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Covid-Kapitalismus, Soziale Reproduktion und Körper

Dieser Beitrag betrachtet die Corona Krise aus dem Blickwinkel sozialer Reproduktion. Dies geschieht nicht nur, weil die Pandemie wie keine Krise zuvor den Reproduktionsökonomie und Carearbeit sichtbar gemacht hat, sondern weil feministische politische Ökonomie und feministische politische Ökologie von der Logik von Reproduktion und Care her denken, was Konsequenzen für transformative Praktiken und Politiken hat (Biesecker/Wichterich/Winterfeld).

Soziale Reproduktion wird dabei als ein Mensch-Mensch-Verhältnis und als ein Mensch-Natur-Verhältnis begriffen, als System verwobener sozio-kultureller, ökonomischer und ökologischer Praktiken in unterschiedlichen politischen, patriarchalen und klassenbasierten Machtkonstellationen. Im Rahmen von attac geht es darum, polit-ökonomische und finanzpolitische Argumente mit reproduktionsökonomischen und sozial-ökologischen Diskursen zu verknüpfen. Das geschieht derzeit vor allem aus feministischer, post-kolonialer und anti-rassistischer Perspektive.

Covid19 hat das Mensch-Natur-Verhältnis neu justiert. Seit der Aufklärung streben im westlichen Denken gesellschaftliche Naturverhältnisse nach einer totalen Beherrschung der wilden, eigenwilligen Natur und nach ihrer Unterwerfung durch Wissenschaft und Technik, um die soziale Reproduktion und die Ökonomie zu sichern. Das Diktum „sich die Erde untertan machen“ bezieht sich zunächst auf Biosphären, Ressourcen und nicht-humane Spezies. Die lineare gesellschaftliche Fortschrittsfiktion hat sich im Ressourcenextraktivismus, der Industrialisierung der Land- und Viehwirtschaft und der Ökonomisierung von Umwelt zum Zweck schneller Verwertung gewaltförmig materialisiert. Resultat ist der fundamentale Widerspruch der kapitalistischen Wachstumsökonomie, dass sie ihre eigenen Grundlagen, die Quellen des Reichtums in der Natur und der menschlichen Arbeitskraft durch ständige Ausbeutung zerstört. Er löst hochgradig destruktive Effekte in der Umwelt und bei den nicht-menschlichen Arten aus, vom Klimawandel über das Artensterben und der Freisetzung von Viren. Aber auch im Care-Extraktivismus, der Überbelastung und Unterbezahlung von Gesundheitsarbeiter*innen. Darin tritt die biopolitische Machtausübung der Wachstumsökonomie über Leben und Tod im Foucaultschen Sinne zutage.

Die gesellschaftliche Herrschaftssehnsucht gegenüber allem Natürlichen bezieht sich ebenfalls auf Körper, die als eigene Natur wahrgenommene, sozial geformte Materialität, vor allem auf Gesundheit und Krankheit. Die zentralen Slogans der zweiten Frauenbewegungen „Mein Bauch gehört mir“ und „Our bodies. Ourselves.“ identifizieren die Aneignung des eigenen Körpers und die Kontrolle über Sexualität und Fortpflanzung als zentrales Emanzipationsprojekt. Allerdings warnten Maria Mies, Barbara Duden und Paula Villa stets vor dem unauflösbaren Dilemma von anti-patriarchaler Selbstbestimmung und dem Denken des Körpers als Rohstoff und Privateigentum.

Die Anforderung, den Körper als Humanressource zu nutzen, hat den frauenbewegten emanzipatorischen Anspruch neoliberal zur Selbstoptimierung durch Disziplinierung und Selbstregieren gewendet, von der gesunden Ernährung über Fitness Training bis zur Tracking-Uhr mit Menstruationskalender. Julie Zeh hat in ihrem Orwellschen Roman „Corpus Delicti“ diese Selbsttechnologien fortgeschrieben zu einem System, in dem die Individuen eigenverantwortlich dem Staat die Prävention und die Totalüberwachung abnehmen und perfekte Selbstsorge ganz im Dienste der Gemeinschaft betreiben: gesunde Individualkörper, gesunder Volkskörper. In der Covid19-Stuation ist Selbstdisziplinierung gefordert wie noch nie. Soziale Kontrolle bedeutet forcierte Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung von Körpern und Verhalten.

