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Armutsbekämpfung mit Mikrokrediten – eine gefährliche Strategie des Neoliberalimus

Viele NGOs (Nichtregierungsorganisationen) und MFI (Mikrofinanzinstitute) werben damit, dass Menschen durch kleine Kredite der Armut entfliehen könnten. Erzählt werden erbauende Geschichten, die an das Märchen von Aschenputtel erinnern. Bei den Mikrokrediten ist es jedoch kein Prinz, der für die Erlösung sorgt, sondern Menschen aus dem reichen Norden, die auf diese Weise Rendite erwirtschaften wollen. Die Realität der Mikrokredite sieht jedoch ganz anders aus.

Mikrokredit-Opfer in Marokko

5.000 Menschen in der Region von Ouarzazate im Süden Marokkos, insbesondere Frauen, sind Opfer von Mikrokrediten geworden. Sie sind stark verschuldet und können die hohen Raten mit Zinsen von ca. 40 Prozent nicht bezahlen. Ausstehende Gelder werden häufig mit Gewalt und Erpressung eingetrieben und sie leben in ständiger Angst vor Pfändungen ihrer geringen Habe und vor Gefängnisstrafen. Das zerstört Familien und treibt einige Frauen in die Prostitution und/oder zu Suizid. Die SprecherInnen der Gruppe wurden am 11. Februar 2014 zu einem Jahr Haft ohne Bewährung und einer Geldstrafe von umgerechnet zirka 900 Euro verurteilt so die Zeitung Yabiladi.

Was sind Mikrokredite?

Bei Mikrokrediten handelt es sich um umgerechnet zwei- bis dreistellige Eurobeträge, die an arme Menschen im globalen Süden verliehen werden, die keinen Zugang zum Kapitalmarkt haben. Mikrokredite haben in der Regel folgende Struktur:

  • Sie werden überwiegend an Frauen vergeben.
  • Mindestens fünf Menschen aus einem Dorf oder einer Nachbarschaft haften gemeinsam.
  • Die Laufzeit beträgt ein Jahr, manchmal auch weniger.
  • Raten müssen wöchentlich gezahlt werden.
  • Die Zinsen pro Jahr liegen einschließlich Gebühren im Schnitt bei 27 Prozent. Auch Zinsen von 100 bis 190 Prozent sind keine Seltenheit.
  • Meist werden sie von kommerziellen MFI vergeben, die wiederum Kredite von Banken, privaten Investoren, entwicklungspolitischen Akteuren wie Staaten und NGOs erhalten und außerdem Zuschüsse und Bürgschaften von Staaten.

Die ursprüngliche Idee des Mikrokredit-Konzepts

Die ursprüngliche Idee bei diesem Konzept besteht darin, dass sich arme Menschen mit einem Kredit eine einkommenschaffende Tätigkeit aufbauen, von der sie leben und die Kreditraten bezahlen können, z. B. sich eine Nähmaschine und Stoff für eine Mini-Schneiderei kaufen – oder eine bestehende Tätigkeit im informellen Sektor weiter ausbauen. Dadurch sollen sie sich aus der Armut befreien. Die meisten Mikrokredite werden allerdings für konsumptive Ausgaben verwendet. Viele Arme leiden massiv unter der neoliberalen Politik, durch die sozialpolitische Errungenschaften in großem Umfang seit Jahrzehnten abgebaut werden und greifen deswegen als Notlösung zu Mikrokrediten. Dies wird von entwicklungspolitischen Akteuren wie der Weltbank im Namen der geforderten „finanziellen Inklusion“, die besagt dass niemand vom Finanzsystem ausgeschlossen werden soll, durchaus positiv gesehen. Die Weltbank sieht darin eine Kernaufgabe der Armutsbekämpfung. Einige NGOs legen jedoch Wert darauf, dass Mikrokredite ausschließlich für einkommenschaffende Tätigkeiten verwendet werden sollten.

Mikrokredite: Keine positiven Effekte nachweisbar

Bereits seit 30 Jahren gibt es Mikrokredite entsprechend dem obigen Modell. 1995 gründete die Weltbank die Organisation CGAP (Consultative Group to Assist the Poor) mit dem Ziel, für die Vergabe von Mikrokrediten zu mobilisieren. Nach dem Nobelpreis für Mohammad Yunus und der von ihm gegründeten Grameen-Bank 2006 gab es einen richtigen Mikrokredit-Hype. Inzwischen sehen sich Mikrokredite scharfer Kritik ausgesetzt. Der Politikwissenschaftler Philip Mader kommt in seiner Doktorarbeit zu dem Ergebnis, dass kein positiver Effekt nachgewiesen werden konnte – ebenso wie ein Forscherteam, das 2011 im Auftrag des britischen Entwicklungshilfeministeriums in einer Metastudie über 2.600 Untersuchungen mit angeblich positivem Ergebnis auswertete.

