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Corona und der demokratische Rechtsstaat

Untersucht wird die Frage, ob und inwieweit Rechtsstaat und Demokratie durch die Corona-Beschränkungen, von denen fast alle Grundrechte betroffen sind, in Gefahr sind. Entwickelt wird eine differenzierte Position, in der unterschiedliche Aspekte und Mechanismen beleuchtet werden. Eine Gefahr besteht vor allem für die Demokratie, weil sich die Exekutive über Generalklauseln weitgehende Befugnisse aneignet und sich die Gesellschaft an eine Entmachtung der Parlamente gewöhnen könnte.

Corona und Fake News

„Die Demokratie ist in Gefahr! Wir wollen unsere Freiheit wieder! Merkel muss weg! Spahn ist ein Verbrecher!“ – solche und ähnliche Statements kursieren in den „sozialen“ Netzwerken und brachten Ende August 2020 immerhin mehrere 10.000 Leute dazu, in Berlin gegen die Bundesregierung und die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Es traf sich ein buntes Völkchen aus Impfgegnern, Esoterikern, Aussteigern und handfesten Neonazis, die ihre Chance sahen, ihre Basis zu verbreitern und neue Mitläufer zu rekrutieren. Die Bilder in den Medien wurden dominiert von einem Häufchen Rechtsradikaler mit Reichskriegsflagge und ähnlichen Symbolen, die auf den Treppen vor dem Reichstag standen. Nun muss man nicht ausgerechnet den Reichstag für ein Symbol fortgeschrittener Demokratie halten – stand er doch mindestens einmal für deren Niedergang. Trotzdem konnte man als aufgeklärter Mensch und Demokrat doch einigermaßen erschreckt sein und sich wundern, das halbwegs sympathisch erscheinende Menschen nichts dabei fanden, mit diesen Jüngern der deutschen Massenmörder gemeinsame Sache zu machen. Aber natürlich waren nicht alle Teilnehmer der sogenannten Querdenker-Demonstration Neonazis. Und natürlich sind die staatlichen Maßnahmen gegen Corona mit empfindlichen Grundrechtseinschränkungen verbunden, die gründlich zu diskutieren sind und die man an der ein oder anderen Stelle auch kritisieren kann und muss.

Bevor man die Einschränkungen von Grundrechten, Gefahren für Rechtsstaat und Demokratie erläutert, muss man jedoch eine Voraussetzung klären, die von einer lautstarken Minderheit bestritten wird, nämlich die Existenz und/ oder Gefährlichkeit des Corona-Virus. Ich bin kein Ingenieur oder Mechatroniker und kann mich nur darauf verlassen, dass diese das ordentlich gearbeitet haben, wenn ich in eine Auto steige und auf 100 km/h beschleunige. Ich bin kein Statiker und kein Architekt und kann mich, wenn ich über den Nordostseekanal fahre, nur darauf verlassen, dass die Standfestigkeit der Brücke richtig berechnet wurde. Ich bin kein Computer-Spezialist oder Programmierer und kann mich nur darauf verlassen, dass ein Programm, welches ich erworben habe, die Funktionen ausführt, die angegeben wurden und dass meine Daten nicht direkt an Apple oder die NSA gesendet werden. Wenn ich in einen Zug steige, vertraue ich darauf, dass die Gleisanlagen und der Zug so gebaut wurden, dass er mit über 200 Stundenkilometer durch die Landschaft rasen kann. Kurz: Wir müssen im Alltag ständig auf Expertenwissen vertrauen und sind allenfalls in einem kleinen Teilbereich selber Experten. Abstrakter formuliert: In einer komplexen, technisierten Gesellschaft muss man sich auf die Fähigkeiten und das Wissen anderer verlassen, um sich im Alltag bewegen zu können. Das schließt kritisches Nachfragen und unterschiedliche Bewertungen auf der Grundlage dieses Wissens nicht aus, sondern erfordert sie geradezu.

Nur bei Fußball und Covid-19 scheint das anders zu sein; in diesen Fragen sind ALLE Experten oder geben dieses jedenfalls vor. Beim Fußball ist das ganz lustig. Unverständlich ist es jedoch, wenn Lehrer, Eisenbahnerinnen oder Verkäufer sich als Virologen gerieren oder die Existenz des Virus schlicht leugnen.

Und natürlich kann man über die Wege streiten, mit denen man diesem Virus begegnet. Aber wenn Mediziner und Virologen erklären, dass der Virus existiert und abhängig von Risikogruppen tödlich sein kann; wenn sie feststellen, dass auch Genesene mit langfristigen Folgewirkungen rechnen müssen, so kann man auf dieses Expertenwissen nur genauso vertrauen wie auf das der Ingenieure, Architekten oder Programmierer. Man kann Daten und Fakten, die inzwischen bekannt geworden sind, auch auswerten und bewerten, wenn man medizinischer Laie ist und man soll das in einer Demokratie auch, aber es ist ziemlich sinnlos, diese Daten zu leugnen und sämtlichen Angaben, die weltweit – aus so unterschiedlichen Ländern wie China, den USA, Schweden, Holland oder Italien – öffentlich werden, zu misstrauen.