Totale Verunsicherung, vertiefte Spaltungen

Die Pandemie entzaubert alle Herrschaftsphantasien und ist ein Schock für individuelle Versicherungen gegen alle möglichen Risiken und Gefahren sowie für politische und militärische Konzepte von Versicherheitlichung. Die Natur schlägt eigensinnig und gewaltsam zurück, gegen die gesellschaftlichen Herrschaftsansprüche gegenüber der Natur und ganz konkret gegen die Körper. Leben ist und bleibt prekär und endlich; es ist abhängig von Natur und auf Konvivialität angewiesen. In der jetzt häufig benutzten maskulinen Kriegsmetapher ist das Territorium, das der Feind erobert, der individuelle Körper und über diesen der Volkskörper. Das Virus dringt in die Körper und die Gesellschaften ein, exponiert ihre Verletzbarkeit und zerstört sie. Das erzeugt ein Gefühl von Kontrollverlust, Verunsicherung und Verlustängste von Lebendigkeit, Todesängste. Autoritäre Regime von Indien bis Honduras nutzten diese Situation, um das staatliche Gewaltmonopol, die Militarisierung und Entdemokratisierung mit drakonischen Bewegungsbeschränkungen und Kontaktsperren sowie massiver Polizei- und Militärpräsenz voranzutreiben. Diese Maßnahmen sind Privilegiensicherung und Ausschluss zugleich sind, die soziale Gruppen und Klassen trennen und spalten. In Brasilien verfügte die Regierung im Windschatten von Covid19 die Brandrodung des Amazonasgebiets, auf den Philippinen und in Kambodscha werden mithilfe von Notstandsgesetzen zivilgesellschaftliche Räume und demokratische Rechte totalitaristisch kontrolliert und beschnitten. Gleichzeitig berichten Frauen, dass diese Formen von Ordnung und Sicherheit ihnen keinen Schutz bei den häufigen Fällen von sexualisierter Gewalt gewähren.

Derweil setzt sich die gesellschaftliche Herrschaftsfiktion fort in der Hoffnung auf das rettende Medikament, auf den Impfstoff, also wieder einmal auf die nun politisch stark aufgewerteten Wissenschaften, die täglich ihr aktuelles Nicht-Wissen demonstrieren. Die Bioökonomie ist allerdings auch dem herrschenden konzern- und auf schnelle Verwertung orientierten Handels- und Patentrecht und einer heftigen Konkurrenz auf dem Medizin- und Pharmaweltmarkt unterworfen. Die geld-darwinistische Verve, mit der Medikamente und Forschungsinstitute aufgekauft werden, kennt keine Gerechtigkeit und keine multilateralen Abkommen zu öffentlicher Gesundheit wie die Doha Erklärung der WTO von 2001.

Dabei erscheint das Virus auf den ersten Blick als sozialer Gleichmacher, der keine Klasse, Hautfarbe oder Geschlecht kennt. In ungleichen sozialen Verhältnissen, unterschiedlich ausgestatteten Gesundheitssystemen und unterschiedlichen Zugängen zu Daseinsvorsorge verschärft die Pandemie jedoch einmal mehr bestehende Bruchlinien und Spaltungen der Gesellschaften durch rassifizierte, ethnisierte, Gender- und Klassenstrukturen, aber auch zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Durch eine Intensivierung der Krisen sozialer Reproduktion und der Realwirtschaft wie auch der Krisen des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur steuert sie auf Kipppunkte der Gesellschaftlichkeit, der Umwelt, der Demokratie und Globalität hin.