Trotzdem loben MFI, Weltbank, viele WissenschaftlerInnen und entwicklungspolitische Akteure wie Staaten, Kirchen und NGOs Mikrokredite weiterhin als Mittel gegen Armut. Zwar räumen sie Fehlentwicklungen ein, wie z. B. Suizide, das Verleihen von mehreren Krediten an die gleiche SchuldnerIn und der zeitweise Zusammenbruch der Mikrofinanz in einigen Regionen wie z. B. in Marokko, Nicaragua und Pakistan 2008, Bosnien 2009 und Indien 2010. Dies könne aber durch staatliche Reglementierungen und/ oder freiwillige Kundenschutzrichtlinien verhindert werden. Im folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass es grundsätzliche Fehler beim Mikrokreditansatz gibt und diese durch verbesserte Rahmenbedingungen nicht behoben werden können.

Falsche Kernannahme des Mikrokreditkonzepts

Der erste Fehler liegt direkt in der Kernannahme des Mikrokreditgedankens. Die lokalen Märkte, auf denen MikrounternehmerInnen operieren, sind in aller Regel übersättigt. Wer z. B. in gewisse Gegenden Afrikas fährt sieht viele Händler, die alle das gleiche verkaufen, außerdem viele Menschen, die die gleichen Snacks, Getränke, Handarbeiten oder Dienstleistungen anbieten. Es gibt dort mehr Mikrounternehmen pro Kopf als überall sonst auf der Welt. Neu auftretende Akteure erhöhen das bereits bestehende Überangebot. Dieser Angebotssteigerung steht jedoch keine vermehrte Nachfrage gegenüber. Das Phänomen schwacher Nachfrage gilt auch weltweit. Es ist jedoch noch extremer in armen Gegenden trotz der vielen nicht befriedigten Bedürfnisse. Aufgrund der zu zahlenden Zinsen für Mikrokredite fließt sogar noch Geld ab – entweder ins Ausland oder zu reichen Investoren im eigenen Land – und führt zu einer Verringerung der Nachfrage. Allein im Jahr 2010 haben verschuldete Arme mindestens 19,6 Milliarden Dollar Zinszahlungen geleistet. Somit können Geschäftserfolge nur auf Kosten von KonkurrentInnen erreicht werden, was sinkende Durchschnittsgewinne für alle zur Folge hat. Deswegen haben viele SchuldnerInnen Schwierigkeiten ihre Raten zurückzuzahlen und nehmen neue Kredite auf, wodurch ihre Schulden insgesamt wachsen und alles meistens noch schlimmer wird. Sie verlieren oft ihr gesamtes Hab und Gut und stehen vor dem absoluten Nichts. So führen Mikrokredite zu Enteignung – auch von Grund und Boden, tragen zur Landflucht bei und stellen somit eine Anti-Entwicklungsstrategie dar.

Zerstörung von lokalen Sozialstrukturen durch Mikrokredite

Der zweite grundsätzliche Fehler liegt darin, dass Mikrokredite die lokalen Sozialstrukturen meistens zerstören, obwohl diese gerade für Arme besonders wichtig sind. Auch gute Kundenschutzprinzipien können kaum etwas gegen sozialen Druck in der Haftungsgruppe bewirken, der ja in gewisser Weise gerade Teil des Mikrokredit-Geschäftsmodells ist. Schließlich haften alle SchuldnerInnen gemeinsam und darüber hinaus haben sie sogar bei Zahlungsverzug auch nur eines Gruppenmitglieds meistens weitere Nachteile. Deswegen werden zahlungsunfähige SchuldnerInnen häufig unter Druck gesetzt und sogar öffentlich beschämt. Die Ethnologin Lamia Karim hat diese „Ökonomie der Beschämung“ wie sie es nennt in Bangladesch studiert. Gearbeitet wird auch mit sexuellen Übergriffen und mit Entführungen von Kindern. Die Gruppe stiehlt dem Kreditopfer und seiner Familie außerdem oft Hab und Gut. Im extremen Fall baut sie sogar die Hütte ab, um Einzelteile zu verkaufen. Dies wird in Bangladesch als „House-Breaking“ bezeichnet, gilt als ultimative Schande, bedeutet Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft und Beginn der Obdachlosigkeit. Spätestens hier wird deutlich, dass Mikrokredite mit Frauenempowerment überhaupt nichts zu tun haben wie oft behauptet wird – ganz im Gegenteil.

Nur in seltenen Fällen gelingt eine Solidarisierung der Opfer, wie z. B. in der Region von Ouarzazate, wo 5.000 Menschen sich seit 2011 zusammengeschlossen haben. Sie demonstrieren gemeinsam, verweigern Zahlungen, klagen MFI vor Gericht an und konnten internationale Unterstützung gewinnen – auch durch Attac Deutschland. In den meisten Fällen verhindert die Verschuldung jedoch politische Aktivierung. Der existenzielle Druck in den Haftungsgruppen fördert Einzelkämpfertum und Aggression anstelle von solidarischem Handeln.