Und natürlich sind Wissenschaftler nicht immer einer Meinung – und das ist gut so! Es ist sogar grundrechtlich mit der Freiheit der Wissenschaft garantiert – auch wenn einige Fakultäten die Bedeutung des Dissenses für den Erkenntnisfortschritt nicht begriffen haben. Und sicher hat die Mehrheit nicht immer recht oder ist die Wahrheit nicht zwingend auf der Seite der Mehrheit oder wie Juristen ungeniert sagen: der herrschenden Meinung. Man denke an Kopernikus oder Galilei. Sie behielten gegen die übergroße Mehrheit recht, standen auf Seiten der Wahrheit. Aber dieses Urteil kann ich wiederum nicht auf der Grundlage eigener Erkenntnisse oder gar Anschauungen fällen, sondern nur auf der Grundlage von Vertrauen in den gegenwärtigen Konsens der Astronomie. Ich kann nur versuchen, deren Ergebnisse und Argumente nachzuvollziehen.

Einige statistische Überlegungen

Wenn über Maßnahmen und Grundrechtseinschränkungen in einem demokratischen Prozess diskutiert wird oder wenn Richterinnen über die Rechtmäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen befinden, dann entscheiden medizinische Laien. Sie entscheiden über den gesellschaftlichen Umgang, wägen Rechtsgüter auf der Grundlage von Wissen ab, das die Mediziner zur Verfügung stellen und das man durchaus auch auf Plausibilität prüfen kann. Vor diesem Hintergrund erlaube ich mir hier eine kurze Einschätzung der Gefährlichkeit von Covid-19 anhand der Fakten, die Experten geliefert haben.

Um die Gefährlichkeit zu bewerten, ist m. E. nicht die Zahl der Infizierten oder die Ansteckungsrate interessant, sondern die Zahl der an Corona gestorbenen Menschen. Die, so sagen uns die Mediziner, sei allerdings schwer feststellbar, weil die Todesursache selten eindeutig ist und oft mehrere Faktoren zusammenwirken. Folglich sind kluge Statistiker auf den Gedanken gekommen, die sog. Übersterblichkeit zu messen, also festzustellen, ob mit Corona mehr Menschen gestorben sind als in den vergangenen Jahren ohne die Krankheit. Das Ergebnis wird für Deutschland so zusammengefasst: „Im Moment sind die Zahlen bis zum 2. August 2020 darstellbar. Im März 2020 ist bei einer monatsweisen Betrachtung kein auffälliger Anstieg der Sterbefallzahlen im Vergleich zu den Vorjahren erkennbar. Im April lagen die Sterbefallzahlen allerdings deutlich über dem Durchschnitt der Vorjahre; seit Anfang Mai bewegen sich die Sterbefallzahlen wieder etwa im Durchschnitt.“ Damit ist nicht viel geklärt, weil die geringe Übersterblichkeit ja auf die Beschränkungen in Deutschland zurückgeführt werden könnten. Also muss man andere Länder vergleichen. Großbritannien hat zunächst eine andere Strategie verfolgt und keine Beschränkungen angeordnet. Die Übersterblichkeit unterscheidet sich – wie die Abbildung zeigt – deutlich von derjenigen in Deutschland:

Grafik muss noch eingefügt werden!

Die Strategie der Herdenimmunisierung, die darauf setzte, dass genesene Covid-19-Patienten immun werden und andere nicht mehr anstecken können, hat zu einer deutlichen Übersterblichkeit geführt, sodass die Regierung in Großbritannien gezwungen war, die Strategie zu wechseln. Das Problem der Herdenimmunität scheint auch zu sein, dass keineswegs ausgemacht ist, wie lange man als Genesene immun bleibt – in dieser Hinsicht ähnelt die Krankheit offenbar eher der Grippe als den Masern. Anders sehen die Ergebnisse für Schweden aus, aber die Bevölkerungsdichte Schwedens ist nicht mit der in der BRD zu vergleichen – den niedrigsten Stand an Corona-Fällen meldet beständig Mecklenburg-Vorpommern, das auch die geringste Bevölkerungsdichte aufweist. So ist der Vergleich mit England wohl angemessen. Kurz: Das Virus existiert und stellt, folgt man dieser Überlegung, eine Gefahr für die Gesundheit dar – was ja 90 % der Menschen auch gar nicht bestreiten.

Das heißt nicht, dass alle medizinischen Fragen zu den Ursachen, den Infektionswegen oder den Schutzmaßnahmen gegen Corona geklärt sind. Es bestehen viele Unklarheiten und Ungewissheiten. Das heißt Entscheidungsträger müssen – in diesem wie in vielen anderen Fällen – unter Ungewissheit entscheiden, was die Sache nicht leichter und natürlich angreifbar macht. Um es mit Karl Valentin zu sagen: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“

Völlig unerheblich für die Frage, wie man politisch mit dem Virus umgeht, ist übrigens die Frage, woher es kommt, also die Frage, ob es natürlich entstanden ist oder etwa gezüchtet wurde und dann versehentlich freigesetzt wurde. Das ist dann eine Frage der Geheimdienste und skrupelloser Militärstrategen, allerdings keine von Bill Gates – der muss sich eher mit anderen Viren beschäftigen.

Politik – Wie wollen wir leben?

