Menü

Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte

Rezension zu Olaf Bernau: Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte, München 2022

Olaf Bernau ist Mitbegründer und Aktivist des transnationalen, ausschließlich ehrenamtlich arbeitenden Netzwerks Afrique-Europe-Interact, das Ende 2009 gegründet wurde. Beteiligt sind Basisaktivist*innen aus sechs afrikanischen und drei europäischen Ländern, darunter zahlreiche selbstorganisierte Geflüchtete, Migrant*innen und Abgeschobene. Die hier entstandenen Bezüge aufeinander und das Wissen übereinander prägen das Buch. Es ist viel mehr ein aktivistisches Buch als ein Sachbuch über Westafrika.

Genau genommen ist es letzteres gar nicht, auch wenn ein Menge an Informationen über und aus Westafrika darin enthalten sind. Der Autor spricht nie aus der Rolle des Experten, der sich in der Region auskennt und uns mal erklärt, wie es dort aussieht. Was er zu berichten weiß, sind eigene Erfahrungen oder die seiner Partner*innen vor Ort, und die Einschätzungen, die er gibt, beruhen auf deren und auf gemeinsam gemachten und reflektierten Erfahrungen. Die allerdings ermächtigen Bernau dazu, sehr klar und unmissverständlich Forderungen an unsere hiesigen Gesellschaften zu formulieren, die sowohl die Politik wie das Verhalten Einzelner betreffen: „Die These, dass Europa allenfalls punktuell bereit ist, Verantwortung für die desaströse Lage vieler afrikanischer Länder zu übernehmen, ist ein Leitmotiv dieses Buches.“ (S. 26)

Das Buch ist in 13 Kapitel gegliedert, die „zwischen wissenschaftlicher Betrachtung und journalistischer Beschreibung“ (S. 36) pendeln:

  1. Europäische Afrika-Mythen
  2. Westafrika: Mehr als ein geographischer Raum
  3. Von der zirkulären Mobilität zur Fernmigration
  4. Weshalb die EU-Migrationspolitik scheitern muss
  5. Kontinuitäten und Diskontinuitäten
  6. Ökonomische Zeitreisen
  7. Politische Zeitreisen
  8. Fluchtursachen: Zwischenbilanz und Ausblick
  9. Wie die Unabhängigkeitseuphorie verblasste
  10. Ökonomische Blockaden
  11. Zwischen Agrarindustrie und Klimakrise
  12. Gewalteskalation im Sahel
  13. Was Europa Westafrika schuldet

Ich werde hier nicht versuchen, die Argumentation nachzuzeichnen, sondern mich auf einige wenige Aspekte beschränken, die ich ein wenig näher darstellen möchte.

  •  „Grenzen sind immer auch Durchgangsorte, Umschlagpunkte zwischen Innen und Außen, selbst dann, wenn sie – wie die Außengrenzen der Europäischen Union – hermetisch überwacht werden.“ (S. 65)

Auf diesem Hintergrund kann Bernau vieles erklären, das gemeinhin nicht zusammenhängend gedacht oder zumindest hierzulande nicht zusammenhängend dargestellt wird. In der Großregion „Westafrika“ gibt es Bevölkerungen, die eher lokal stabil sind, ebenso wie solche, die fast die gesamte Region besiedeln beziehungsweise als Hirten in ihr leben. Migration ist Alltagspraxis, auch in einem bestimmten Umfang Fernmigration, allerdings eine Praxis, von der man auch Ergebnisse erwartet. Migration nach Europa folgt also einem Vorbild und ist doch anders, oft unfreiwillig.
Dennoch wäre es falsch, sie alleine oder auch nur überwiegend als Flucht zu denken. Und so muss eine europäische Migrationspolitik scheitern, die sich entlang von fünf Stichworten organisiert: „Abschreckung, Abschiebungen, Vorverlagerung des Grenzregimes, Konditionalisierung der Entwicklungszusammenarbeit und Bekämpfung von Fluchtursachen“ (S. 126).

  • Es „ist unstrittig, dass die millionenfache Versklavung im Landesinneren ohne die Zuarbeit afrikanischer Sklavenhändler nicht möglich gewesen wäre – eine fatale Dynamik, die den Anfang jener bis heute anhaltenden Bereitschaft afrikanischer Eliten markiert, skrupellos gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen“ (S. 73).

Weil Bernau afrikanische Gesellschaften auch schon vor dem Kolonialismus als von Herrschafts- und Klassenverhältnis durchzogen versteht, kann er zum Beispiel „europäische Afrika-Mythen“ ansprechen, ohne damit Afrikaner*innen dem vereinheitlichenden europäischen Blick zu unterwerfen (Kapitel 1, S. 38-54). Oder er kann diskutieren, „dass im Zuge kolonialer Herrschaft ökonomische und politische Tiefenstrukturen entstanden sind, die sich nach der Unabhängigkeit als schwere Bürde für die Entwicklungsmöglichkeiten afrikanischer Länder entpuppten“ (S.149), ohne zu behaupten, es sei „zwangsläufig“ gewesen, „dass die Unabhängigkeitsregierungen das korrupte Gebaren der gerade abgezogenen Kolonialmächte und ihrer afrikanischen Hilfskräfte kopierten“ (S. 150).