Wie biopolitisch mit der Pandemie umgegangen wird, unterliegt der Deutungshoheit von Politik und Wissenschaft. Biopolitik ist die Macht, Risiko, Gefährdung und Verwundbarkeit zu definieren und vermittelt darüber Schutz, Privilegien, Ausgrenzung oder Triage zu organisieren. Körperlichkeit wird neu konzipiert, Alter als zentrales Merkmal der Gefährdung zugeschrieben, rassistisches Othering zur Kategorie der Schuldzuweisung und Ausgrenzung genutzt, die im Zuge der Globalisierung neu vermessenen Zeit- und Raumdimensionen sind gestutzt. Dabei werden Gesellschaften zur Herde in nationalstaatlichen Zäunen und Gehegen naturalisiert, um sie gegen die gefährlichen Anderen zu schützen. Die Nation wird als verletzbare Gemeinschaft neu konstruiert und gleichzeitig biopolitisch gespalten, indem (Über)Lebenschancen entlang von rassistischen, Gender und Klassenlinien ungleich verteilt werden.

Caring First

Krisendiskurse haben sich verschoben: die Pandemie hat die soziale Reproduktion, die Daseinsvorsorge und soziale Sicherungssysteme ins Zentrum gerückt, Bereiche, die derzeit als Fundamentalökonomie und soziale Infrastruktur diskutiert werden und durch Konzepte wie Infrastruktursozialismus/-kommunismus (Candeias; Streeck) an die Debatten über öffentliche Güter und Commons anschließen. Die Systemrelevanz der Reproduktionsökonomie, die bei allen früheren Krisen als unproduktiv, nicht wertschöpfend und als abgetrennt vom Produktionssektor und Finanzmarkt ausgeblendet wurde, ist nun im Alltagsleben und der Politik offensichtlich geworden. Systemrelevanz wurzelt in der unauflösbaren Verschränkung von Reproduktion und Produktion, denn ohne Sorgearbeit geht keine Erwerbsarbeit; die individuellen Marktsubjekte brauchen ein soziales Netz für die Reproduktion, das nicht-marktförmig organisiert ist. Der Staat stützt und reguliert Ehe und Leben mit Kindern als nicht-marktförmige Sphäre, z.B. durch „Ehe für alle“ und Adoptionsregeln. Allerdings wird dieses private Reproduktionsnetz durch bezahlte Care-Arbeit unter anderem in transnationalen Sorgeketten zunehmend ergänzt, während finanz- und spekulationswirtschaftliche Akteure den Gesundheits- und Pflegesektor penetrieren.

Dadurch gewann auch die aufgrund der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung immer noch hegemoniale Feminisierung von bezahlter und unbezahlter Care-Arbeit im Gesundheits- und Bildungssektor und Privathaushalten eloquente Anerkennung und wohlfeilen Applaus wie nie zuvor. Unübersehbar ist, dass Home office und die Refamiliarisierung von Kinderbetreuung und Schulbildung mit einer Retraditionalisierung von Geschlechterrollen einhergehen. Care wird einmal mehr privatisiert und feminisiert. Die Kernfamilie als Versorgungsinstanz erlebt von Deutschland bis China eine politisch geförderte Renaissance; Gleichzeitig wird die Figur der Mutter aufgewertet, während mit dem erhöhten Stress die Gewalt in dem intimen Raum wächst. In diesem Kontext revitalisiert die Bewegung Global Women’s Strike die alte Forderung nach Lohn für unbezahlte Hausarbeit, ein Akt symbolischer Politik, der die notwendige Aufwertung von Care-Arbeit an den monetären Tausch zurückbindet.

Corona intensiviert bestehende Prekarität und Vulnerabilitäten. Migrantische Altenbetreuerinnen in der 24-Stunden-Pflege in Privathaushalten, Care-Arbeiter*innen in Krankenhäusern und anderen Versorgungseinrichtungen, oder migrantische Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelindustrie wie auch personennahen Dienstleister*innen in Supermärkten, im Sanitär- und Müllsektor sind überwiegend hochgradig prekär beschäftigt. Migrantische Hausangestellte haben ihren Job verloren wie auch Millionen Texilarbeiter*nnen in den transnationalen Wertschöpfungsketten im globalen Süden durch die Deglobalisierung in Folge der Verlangsamung von Handel und Konsum im Westen. Covid 19 verursacht nicht ihre Verwundbarkeit, sondern verwandelt latente Formen in virulente.