Mit der Feststellung, dass das Corona-Virus eine erhebliche Gesundheitsgefahr darstellt, ist keineswegs geklärt, wie die Gesellschaft auf das Virus reagieren soll. Diese Frage muss im politischen Prozess geklärt werden. Politik sollte man definieren als gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Frage „Wie wollen wir leben?“. Es ist eben eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, in der verschiedene Meinungen vertreten werden sollen, um ein gutes Ergebnis für alle zu erzielen – Politik und erst recht Demokratie ist keineswegs nur eine Frage der professionellen Politiker.

So gehört eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um die richtige Strategie im Umgang mit einer Pandemie zweifelsohne in eine demokratische Gesellschaft. Dieser Diskurs fand allerdings im Umgang mit Corona im Grunde nicht statt. Die Virologen lieferten nicht nur das Faktenwissen, auf dessen Grundlage Wertungen möglich sind und hätten diskutiert werden können. Die Virologen gaben gleichzeitig vor, wie mit der Krankheit zu verfahren ist. Eine wirkliche gesellschaftliche Diskussion oder auch nur ernst zu nehmende politische Diskurse fielen weitgehend aus.

Diskutiert wurde kurz die Variante der schon angesprochenen Herdenimmunisierung, die aber recht schnell verworfen wurde, was angesichts der Entwicklungen in Ländern, die diesen Weg einschlugen oder wie Brasilien und die USA zunächst jegliche Gefahr leugneten, wohl der richtige Weg gewesen ist. Einzelmaßnahmen innerhalb der „chinesischen“ Strategie, die mehr oder weniger komplett übernommen wurde, waren nicht Gegenstand einer politischen Diskussion, sondern wurden von den Gerichten kassiert, was noch zu zeigen ist. Die Gerichte haben das gemacht, was vorher in Gesellschaft und Politik hätte stattfinden müssen, nämlich Vor- und Nachteile, Gefahr und Wirkung der Gegenmaßnahmen abzuwägen. Die Politik ist hier weitgehend ausgefallen und wurde nur gegen Ende des Lockdowns zu einem Schönheitswettbewerb zwischen Söder und Laschet, aber nicht zu einer ernsthaften Diskussion darüber, was nötig und was eher überflüssig ist.

Nun lässt sich einwenden, dass die Pandemie schnelle Antworten nötig machte und eine doch behäbige demokratische Diskussion über den richtigen Weg zu langsam gewesen wäre. Das Argument zieht aber nur, wenn man davon ausging, dass Corona auf China beschränkt bleiben würde, was bei allgemeiner Globalisierungseuphorie nicht wahrscheinlich war. Bekannt war das Problem in China spätestens im Dezember 2019. So hätten vier Monate bis zum Après-Ski Infektionsdesaster in Ischgl für eine Strategiediskussion genutzt werden können – wurden sie aber nicht. Sicher war schnelles Reagieren nötig, aber gleichzeitig wurde die Zeit für eine gesellschaftliche Diskussion verplempert, was ein schlechtes Zeichen für eine Demokratie ist.

Diskutiert wurde auch eine Variante, die man etwas zynisch auf den Punkt bringen kann: Lasst sie doch verrecken – es erwischt eh nur die Alten und Kranken. Schäuble argumentierte – nur etwas freundlicher formuliert – in diese Richtung.

In einem rechtsstaatlichen und parlamentarischen System, wie es in der Bundesrepublik und Westeuropa existiert ‒ ich nenne es kurz liberale Demokratie ‒ gibt es bestimmte Regeln und Voraussetzungen, unter denen politische Diskussionen stattfinden und an denen sich die Prozesse und Entscheidungen messen lassen müssen. Eine dieser Regeln verpflichtet den Staat zum Schutz von Grundrechten u. a. zum Schutz von Leben und menschlicher Würde. Und der Schutz der Menschenwürde verbietet es, so das BVerfG immer wieder, ein Leben gegen ein anderes auszuspielen oder gar ein möglicherweise nur noch kurzes Leben mit anderen Rechtsgütern, wie beispielsweise der Handlungsfreiheit, abzuwägen. Kurz: Die frühkapitalistische Strategie des „survival of the fittest“ ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

Umgekehrt: Wenn politische Entscheidungen an Grundrechte gebunden sind, heißt das auch: wo in Grundrechte eingegriffen wird, ist das zu rechtfertigen. Weiter müssen demokratische Verfahren eingehalten werden, was vor allem heißt, dass wichtige Entscheidungen von den Parlamenten getroffen werden. Schließlich gibt es Prinzipien für den Umgang mit Gefahren, das Vorsorgeprinzip.