  • Walter Rodney, Panafrikanist und Historiker, „lässt keinen Zweifel daran, dass Europa die 'Hauptverantwortung für die wirtschaftliche Rückständigkeit Afrikas' trage, gleichzeitig betont er, dass die 'letzte Verantwortung' bei den Afrikanern selbst liege, sie hätten daher die 'moralische Verpflichtung', nach neuen Wegen zu suchen“ (S. 167).

Hier geht es nicht um eine Verdoppelung der Frage nach der Rolle der afrikanischen Eliten, sondern darum, „dass zu Beginn der Beziehungen zwischen Europa und Subsahara-Afrika im 15 Jahrhundert keine wesentliche Kluft zwischen beiden Kontinenten bestand“ (S. 168). Rodney stammte aus Guyana, hatte in London promoviert und 1966/67 und dann wieder 1968-1974 an der Universität von Daressalam in Tansania gelehrt. Politisch aktiv war er in Jamaika und in seinem Heimatland Guyana, wo er von der Armee im Auftrag der Regierung ermordet wurde. Ihm ging es darum, „antikoloniale Bewegungen, Black Power und die Suche nach einem freiheitlichen Sozialismus zusammen“ zu bringen (ebda.). Darin sieht Bernau nach wie vor eine Perspektive, auch wenn er sehr klar betont, dass „die eigentliche Tragödie kolonialer Herrschaft darin (bestand), das ökonomische, politische und kulturelle Gefüge der westafrikanischen Gesellschaften derart ausgehöhlt zu haben, dass diese nach der Unabhängigkeit nicht nur an äußeren Zwängen, sondern auch an inneren Widersprüchen zerbrachen“ (S. 194).

  • „Seit man von Demokratie spricht, achtet kein Mensch mehr seinen Nächsten, deshalb verstehen wir nicht, was diese Demokratie eigentlich sein soll. Damit schaffen wir es noch nicht einmal, unsere Kleinen zu ernähren.“ (S. 255f, eine malische Bäuerin aus einem Dokumentarfilm von 1996 zitierend)

Das bezieht sich auf den Umstand, dass der Diskurs über demokratische Institutionen, Mehrparteiensystem, Wahlen usw., wie er in den 90er-Jahren Fahrt aufnahm, eng mit der Durchsetzung des ökonomischen Neoliberalismus verbunden war und ist. Viele einfache Menschen vor Ort halten beides für dasselbe, wie es ja auch die neoliberale Propaganda suggeriert. Daraus ergeben sich möglicherweise Offenheiten in diverse Richtungen autoritärer Lösungen, sowohl was Militärregierungen betrifft als auch Kooperation mit China oder Russland und auch interne Dschihadismen. Zu letzteren verweist Bernau darauf, dass „sich Dschihadisten im Sahel für die Interessen bestimmter Teile der Bevölkerung einsetzen“, ohne allerdings „Sozialrebellen“ zu sein (S. 283). Es müsse, „wer die Abläufe im Sahel verstehen möchte, ... die Bereitschaft mitbringen, sich auf lokale Konflikte einzulassen“ (S.284). Die Gewalt trifft alle, ob „ein junger Mann in der Armee, bei den Dschihadisten oder auf dem Acker sein Auskommen findet“ (S. 288).

  • Europa schuldet Westafrika also etwas (13. Kapitel, S. 293-3) Ohne auf Einzelheiten einzugehen , zitiere ich nur die genannten Punkte:

* Eigenes Unrecht anerkennen

* Verständnis vertiefen

* Westafrikanische Lösungsansätze ins Zentrum rücken * Wirtschaftliche Konkurrenzen reduzieren

* Handlungsdruck ernst nehmen

* Verpflichtung zu Reparationen anerkennen

* Symbolische Entschädigungen realisieren * Entwicklungszusammenarbeit neu denken

In der Einleitung hatte der Autor zu seinem eigenen „Sprechort“ geschrieben, er wolle sein Thema auf „drei Achsen“ angehen, einer zeitlichen, „indem es den Bogen von der Sklaverei bis in die Gegenwart schlägt“, einer geografischen, „indem es systematisch der Frage nachgeht, wie Westafrika und Europa verflochten sind“, und einer thematischen, „indem es eine Vielzahl von Fragestellungen zusammenführt, die üblicherweise getrennt behandelt werden“ (S. 34f). Das ist ihm bestens gelungen. Zusammenhänge werden deutlich, wo selbst bei so genannten Experten oft nur Einzelaspekte genannt werden. Trotz pointierter Positionen finden sich keine Einseitigkeiten. Olaf Bernau ist gewiss leidenschaftlich engagiert für die Anliegen der Menschen in Westafrika, aber das übersetzt er nicht in eine aufgeregte Sprache. Sein Stil ist informativ und sehr gut lesbar, sprachlich einfach, ohne deshalb unklar oder blass zu werden. Die Lektüre kann nur uneingeschränkt empfohlen werden.

 

Olaf Bernau
Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte C.H. Beck Paperback München 2022
317 Seiten, 18,00 Euro
ISBN 978-3-406-78246-6


Download als PDF