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Peter Herrmann: Krise und (k)ein Ende

Es ist kein Ende der Krise in Sicht – dies haben nun auch die Apologeten des Systems anerkannt. Aber in der Tat, ist es nicht genug, die Welt wieder einmal neu zu interpretieren, sondern es gilt, eine weitergehende Analyse zu erarbeiten, die es ermöglicht, sie tatsächlich zu verändern.

Der Beitrag versucht, die Krise in diesem Licht zu analysieren. Die Veröffentlichung der Krisenanalysen etwa der Weltbank wird dabei zum Anlass genommen, aufzuzeigen, dass das Problem nicht im Fehlen  einer aktuellen Analyse zentraler Eckwerte besteht, sondern wesentlich darin, dass an einst gültigen, nun aber obsoleten Paradigmen wie Wachstum, Nationalstaatlichkeit u.a. festgehalten wird. Eine solche Kritik trifft auch auf viele kritische Einwände von linker Seite zu. Zugleich wird aber eine Gefahr in einer voluntaristischen Re-Interpretation der Zukunft gesehen.

Thesen

1. Die Krisendiskussion ist nach wie vor in den alten Gleisen gefangen – und dabei geht es zumeist um das halb leere bzw. halb volle Glas – dies gilt auch vielfach bei relativ fundamentaler Kritik gegenüber einigen mainstream-Positionen. Wenn man aber von einer strukturellen Krise spricht, muss die Frage sein, ob das Glass nicht tatsächlich völlig in Scherben liegt. Ferner, die Krisendiskussion darf nicht auf die kurzfristigen dramatischen Folgen, insbesondere die „sozialen Kosten“ reduziert bleiben. Es geht darum, klar die Krise der amerikanischen Hegemonie mit Blick auf Produktionsregime, verbundene Lebensweisen und nationale und internationale Regulierungsmechanismen zu thematisieren.

2. Es geht bei allem um die Kritik eines hegemonialen Systems. Wenn diese aber als Macht der Ideen gesehen wird, so doch auch zu betonen, dass diese Ideen des sog. Neoliberalismus eine Interpretationsvariante der gegebenen objektiven Bedingungen ist, die einem einseitigen Interessenkalkül entspricht. Scheint dies banal, so ist eine solche Betonung doch wichtig. Denn nur so kann ein Gegenentwurf entwickelt werden, der sich nicht gegen die Grenzen des Wachstums richtet und eine neue Moral (oder gar die Wiedergewinnung einer alten, vermeintlich besseren Moral) stützt. Vielmehr ist aus dem objektiv gegebenen Stand der Produktivkräfte und der real-möglichen, und teils implizit verwirklichten Vergesellschaftungsformen eine mutige neue Utopie zu erarbeiten.

3. Die Grenzen des Wachstums sind nicht schlicht als solche negativ zu diskutieren, sondern aus dem Zusammenhang zu begreifen: es geht um ein weites Verständnis dieser Grenzen des Wachstums, die zu einem Grossteil direkt und kausal mit fortbestehenden Grenzen der Einschränkung in Zusammenhang stehen. Es geht um die sich zuspitzenden Ungleichheiten, die viel weitreichender sind, als dies von Piketty dargestellt wurde: Es geht immer noch um die sehr grundlegenden Fragen des [Nicht-]Zugangs zu grundlegenden Ressourcen wie Wasser, Grundnahrungsmittel, Wohnung etc., all dies zunehmend ein Problem in allen Gesellschaften.

4. Schließlich ist heute Politik für eine ungewisse Zukunft zu machen – Risiken dürfen weder Lähmen noch zu übermäßigen Bereitschaft zu opportunistischen Kompromissen führen.

Krise oder was? Vorschlag einer langfristig ausgerichteten strukturell-orientierten Krisenbetrachtung

Oft verschwindet bei der Krisenanalyse von linker Seite die klare Benennung der Tatsache, dass es international und global nicht um das „Ausbluten“ einiger Länder durch andere geht, sondern um eine Klassenpolitik: „die da oben“ haben sich durchaus gegen „die da unten“ auf der internationalen Ebene vereinigt. Ein weiterer Punkt besteht darin, dass bei der notwendigen Fokussierung auf die Zuspitzung der Klassenlage innerhalb der EU leicht die Verschiebung der globalen geostrategischen Kräfteverhältnisse vergessen wird: die Verschiebungen innerhalb der EU sind Teil der Bestrebungen der globalen Herrschaftssicherung beim Neuaufbau einer angestrebten unipolaren Weltordnung. Dies scheint trivial, verdient aber gegen Trivialisierungen anderer Art hervorgehoben zu werden: „Die Deutschen“ sind sicher nicht globale Krisengewinner etc.