Eingriff in Grundrechte

Beginnen wir mit dem Anschaulichstem – den Eingriffen in die Grundrechte. Mit dem Lockdown, aber auch mit folgenden Maßnahmen wurden beinahe in alle Grundrechte eingegriffen, die unsere Verfassung garantiert. Maskenpflicht, Quarantäneanordnung, Feier- oder Reiseverbote beeinträchtigen die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG). Eingeschränkt wurde die informationelle Selbstbestimmung oder das Datenschutzrecht (Art. 1 I und 2 I). Mit dem Verbot von Gottesdiensten ist die Religionsfreiheit betroffen (Art. 4). Betroffen waren die Freiheit der Hochschullehre, weil die Unis schlicht geschlossen blieben und die Kunstfreiheit, weil Großveranstaltungen verboten waren oder sind (Art. 5). Eingeschränkt wurde durch Demonstrationsverbote und Auflagen die Versammlungsfreiheit (Art. 8) und mittelbar damit auch die Vereinigungsfreiheit (Art. 9). Beschränkt wird die Berufsfreiheit nicht nur für Gastronomen und Händler (Art. 12) und auch die Eigentumsfreiheit, etwa wo Mieten gestundet wurden. Das Betreten von Betriebsgelände oder Wohnungen ist mit einer Beschränkung der Unverletzlichkeit der Wohnung verbunden (Art. 13). Diskutiert wurde schließlich die Einschränkung der Freiheit von Arbeitszwang (Art. 12a). Bei letzterem hat der Diskurs übrigens gewirkt: Die Landesregierung NRW verzichtete darauf eine Arbeitspflicht für medizinische Berufe in ein Landesgesetz zu schreiben, u. a. weil Juristinnen einen Verstoß gegen Art. 12a GG attestiert hatten.

Die Einschränkung von Grundrechten ist dann zulässig, wenn bei einer Abwägung mit dem Ziel der Einschränkung das Ziel oder entgegenstehende Rechtsgut höher zu gewichten ist. Geprüft wird dies am Maßstab der Verhältnismäßigkeit der Einschränkung. Das Ziel ist die Eindämmung des Corona-Virus oder der Schutz von Leben und Gesundheit anderer Menschen. Man ahnt, dass dies ein hohes Rechtsgut ist, das auf der Waagschale der Justitia stärker ins Gewicht fällt, als reine Unannehmlichkeiten wie etwa das Tragen von Masken beim Einkauf.

Kein Argument ist es, in diesem Kontext darauf zu verweisen, dass der Staat an anderer Stelle seiner Schutzpflicht nicht nachkommt und etwa jährlich 3000 Verkehrstote in Kauf nimmt, um die automobile Gesellschaft zu ermöglichen. Erstens stimmt das Argument nicht grundsätzlich, denn durch Geschwindigkeitsbegrenzungen, Promillegrenze usw. wird versucht, Verkehrstote zu vermeiden. Gestritten werden kann nur über die Frage, ob das ausreichend ist, ob nicht etwa eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen erforderlich ist oder ob nicht zwingend deutlich sicherere Radwege gebaut werden müssten. Zweitens ist die Aufforderung, der Staat solle seine Schutzpflicht vernachlässigen, weil das anderswo auch geschieht, nicht überzeugend und rechtlich unzulässig. Kein Argument ist es auch, dass man sich doch selbst gefährden dürfe. Das darf man, aber es werden eben auch andere gefährdet, die gesundheitlich möglicherweise deutlich schlechter aufgestellt sind.

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung fragen Gerichte allerdings auch, ob die Maßnahme überhaupt geeignet ist, das Ziel zu erreichen und ob keine Mittel zur Verfügung stehen, die weniger tief in das Grundrecht eingreifen. Und hier haben die Gerichte im letzten halben Jahr an vielen Stellen Bedenken angemeldet und Anordnungen wieder aufgehoben. Nun können hier nicht alle Verbote und Grundrechtsbeschränkungen auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft werden, schon weil die Grundrechte selbst unterschiedlich stark zu gewichten sind – die allgemeine Handlungsfreiheit etwa niedriger als die Berufsfreiheit. Es muss der Hinweis auf einige Beispiel ausreichen.

Das BVerfG hat grundsätzliche Demonstrationsverbote wegen Corona für verfassungswidrig erklärt, den Behörden aber ein Ermessen eingeräumt, Versammlungen nur unter bestimmten Auflagen (z. B. Maske und Abstand) zuzulassen (BVerfG, Beschluss vom 15. April 2020, Az.:1 BvR 828/20).

Dann hat das Verfassungsgericht Anträge abgelehnt, die bayerische Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen und über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie außer Kraft zu setzen. Die Gefahren für Leib und Leben wogen nach Auffassung der Verfassungsrichter schwerer als die Einschränkungen der persönlichen Freiheit. Zwar würden die angegriffenen Maßnahmen die Grundrechte der Menschen erheblich beschränken. Gemeint sind Regelungen, die vorschrieben, den unmittelbaren körperlichen Kontakt und weithin auch die reale Begegnung einzuschränken oder ganz zu unterlassen; die eigene Wohnung nicht ohne bestimmte Gründe zu verlassen und den Betrieb von Begegnungsstätten aller Art vorübergehend einzustellen. Aber der Schutz von Leben und Gesundheit sei vorrangig (BVerfG, Beschluss vom 07. April 2020, 1 BvR 755/20).

Umgekehrt wurde auch dem Antrag eines Klägers nicht stattgegeben, der gegen die Lockerungen der Corona-Maßnahmen geklagt hatte. Zwar sei dem Recht auf Leben und Gesundheit ein hoher Stellenwert einzuräumen. Doch komme dem Gesetzgeber bei der Frage, wie hoch die Gefahren sind und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Daher könne das Bundesverfassungsgericht die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn überhaupt nichts getan wird, wenn Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. Das allerdings könne das Gericht auch bei den gelockerten Maßnahmen nicht feststellen (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2020, Beschluss vom 13. Mai 2020, 1 BvR 1027/20).