Der dritte Fehler liegt darin, dass die Gesetze, Gebräuche und die Machtstrukturen, die in vielen Ländern des Südens herrschen, nicht berücksichtigt werden. So gibt es in kaum einem dieser Staaten Pfändungsgrenzen. Wenn die totale Enteignung von Überschuldeten nicht durch die Haftungsgruppe erfolgt, so kann sie auch im Auftrag der MFI durch den Staat geschehen. In vielen Staaten ist sogar eine Gefängnisstrafe möglich, z. B. in Ägypten und im Sudan.

Weltweite Mobilisierung für Mikrokredite

Trotz der negativen Bilanz und obwohl im Jahr 2011 bereits 90 Milliarden $ Mikrokredite an 200 Millionen Menschen vergeben wurden, mobilisieren Weltbank, MFI und entwicklungspolitische Akteure weiterhin für Mikrokredite. Folgende Gründe liegen nahe:

Für MFI, Banken und andere Investoren ist das Geschäft mir den Armen sehr lukrativ. Bereits 2007 empfahl die Weltbank, dass der private Sektor nicht die Ressourcen der vier Milliarden Armen ignorieren, sondern in Wert setzen solle. Sie waren auf 5.000 Milliarden Euro beziffert worden.
Armen Menschen werden Schulden gegeben anstelle von Brot, Wohnung, Bildung und Gesundheitsleistungen. Dies sind jedoch Menschenrechte, die ihnen laut Art. 25 der Menschenrechtscharta zustehen. Auf diese Weise treiben Mikrokredite die Logik des globalen Finanzkapitalismus in allen Regionen voran und verbreiten das liberale Paradigma, dass jeder seines Glückes Schmied ist und vom Kapitalismus profitieren kann. Die neoliberale Politik mit Privatisierung, Sozialabbau und Landgrabbing wird nicht infrage gestellt. Vielmehr werden Mikrokreditprogramme als „soziale Komponente“ in Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und Internationalem Währungsfonds eingebaut, um Protesten gegen soziale Einschnitte vorzubeugen.
Viele Menschen im Norden schreiben Mikrokrediten eine emanzipatorische Kraft zu und übersehen das ungleiche Machtverhältnis zwischen SchuldnerIn und Kreditgeber. Häufig wird auch betont, dass Mikrokreditverträge freiwillig seien. Aber die Menschen sehen oft keine Alternative und diese Verträge ähneln dem Verkauf von Schmutzwasser an Verdurstende.

Gründe gegen das Mikrokreditkonzept auf einen Blick

Zum Abschluss sollen die Gründe gegen das Mikrokreditkonzept auf einen Blick dargestellt werden:

In den vergangenen 30 Jahren konnte nicht nachgewiesen werden, dass Mikrokredite Armut reduzieren. Vielmehr nutzen sie Armut aus und verfestigen sie, so Mader: „Mikrofinanz macht die Armut für den Armen zwar nicht besser – und könnte die Armut eher perpetuieren –, aber macht sie sehr wohl für den Wohlhabenden nützlicher als zuvor. Dieser kann jetzt etwas »Gutes« tun und dabei sogar Rendite erwirtschaften. Vor allem aber profitiert der Finanzsektor, der transnational neue Absatzmärkte erschließen und neue Produkte anbieten kann, womit die »finanzielle Inklusion« vor allem die Förderung des Finanzmarkts bedeutet“.
Darüber hinaus ist das Konzept grundsätzlich falsch, so dass es durch veränderte Rahmenbedingungen zwar verbessert, aber nicht korrigiert werden kann. Die lokalen Märkte sind übersättigt und neue Mikrounternehmen führen zu verstärkter Konkurrenz und sinkenden Gewinnen. Zur Zahlung der Raten nehmen viele SchuldnerInnen deswegen neue Kredite auf und geraten in eine Schuldenfalle, die oft zur totalen Enteignung führt.

Wie kann Armut bekämpft werden?

Mikrokredite bekämpfen die Armut nicht – im Gegenteil, sie tragen zur Umverteilung von unten nach oben bei. Armut kann nur abgebaut werden, wenn die strukturellen Ursachen bekämpft werden. Eine solidarische staatliche Entwicklungspolitik sollte auf die Stärkung des öffentlichen Sektors setzen, auf Ernährungssouveränität, Einkommenszuschüsse und eine gerechte Handelspolitik.

Dieser Blog ist eine Kurzfassung meines Artikels in der der Fachzeitschrift INAMO – Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V., Frühjar 2014. Weitere Informationen: Klas, Gerhard (Hg.)/Mader, Philip (Hg.): Rendite machen und Gutes tun? Mikrokredite und die Folgen neoliberaler Entwicklungspolitik 2014.


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