Auf der Kapitalseite gibt es bei diesbezüglichen Diskussionen keineswegs ein einheitliches Bild: Eine Frage ist dabei, ob nun wirklich alle Gewinner sind und welche Rolle die unterschiedlichen „Gewinnmargen“ spielen; eine andere ist, dass die im Detail unterschiedlichen Positionen durchaus große Bedeutung mit Blick auf die Einschätzungen und Vorschläge haben, wenn es um die Entwicklung der „Politik für die Zukunft“ geht.

Strukturelle Krisen sind freilich an sich nichts Besonderes, sondern tatsächlich die Norm. Dies lässt sich mit Blick auf einen Punkt sehr einfach fassen: Es kommt immer wieder zu einer Überproduktion/Unterkonsumtion, die einen Grundwiderspruch des Verwertungsprozesses ausmacht. Einerseits ist das Kapital auf die „Minimierung der Kosten“ orientiert; andererseits bedeutet aber gerade dies die Unterminierung der Marktnachfrage, da auf diese Weise nicht zuletzt die Realisierung eine Beschränkung erfährt: die einfache Version besteht in der Reduzierung der kaufkräftigen Nachfrage. Allerdings erleben wir derzeit eine weitaus komplexere Konstellation dieser Problematik, die im Folgenden mit einigen Hauptpunkten angerissen werden soll.

Der Anteil des variablen Kapitals (vereinfacht „die Lohnkosten“) am Gesamtkapital geht zurück – hier handelt es sich um einen säkularen Prozess, der u.a. von Marx unter dem Stichwort der Entwicklung der organischen Zusammensetzung des Kapitals behandelt wurde. Dies ist freilich im Gesamtbild widersprüchlich, da die „Verdienstleistung“ dem genannten Muster entgegenzustehen scheint: Dienstleistungen sind naturgemäß arbeitsintensiv und nur begrenzt  rationalisierungsgeeignet. Allemal ist die „innere Landnahme“, wie sie vor allem von Rosa Luxemburg früh schon angesprochen wurde, nicht zuletzt auch eine Frage der weiteren Verschiebung der Kapitalzusammensetzung. Neben den Anteilen von konstantem und variablem Kapital ist wichtig, genauer zu betrachten, welchen Charakter die jeweiligen Anteile haben. Deutlich wird gerade hier, dass die Analysen, die für den Industriekapitalismus gemacht wurden, zu überdenken, wenngleich nicht komplett zu verwerfen, sind.

Ein weiterer sozialökonomischer Aspekt, der einerseits als Wirkung, andererseits als Ursache auftritt, ist zu berücksichtigen. Mit Blick auf die Einkommensentwicklung kann allgemein von der Tendenz ausgegangen werden, dass die Lohnsumme insgesamt steigt, gleichzeitig aber die Einkommen sinken (ungeachtet des enormen Wachstums von Reichtum, d.h. der Konzentration hoher Einkommen bei einer „relevanten Minderheit der Bevölkerung“). Hiermit hängt eine Verschiebung in der Qualifikationsstruktur zusammen, denn die tatsächliche Qualifikation, also die Qualifikation im Sinn von qualifizierten Beschäftigungspositionen, nimmt ab. In anderen Worten: Arbeitsplätze finden sich eher am unteren Ende der Qualifizierungsleiter als in der Mitte oder oben. – Dies sozialökonomisch mit Blick sowohl auf Ursache als auch auf Wirkung zu erkennen ist wichtig, da ja die formale Qualifizierung durchaus zunimmt. Letzteres ist Teil der Kommodifizierung von Bildung, durch die immer höhere Bildungsabschlüsse eine abnehmende Bedeutung haben: im Mittelpunkt stehen Erwerb bestimmter Fettigkeiten und zugleich steigende Anforderungen an formale Bildungsabschlüsse. Eine andere sozialökonomische Dimension besteht darin, dass gerade diese Verschiebungen sehr große geschlechtsspezifische und migrationsspezifische Konsequenzen haben. So ist durchaus mit gemischten Gefühlen zu betrachten, dass Frauen in bestimmten Bereichen „Gewinner“ sind, wenngleich die Gesamtentwicklung negativ ist.