Mit letzterem ist ein wichtiger Grundsatz und ein Problem angesprochen. Das Problem bezieht sich auf die – schon angesprochene – Frage, wie unter Ungewissheit zu entscheiden ist. In Europa hat man sich in einem längeren Prozess ein Konsens entwickelt, wie mit Ungewissheiten umzugehen ist. Entscheidungsleitend ist in solchen Fällen das Vorsorgeprinzip. Für den Fall, dass Kausalitäten, Eintrittswahrscheinlichkeit, Wirkung oder Dimension einer Gefahr noch nicht exakt erforscht sind, hat sich der Grundsatz entwickelt, dass solche Ungewissheiten zu Vorsorgemaßnahmen berechtigen. Bekannt ist das aus dem Umweltschutz: Wenn unklar ist, welche Folgen genetische Veränderungen hervorrufen, müssen eben entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden. Wenn unklar ist, ob ein chemischer Stoff Gesundheitsgefahren hervorruft, dann kann er verboten oder nur unter Auflagen und Bedingungen genehmigt werden. Das Vorsorgeprinzip ist in Art. 20a GG für die Umwelt explizit verankert und sollte auch bei Entscheidungen über den Umgang mit Krankheiten oder Pandemien einen Anhaltspunkt liefern, wie zu entscheiden ist.

Dann muss diskutiert werden, wer bei Entscheidungen unter Ungewissheit das erste Zugriffsrecht auf die Einschätzung der Gefahren und der Wirksamkeit der Maßnahmen hat. Das BVerfG hat sich hier zurecht zurückgehalten und dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative eingeräumt, denn dieser ist demokratisch gewählt. Gerichte überdehnen ihre Kontrollbefugnis in einer Demokratie, wenn sie bei Ungewissheit ihren Wertungen umstandslos den Vorrang gegenüber denjenigen des Gesetzgebers geben. Gerichte sind eben nur höchst mittelbar legitimiert.

Dennoch gibt es einen bunten Reigen von Urteilen, in denen Verwaltungsgerichte die Maßnahmen der Exekutive aufhoben oder eben auch bestätigten. Bekannt ist, dass das OVG Berlin die Demonstration der „Querdenker“, also der Corona-Skeptiker gegen das Verbot des Senats zuließ. Wundern konnte man sich darüber, dass die Polizei darauf verzichtete Abstands- und Maskenpflicht durchzusetzen – beim Maskenverbot anlässlich der G20-Demo in Hamburg 2017 agierte die Polizei weniger zimperlich.

In Regensburg erklärte das VG die Schließung einer Konservenfabrik für unzulässig. Das OVG Münster hob den generellen Lockdown nach dem Infektionsgeschehen in der Fleischfabrik Tönnies schließlich auf. Nach dem Corona-Ausbruch im Schlachtbetrieb seien besondere Maßnahmen des Infektionsschutzes notwendig und gerechtfertigt gewesen. Später hätte aber eine differenziertere Regelung ergehen müssen, da die verschiedenen Städte und Gemeinden im Kreis unterschiedlich hohe Infektionszahlen aufwiesen. Ein genereller Lockdown sei nicht mehr verhältnismäßig.

In die Rubrik „Das Leben ist bunt“ passt die Entscheidung des OVG Münster vom 8.9.2020, die das grundsätzliche Verbot der Prostitution in NRW für rechtswidrig erklärte. Gleichzeitig empfahl das Gericht Hygienekonzepte. „Den Infektionsgefahren bei der Erbringung sexueller Dienstleistungen könne durch begleitende Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen begegnet werden. Dass Infektionsschutzkonzepte regelmäßig nicht umgesetzt werden könnten, sei nicht feststellbar.“ Kurz: Vögeln mit Maske ist erlaubt. Im Juni noch hatte das OVG die Stilllegung von Bordellen usw. für rechtmäßig gehalten. (Eine schöne Übersicht über Urteile zu Corona-Maßnahmen ist hier zu finden: https://www.fgvw.de/covid-19/gerichtliche-entscheidungen-in-bezug-auf-die-corona-pandemie)

Die Urteile lassen sich weder in dem Sinne zusammenfassen, dass die Gerichte behördliche Anordnungen grundsätzlich aufheben, noch dass diese grundsätzlich bestätigt werden. Es kommt auf den Einzelfall an, auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens und den Fortschritt der medizinischen Erkenntnisse. All dies fließt in die Überlegungen der Gerichte ebenso ein, wie ihre Selbstbeschränkung, die angesichts von Ungewissheit und der Einschätzungsprärogative von Gesetzgeber und Regierung geboten ist. Die Corona-Maßnahmen werden mal aufgehoben, mal bestätigt. Das heißt aber im Ergebnis: Der Rechtsstaat funktioniert an dieser Stelle gar nicht schlecht. Ein Abgesang auf den Rechtsstaat, weil Grundrechte beliebig eingeschränkt werden, passt nicht zu den tatsächlichen Ereignissen.