Paradigmatisch steht das Gesundheitswesen dafür, wie in den vergangenen Jahrzehnten Care-Arbeit der betriebswirtschaftlichen Logik von Effizienz und Konkurrenz und der neoliberalen Spardoktrin untergeordnet wurde, statt sie am Gemeinwohl, den Bedürfnissen und Rechten der Patient*innen zu orientieren. Die Auslöser für die nicht erst jetzt offensichtlichen alarmierenden Systemmängel des Gesundheitswesens sind das Fallpauschalensystem, das Krankenhaussterben durch Reduktion der Klinik- und Bettenanzahl, der Notstand an Pflegepersonal und seine völlige Überlastung sowie die Produktion von Medikamenten und Medizintechnik dort, wo die Herstellung am preisgünstigsten ist. Kapazitäten für Notfälle werden nicht vorgehalten, denn sie gelten als wirtschaftlicher Verlust. Die Quantität medizinischer Leistungen bringt Gewinn, nicht die Qualität, was zu der beklagten Verdichtung von Arbeit bis zum Burn out der Körper führt. Die völlig erschöpfte Krankenschwester, die sich wegen fehlender Gesichtsmasken und Schutzbekleidung ansteckt und erkrankt, ist zum Sinnbild von Care-Extraktivismus und dieses fehlgesteuerten Versorgungssystems im Ausnahmezustand geworden. Triage ist durch die Systemmängel strukturell eingeschrieben. Als Gesundheitsminister Spahn kürzlich eine Hymne auf die Held*innen des Alltags vor einem Krankenhaus sang, schob eine Krankenschwester ein Plakat vor die Kameras: „Löhne rauf, Konzerne raus“. Spahn ist entschlossen, am Fallpauschalensystem festzuhalten. International gilt auf den Gesundheitsmärkten, dass medizinische Grundversorgung und Vorsorge unprofitabel sind und folglich von privaten Trägern nicht (gern) übernommen werden, während öffentliche Einrichtungen durch Austeritätspolitiken finanziell ausgehungert sind. Die feministische Ökonomin Tithi Batthacharya spitzt dieses System zum „Covid Kapitalismus“ zu, der stets schnelle Profite über Leben stellt.

Die symbolische Aufwertung durch Klatschmarsch ist billig. Um soziale Reproduktion, die Gesundheit von Körpern und auch ein Leben mit Krankheit im Normal- und im Ausnahmefall zu gewährleisten, ist ein Paradigmenwechsel in der Daseinsvorsorge vonnöten, der auf einer Logik des Sich-Kümmerns und der Sorge beruht. Die Krise ist nicht zu überwinden, indem Körper, soziales Leben und Wirtschaft wieder wie Maschinen „hochgefahren“ werden.

Modell für einen demokratisch von unten getriebenen Richtungswechsel kann das Bündnis von Beschäftigten der Charité mit Patient*innen und Berliner Bürger*innen sein, um Reproduktionsinstitutionen zu entprivatisieren, zu entkommodifizieren und sozial zu remoralisieren. So könnten die Systemfehler des Gesundheitswesens und der herrschende Care-Extraktivismus zu Treibern für Praktiken und Debatten solidarischer Gesellschaftsentwürfe für ein gutes Leben für alle werden. Diese Care-Räte (Winker) könnten ähnlich wie lokale und regionale Klimaräte, Landwirtschafts- und Ernährungsräte oder Mobilitäts- und Verkehrsräte ökonomische Transitionen, Konversionen und sozial-ökologische Transformation organisieren. Das wäre Aneignung als doppelte Commons: als gemeinwohlorientierte, öffentliche Güter und als solidarisierungsfähiges Gemeinsames verschiedener sozialer Bewegungen.


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