Ein weiter wichtiger Punkt ist bei der Betrachtung des Gesamtgefüges der Kapitalzusammensetzung der globale Aspekt. In aller Kürze: globale Verschiebungen haben das vordem eindeutige Muster internationaler Arbeitsteilung aufgehoben. Heute findet sich tendenziell eine zweifache Teilung: Immer noch ist richtig, wenn wir vom „reichem globalen Norden“ und „armen globalen Süden“ ausgehen; zugleich aber gewinnt Armut im Norden und Reichtum im Süden nicht zuletzt in qualitativer Hinsicht völlig neue Dimensionen. Dies ist nicht einfach eine Frage neuer Ungleichheiten; wichtiger ist, dass dies eine neue (und weitgehend unanalysierte) Verschiebung der Kapitalstruktur ausdrückt. Vereinfacht: soweit die Zentrum-Peripherie-These mehr als eine analytische Hilfestellung war und tatsächlich zumindest teils mit einer räumlichen Verteilung der verschiedenen Abteilungen zusammenfiel, so ist heute von einer relativ stärkeren Durchmischung auszugehen.

Bei alldem verweben sich die Verschiebungen der Einkommensstrukturen mit der Entwicklung der Kapitalstrukturen: die Einkommensschere wächst, und nimmt tatsächlich eine neue Form an – faktisch kann man kaum noch von einer Schere sprechen; zugleich nimmt die Kapitalentwicklung neue Formen an:

  • Konzentration und Zentralisation nehmen weiter zu;
  • zugleich entwickelt sich eine Art „unternehmerische Reservearmee“, d.h. ein „stabiler Pool“ kleiner und mittlerer Unternehmen, der gleichsam international als Boden angesehen werden kann, auf dem die Grossunternehmen aufgebaut sind
  • drittens kann eine Gruppe „neuer Selbstständiger“ angeführt werden, die selbst in verschiedene Untergruppen unterteilt ist – gemeinsames Merkmal ist Prekarität bzw. Herausfallen aus den traditionellen Lebens-, Arbeits- und Sicherungsformen als Kennzeichen der gesamten Lebensperspektive
  • schließlich bleibt die Gruppe der alten Klein- und Mittelbetriebler, die sich in sehr unterschiedlichen Positionen befinden.

Natürlich ist die Rolle der Banken bzw. des Finanzsektors bedeutsam: bis vor einiger Zeit wurde ein gesamtwirtschaftliches Scheingleichgewicht nicht zuletzt dadurch ermöglicht, dass Kosten z.B. räumlich und zeitlich verlagert wurden wobei Banken eine wichtige Rolle als Mittler spielten. Nun aber, vor allem durch nicht produktiv-profitabel anzulegende Kapitalüberschüsse, die Permanenz der Geldnachfrage zur Lebenssicherung sowie die globalen Spekulationsmöglichkeiten bedingt, handelt es sich hier um einen Sektor, der kaum noch eine Mittlerfunktion innehat und stattdessen eine relativ eigenständige „grundlose“ Sphäre bildet: die gehandelten Mittel sind nicht Bestandteil einer systematischen Industriepolitik, noch stellen sie schwerpunktmäßig eine Finanzierung von Privathaushalten sicher, die dann zumindest mittelfristig ausreichend den Wirtschaftskreislauf wieder beleben.
Bemerkenswert ist auch eine massive Verschiebung innerhalb der Konsumsphäre. Es handelt sich dabei um die zunehmende Bedeutung der Kreditfinanzierung in weiten Bereichen des Haushaltskonsums. Damit ist einerseits die schleichende Vorbereitung sowie Begleitung der Finanzialisierung bezeichnet. Zugleich ist eine andere, tiefer liegende Verschiebung bedeutsamer: Lohnarbeit wird nochmals aus dem sozialen Gesamtprozess gelöst. Wie sich die Bedeutung der verschiedenen Abteilungen innerhalb des wirtschaftlichen Gesamtprozesses, wie sie oben genannt wurden, zugunsten des Finanzsektors verschiebt, so verschiebt sich die individuelle Lebens- und Arbeitszeit hin zu einer Sekundärsicherung: was anfangs eine Frage der Finanzierung des Konsums von Gebrauchsgütern ist, wir zunehmend zur Frage einer zirkulären (Re-)Produktion.