Andere Maßnahmen wurden allerdings nicht Gegenstand gerichtlicher Kontrolle, sondern liefen einfach so durch. Erklärungsbedürftig ist z. B. die Verletzung von EU-Recht durch die Schließung der Grenzen. Einreiseverbote von EU-Ausländern könnte man noch rechtfertigen bei unterschiedlichen Corona-Strategien der Staaten – also z. B. von Schweden und zunächst Großbritannien. Aber wieso Kontakte eines Baden-Württembergers zu einer Französin gefährlicher gewesen sein sollen, als zu einem Bayer leuchtet nicht ein. Anders gesagt: Es gab sicher auch Beschränkungen, die einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten, die aber nie vor den Kadi kamen.

Auch sind einige Misstöne nicht außer Acht zu lassen. Sorge äußerten die Regierenden nicht so sehr wegen der Freiheitsrechte der Bürger, besorgt waren sie vor allem um „die Wirtschaft“ – aber das ist nichts Neues. Es spiegelt die tatsächlichen Machtverhältnisse in einer bürgerlichen Demokratie – am Ende schwindet auch die Zustimmung, wenn „die Wirtschaft“ nicht floriert. Aber es gibt eben nicht „die Wirtschaft“, diese ist ausgesprochen ungleich und ungleich mächtig. Während die Regierung zu Autogipfeln einlädt, wird „die Kunst“ – natürlich auch keine Einheit – weitgehend ignoriert: Veranstaltungen bleiben verboten und werden sogar abgesagt, Ausstellungsräume sind nur begrenzt besuchbar, in Theatern werden die Plätze reduziert. Das lässt nichts Gutes erahnen und dies scheint mir der Bereich zu sein, in dem die Zivilgesellschaft am ehesten langfristig Schaden nehmen könnte.

Und ein weiteres ist zu bedenken: Auch wenn die Gerichte im ein oder anderen Fall Demonstrationen zugelassen haben, es bleibt ein Problem, solche Versammlungen durchzuführen – anlässlich der geplanten Gedenkfeiern zu den Mordanschlägen in Hanau kamen gerichtliche Eilentscheidungen gegen sehr kurzfristige Verbote zu spät. Und auch Partei- und Vereinsversammlungen, Diskussionsveranstaltungen usw. bleiben reduziert. Die Zivilgesellschaft und gerade die Opposition ist auch auf persönliche Kontakte angewiesen. Virtuelle Treffen können nur kurzfristig einen Ersatz darstellen. Auch werden die Gefahren für die Verfassungswirklichkeit des Rechtsstaates und der Demokratie, die auf eine aktive Zivilgesellschaft angewiesen sind, umso größer, je länger die Corona-Beschränkungen gelten.

Richtig schwierig wird es, wenn man die globale Geltung der Menschenrechte einkalkuliert. Menschenrechte gelten nach UN-Charta, EU-Grundrechtecharta und auch nach dem Grundgesetz in den meisten Fällen für alle Menschen. Das gilt insbesondere für das Recht auf Leben und Gesundheit. Der Lockdown in Deutschland und der EU hatte aber gravierende Folgen für die Wirtschaft und die Lebensbedingungen, d. h. die Überlebensmöglichkeiten, der Menschen beispielsweise in einigen Ländern Afrikas. Durch Freihandelsabkommen hat man die Länder erst mehr oder weniger sanft gezwungen, die Grenzen für europäische Lebensmittel zu öffnen, die mit Corona plötzlich ausblieben. Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden, dennoch hätte man diese Fernwirkungen einkalkulieren müssen. Hier finden wir einen systemischen Widerspruch der globalisierten Welt: Menschenrechte sollen universell gelten, Demokratie bleibt aber national. Und demokratisch gewählte Politiker müssen Rücksicht auf die egoistischen Interessen der Wählerinnen nehmen.

Rechtsverordnungen und Demokratie

Um derartig umfassend in Grundrechte einzugreifen, ist ein Gesetz erforderlich, das die Exekutive zu solchen Eingriffen ermächtigt. Das Bundesseuchenschutzgesetz von 1961 wurde im Jahre 2000 abgeschafft und stattdessen das Infektionsschutzgesetz (IfSG) verabschiedet (Infektionsschutzgesetz vom 20. Juli 2000, BGBl. I S. 104). Nun sollten solche Gesetze nicht für den Einzelfall geschaffen werden, sondern allgemein gelten, d. h. für eine Vielzahl von – bis dahin auch unbekannten – Fällen. Das IfSG wurde nach Ausbruch von Corona drei Mal geändert: im März, Mai und im Juni 2020. Damit wurde es noch nicht zu einem verbotenen Einzelfallgesetz (Art. 19 I GG), aber der Sinn allgemeiner Gesetzgebung, nämlich die Berechenbarkeit staatlichen Handelns im Vorhinein zu gewährleisten, wird so sicherlich unterlaufen.

