anwendung:
Die vorläufige Anwendung, die der Überbrückung der Ratifizierung in 28 Staaten dienen soll, was im Falle Südkorea beispielsweise fast 5 Jahre in Anspruch nahm, ist nicht auf kurze Dauer angelegt.Sie kann nicht sicherstellen, dass die vorläufige Anwendung keine irreversiblen Folgen nach sich zieht. Die wesentliche Voraussetzung, dass dieser vorläufige Zustand tatsächlich ein vorläufiger ist, nämlich die jederzeitige Rücknahmemöglichkeit, ist bereits wegen der komplizierten Herstellung einer qualifizierten Mehrheit nicht gegeben.
Wenn überhaupt, kann das Instrument nur bei Routineverträgen zulässig sein, die in der herkömmlichen Zuständigkeit der Exekutive liegen, und insbesondere keine Eingriffe in die staatliche und gesellschaftliche Ordnung befürchten lassen.
Abkommen wie TTIP/CETA sind jedoch auf „deep integration“ angelegt, d.h. auf eine langfristige Umgestaltung der Wirtschaftsverfassung und Gesellschaftsordnung. Dies sind (auch im Zeitraum des sog. vorläufigen Anwendung mögliche) Veränderungen, die sich später nicht ohne weiteres wieder korrigieren lassen dürften. Um trotzdem eine vorläufige Anwendung zu begründen, bedürfte es einer sorgfältigen Abwägung von Vor- und Nachteilen, die weit über den Hinweis auf die angebliche „Üblichkeit“ und einseitige Berücksichtigung der Beschleunigung des Verfahrens hinausgeht.
Da die BRD selbst Vertragspartner – für das gesamte Abkommen und nicht nur für einen Teil davon – ist, muß sie ihre Abwägung auch im Hinblick auf das GG durchführen. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG läßt wiederum eine vorläufige Anwendung ohne Parlamentsbeteiligung nicht zu12.

*Wilfried Pürsten ist pensionierter Verwaltungsjurist. Er war Referatsleiter beim BAKred. Er ist in der Berliner Attac-Arbeitsgruppe “noTTIP” engagiert.

Literatur

1

Krenzler, Die vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge, Diss 1963, S. 16 ff

2

Quadruple Alliance Vertrag zur Befriedung der Levante vom Juli 1840. Krenzler, S. 20

3

Krenzler S. 22

4

Gesetze vom 10. 7. 26 und 14. 7. 27 – Krenzler, Seite 114

5

so Krenzle 1963

6

Krenzler, S. 116 f

7

Praxisleitfaden für völkerrechtliche Verträge, Ausgabe 2015, Abschnitt III C c, Rdn. 53-55

8

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Vertrag von Amsterdam, Bonn, 1998, S.7 und 9, Regelung in Art. 300 Abs. 2 des EG-Vertrages, der Art. 228 EU-Vertrag ersetzt

9

Lenz/Müller-Ibold, EU- und EG-Vertrag, 4. Auflage 2006, Bundesanzeiger Verlag, Rdn. 33 zu Art. 300 EGV

10

Nettesheim/Lorenzmeier, Loseblatt-Kommentar, Rdn. 36 zu Art. 218 AEUV

11

vgl. Gesetzentwürfe 1926 und 1953, sowie Praxis in der Schweiz

12

Krenzler S. 143

 


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