Vielfalt des einen Kapitalismus

Freilich, für sich genommen sind viele der genannten Momente nicht neu, und ebenso handelt es sich bei jedem einzelnen Faktor um Tendenzen, die als solche widersprüchliche Detailentwicklungen betreffen – dies gilt in nationaler, regionaler und globaler Betrachtungsweise. Neu mag eine Zuspitzung sein. Und ebenso hat die Verflechtung der Einzelmomente eine neue Stufe erreicht. Die Zuspitzung der verschiedenen Momente und ihre neuen Verflechtungsdimensionen bedeuten aber einen qualitativen Sprung. Ganz wesentlich ist, dass die Bedingungen, die bisher für ein Scheingleichgewicht existierten, nicht mehr vorhanden sind – in anderen Worten, die Bedingungen für jenen Zustand, der durch die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft als Normalität bezeichnet wurde, sind nicht mehr gegeben.

Zentral sind (i) die Aufhebung der räumlichen und teilweise zeitlichen Asynchronität – damit ist die Möglichkeit zu einer Problemverlagerung nach Außen begrenzt; (ii) eine relativ weitgehende Vereinheitlichung der Kapitalzusammensetzung und damit die Begrenzung der tatsächlichen „Varieties of Capitalism“ (siehe Kasten); und (iii) der pervertierende Druck auf das Verhältnis der verschiedenen Einkommensarten: die Masseneinkommen reichen nicht aus, eine ausreichende, d.h Profit sichernde Nachfrage zu gewährleisten; die oberen Einkommen liegen weit über der Grenze, die in Profit-sichernde Kaufkraft umsetzbar ist; zugleich wächst aber gerade dieser Teil ins Unermessliche, da ein weiterer Punkt darin besteht, dass die Privat-Luxuseinkommen tendenziell dadurch erhöht werden, dass Kapital in Privatvermögen umgewandelt wird – es findet keine ausreichenden Anlagemöglichkeiten eben als Kapital; schließlich geraten gerade die unteren und selbst mittleren Einkommen unter weiteren Druck, da die fehlenden Mittel zur Bedarfsdeckung durch (Klein)Kredite „ausgeglichen“ werdenl. Dies reicht aber höchstens zu kurzfristigen Milderungen des Drucks, in mittlerer und längerer Sicht wird aber der Druck auf diese Einkommen durch Zinsbelastungen erhöht.

Exkurs: Varieties of Capitalism als neue Ablenkungs-Diskussion

Daniel Buhr und Rolf Frankenberger fassen die Vorstellung der varieties of capitalism, wie sie von Peter Hall und David Soskice in die Diskussion gebracht wurde (s. Hall/Soskice (eds.) 2001), mit der Aussage zusammen, „dass unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen der politischen Ökonomie systematische Unterschiede in der Entwicklung von Unternehmensstrategien erzeugen.“ (Buhr/Frankenberger, 2014; hier: 64) und nennen fünf hervorstechende Bereiche: industrielle Beziehungen, Organisation der Aus- und Weiterbildung, Unternehmensfinanzierung und Beziehungen zu den Finanzgebern, Regelung der Beziehung zwischen Unternehmen, Einbindung der Arbeitnehmer (s. ibid.). Und sie kritisieren die Vernachlässigung der über „ihre fünf Sphären hinausgehenden staatlich-institutionellen Rahmenbedingungen und den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft.“ (ibid.)

Vor diesem Hintergrund sind mit Blick auf die Krisenanalyse sowie die Perspektiventwicklung zwei Aspekte von besonderer Bedeutung:
Nach dem ersten, „allgemeinen Schock“, der durch den Kollaps der Gebrüder Lehman-Bank ausgelöst wurde, hat sich die Lage zunehmend verwirrt. Denn was zunächst wohl als Spitze eines Eisberges mit dem Namen „allgemeine globale Krise“ gesehen wurde, löste sich zunehmend in verschiedene Teilaspekte auf, die dann oft unabhängig voneinander diskutiert wurden oder gar gegeneinandergestellt wurde. Vieles war berechtigt: eine Finanzkrise; eine US-Bankenkrise mit globalen Auswirkungen; die Staats-Haushaltskrisen; das Fehlen profitabler Anlagesphären etc. pp. Und auch mit Blick auf einige Details gab es zweifelsfrei richtige Einschätzungen, die dann aber zu falschen Schlüssen führten – zu nennen sind die Misswirtschaften einiger EU-Mitgliedsländer, die ja nicht prinzipiell von der Hand zu weisen sind, auch wenn die Analysen dann den eigentlichen Charakter der Misswirtschaft verkannten (z.B. die verfehlte Steuerpolitik in Irland, die frühzeitige Kapital- und Wohlstandsflucht aus Griechenland und vielfältige spekulative Fehlinvestitionen in Spanien).