Die Gesetzesänderungen haben das Gesetz nicht verschlechtert. Eingeführt wurde im März u. a. in § 5 IfSG eine Vorschrift, nach welcher der Bundestag „eine epidemische Lage von nationaler Tragweite“ feststellen muss, damit die Exekutive bestimmte Maßnahmen anordnen kann. Die demokratische Vertretung wird also einbezogen, bevor weitreichende Grundrechtseingriffe erfolgen dürfen oder umgekehrt: Die Regierung kann nicht ohne Bundestag eine Pandemie erklären und in Grundrechte eingreifen. Und der Bundestag kann auch beschließen, dass die pandemische Lage beendet ist und damit alle aufgrund des Gesetzes erfolgten Maßnahmen beenden. Die Demokratie wurde, verglichen mit dem IfSG von 2000 und auch dem Bundesseuchenschutzgesetz, gestärkt.

Das alte IfSG aus 2000 enthielt Eingriffsbefugnisse für die zuständigen Behörden, die vergleichsweise unbestimmt regelten, dass diese die notwendigen Maßnahmen ergreifen können, um Gefahren durch Infektionen abzuwenden (§§ 16, 28 IfSG a. F.). Diese Vorschriften sind nicht oder nur unwesentlich geändert worden. Sie enthalten eine unbestimmte und weitreichende konkrete Eingriffsbefugnis für die zuständigen Behörden, was i. d. R. untere, kommunale Verwaltungseinheiten sind. Diese ordnen aber nur ausnahmsweise direkt an. Wo Allgemeines geregelt wird, haben die Länder Rechtsverordnungen erlassen – also etwa, wenn es die Maskenpflicht im Nahverkehr oder in der Schule betrifft. Auf kommunaler Ebene oder Ebene der Bezirksregierungen werden dagegen Demonstrationsverbote oder – wie in München oder Bremen – ein nächtliches Alkoholverbot geregelt. In beiden Städten wurde dieses Verbot durch Gerichte aufgehoben. Das VG Bremen erklärte das Verbot des Außer-Haus-Verkaufs und der Abgabe alkoholischer Getränke zu bestimmten Uhrzeiten für unverhältnismäßig (VG Bremen, Beschluss vom 25.06.2020, 5 V 1172/20). Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat das nächtliche Alkoholverbot der Stadt München für den öffentlichen Raum für unverhältnismäßig erklärt.

Neben diesen Ermächtigungen zu Einzelanweisungen enthielt das alte IfSG vergleichsweise unbestimmte Verordnungsermächtigungen an die Landesregierungen. Verordnungsermächtigung heißt, dass der Exekutive durch gesetzliche Vorschrift gestattet wird, Einzelheiten durch Rechtsverordnungen, d. h. ohne Parlament zu regeln. Das Grundgesetz verlangt, dass „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden“ (Art. 80).

Die neuen Verordnungsermächtigungen die nach März 2020 in das IfSG eingefügt wurden, sind bestimmter, richten sich aber an die Bundesregierung. Anders gesagt: Kompetenzen, die vorher bei den Ländern lagen, wurden mit Gesetzesänderungen auf den Bund übertragen, der bestimmte Rechtsverordnungen auch ohne Zustimmung der Länder erlassen kann. Dazu gehören: alle Maßnahmen gegenüber Einreisenden aus dem Ausland, Anordnungen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneiprodukten, also beispielsweise Verkaufsverbote u. Ä., Abweichungen von den Zulassungen und der Ausbildung zu medizinischen Berufen. Diese Verordnungsermächtigungen sind vergleichsweise präzise und genügen den Anforderungen in Art. 80 GG.

Anders sieht es mit den – alten, aber weiterhin geltenden – Verordnungsermächtigungen für die Landesregierungen aus. Zur Verhütung und zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten werden die Landesregierungen nach dem IfSG schlicht ermächtigt, „entsprechende Gebote und Verbote“ zu erlassen (§§ 17, 32). Das ist eine Generalklausel und hier spielt bei der Anti-Corona-Politik die Musik. Die verschiedenen Maßnahmen, die mit intensiven Grundrechtseingriffen verbunden sind oder waren, werden in der Regel von den Landesregierungen über Rechtsverordnung angeordnet. Deshalb sind die Regelungen in den Bundesländern unterschiedlich, auch wenn sich Bund und Länder durch gemeinsame Meetings bemühten, eine Vereinheitlichung herzustellen. Dazu gehören Anordnungen von Quarantäne, die allgemeine Untersagung von Veranstaltungen, Schließung von Gaststätten, Einreiseverbote für „Nichtlandeskinder“, Ausgehverbote usw. usw.

Damit sind zwei Probleme verbunden. Erstens verlangt Art. 80 GG – wie gesehen – ausdrücklich, dass die Verordnungsermächtigungen genauer bestimmen, was zu welchem Zweck und in welchem Umfang angeordnet werden kann. Diese Anforderungen sind hier sicher nicht erfüllt. Allerdings ist das – leider – nicht besonders ungewöhnlich, was die Unbestimmtheit der Ermächtigung aber nicht rechtfertigt. Der Verfassungsgeber wollte nach den Erfahrungen von 1933 einem neuen Ermächtigungsgesetz vorbeugen. Bei derartig weitreichenden Maßnahmen, wie sie auf der Grundlage des IfSG getroffen wurden, sind präzisere Eingrenzungen dessen, was die Exekutive anordnen darf und was nicht, verfassungsrechtlich geboten. Im IfSG vermisst man präzise Eingrenzungen dessen, was die Landesregierungen auf welcher Grundlage anordnen dürfen.

Zweitens: Das BVerfG folgert aus dem Demokratieprinzip, dass der Gesetzgeber wesentliche Dinge selber regeln muss und dies nicht der Exekutive überlassen darf. Zu solch Wesentlichem gehörte nach der Rechtsprechung beispielsweise das Kopftuchverbot an Schulen. Abstrakter gesagt: Je intensiver der Grundrechtseingriff, desto wesentlicher die Regel, desto eher muss der Gesetzgeber regeln und nicht die Exekutive. Man kann also ohne intensives Nachdenken folgern, dass die Generalklauseln des IfSG, die zu vergleichsweise intensiven Grundrechtseingriffen ermächtigen, nicht ausreichen, um dem Demokratieprinzip gerecht zu werden.

Verordnungen, wird argumentiert, haben den Zweck, allgemeine Regeln schneller setzen zu können, als dies im Gesetzgebungsverfahren möglich ist. Deshalb sei es gerechtfertigt, dass in besonders dringlichen Situationen auf die Verordnung als Mittel der Rechtsetzung zurückgegriffen wird. Über das Zeitproblem wurde schon gesprochen und dieses ändert nichts an den Verfassungsgeboten, die den Gesetzgeber im Zweifel verpflichten, vorher ordentlich zu arbeiten und die Ermächtigungsnormen verfassungskonform zu gestalten.

Mit der Krise beginnt die Stunde der Exekutive. Die Regelung weiter Lebensbereiche durch Verordnungen kennzeichneten schon in der Weimarer Republik den Ausnahmezustand. Der Reichspräsident ersetzte den Reichstag und regierte durch Notverordnungen. Auf eben diese Situation antwortet die strenge Regelung des Art. 80 GG. Nun haben zwei Schriften die Diskussion um den Ausnahmezustand geprägt, nämlich erstens Carl Schmitt mit dem Diktum: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Schmitt ging es darum, den Demos und insbesondere seine Vertretung zu entmachten und die Volkssouveränität umzudefinieren, zur Souveränität des Reichspräsidenten, des begnadeten Führers, der weiß, was das Volk will, weshalb es kein Parlament braucht. Insofern war Schmitt Vordenker der Nazis und moderner Diktaturen. Der Ausnahmezustand ist hier immer dadurch gekennzeichnet, dass er genutzt wird, um Minderheiten zu drangsalieren und die Opposition in welcher Form auch immer auszuschalten: physisch oder politisch. Im chilenischen Ausnahmezustand von 1973 wanderte die sozialistische Opposition in die Kerker oder wurde in die Sportstadien gepfercht. Das unterscheidet diese Form des Ausnahmezustandes vom gegenwärtigen.

Die zweite Schrift, die den Ausnahmezustand im Titel trägt, stammt von Georgio Agamben und ist in der Diktion noch unklarer als Schmitts Aphorismen. Agamben geht es nicht um den Demos, sondern um das Recht, das er wohl zu dekonstruieren beabsichtigt, indem er den Ausnahmezustand als fließenden Übergang im Recht konstruiert. Der Ausnahmezustand wird im Recht normiert – beispielsweise in der Notstandsgesetzgebung, die 1968 ins GG aufgenommen wurde und nach der im Notstand Grundrechte suspendiert werden können. Das Recht regelt den Ausnahmezustand und suspendiert sich damit gleichzeitig selbst, so dass der Ausnahmezustand gleichzeitig Recht und Ohne-Recht ist im Recht und außerhalb des Rechts ist. Die Gefahr liegt aber nicht in dieser Suspendierung selbst, sondern – und das macht Agambens schönes Paradox dann weniger interessant – in der Perpetuierung des außergesetzlichen Zustandes, im dauerhaften Außerkraftsetzen von Recht und demokratischen Entscheidungsregeln.

Corona-, Flüchtlings- und Finanzkrise machen es notwendig, den Ausnahmezustand jenseits des Übergangs ins Autoritäre und der schönen Paradoxien zu denken, die postmoderne und im Ergebnis auch postdemokratische Schöngeister in den klassischen Institutionen der Moderne nur scheinbar neu entdecken. Die Macht der Exekutive ist im Ausnahmezustand der Krisen des letzten Jahrzehnts gestärkt worden und damit verlor die Demokratie an Substanz. Noch mehr als immer schon in einer liberalen Demokratie, in der die Parlamentsmehrheit die Regierung stützt, wurde das Parlament degradiert zum Claqueur, zum Abnicker oder Jasager zu den Notstandsmaßnahmen der Regierung. Damit werden auch Freiheiten eingeschränkt, aber Freiheiten aller, nicht nur der Dissidenten. Damit werden selbst gesetzte Regeln jenseits des normierten und offiziellen Notstands verletzt oder suspendiert, ohne dass Gerichte und Parlamente einschritten, weil die Maßnahme vernünftig scheint. Aber das Machtgefüge verschiebt sich, wenn auch langsam zugunsten von Experten und den Verwaltungsspitzen. Insofern gilt es wachsam zu sein, ohne gleich in einen allgemeinen Abgesang auf Demokratie und Rechtsstaat einzustimmen.

 


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