Paradise lost – Erwachende Verunsicherung im Herrschaftslager

Von besonderem Interesse ist, dass der Grundoptimismus des mainstream und der Rekurs auf die alten Mittel zunehmend ins Wanken gerät, wenngleich dies freilich nicht zu einer Überwindung der traditionellen Ansätze führt. Einige Beispiele aus jüngerer Zeit seien angeführt.

1. Der Internationale Währungsfond (IMF) hat in einem im Januar 2014 veröffentlichten Dokument auf die dramatische Zuspitzung der Ungleichheit hingewiesen und festgestellt,
that high income inequality can be detrimental to achieving macroeconomic stability and growth.
(IMF, 2014)

2. Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre sonst meist affirmative Haltung ein Stück verlassen und stellen sich nach Aussagen des Spiegel (see Böcking/Dieckmann, 2014) gegen eine strikte Haushaltskonsolidierungspolitik.
3. Ebenfalls findet sich eine Kritik von einer anderen Seite, die einen großen Teil der Verantwortung politisch-ökonomischer Fehlentwicklungen trägt – vor dem Beginn der Jahrestagung von Internationalen Währungsfond und Weltbank
(betonte) Lagarde, dass sich öffentliche Investitionen auf längere Sicht auch für die Staatshaushalte rechneten. Diese könnten nicht nur wachstumsfreundlich, sondern auch schuldenfreundlich sein. „Die Mitglieder müssen einen viel höheren Finanzeinsatz erbringen, der sich darauf richtet, das heutige Wachstum und das morgige Wachstumspotenzial entschieden zu erhöhen“, schreibt Lagarde in einem Strategiepapier anlässlich der Veranstaltung.
(SpiegelOnline, Oktober, 09, 2014)

Freilich muss ein wenig verwundern, wenn man den zuvor genannten Artikel im Auge hat, wo auch zu lesen ist, dass Finanzminister Schäuble (...) eine Stärkung deutscher Investitionen prüfen (will).
(ibid.)

4. Bereits kurze Zeit früher ist zu lesen, dass vom Währungsfond vor einer neuen Wirtschaftskrise gewarnt wird – folgende Gründe seien angeführt:
In der Eurozone bestehe die Gefahr einer Stagnation statt des erhofften Aufschwungs nach der jahrelangen Wirtschaftskrise. In diesem Jahr werde der gemeinsame Währungsraum um 0,8 Prozent und im kommenden Jahr mit 1,3 Prozent wachsen. Beide Werte wurden deutlich gesenkt.

Auch geopolitische Krisen wie in der Ukraine oder in Nahost könnten weit über die betroffenen Gebiete hinaus ökonomischen Schaden anrichten, etwa durch steigende Energiepreise.

Riskant sei zudem eine mögliche Überhitzung der Finanzmarkte. Die hohen derzeitigen Börsenkurse würden nicht die Zerbrechlichkeit der wirtschaftlichen Erholung widerspiegeln.

Vor allem in großen Volkswirtschaften werde trotz niedriger Zinsen zu wenig investiert und zu wenig für die Nachfrage getan.
Zudem gebe es in zahlreichen Nationen den dringenden Bedarf an Strukturreformen. Die Spätfolgen der großen Rezession vor rund sechs Jahren seien hartnäckiger als bislang gedacht.
(SpiegelOnline, 2014, Oktober 7)

5. All dies ist freilich nicht Resultat einer politisch-spezifischen Einschätzung der Spiegel-Redaktion, sondern reflektiert tatsächlich die Diskussionen auf verschiedenen Ebenen. So begrüßt Marco Buti, EU-Generaldirektor  der GD Wirtschaft und Finanzen, den Leser der European Economic Forecast für den Herbst 2014 gleich im Editorial mit der klaren und illusionslosen Aussage:
After just a year of moderate growth, the momentum of the EU economy began to slow in spring 2014. In the second half of this year, GDP growth in the EU is set to be very modest, while in the euro area it will almost stagnate. Among the largest euro area Member States, we see growth increasing in Spain where unemployment remains very high, growth coming to a stop in Germany after a very strong first quarter, protracted stagnation in France, and contraction in Italy.
(Burti, 2014)

6. Auch wenn es in der Tat zu spät ist und der angerichtete Schaden immens ist; und auch wenn „wir es schon lange gewusst und auch gesagt haben“, ist es doch bemerkenswert, dass die Selbstkritik nun auch die obersten Macher erreicht hat:
The International Monetary Fund’s internal watchdog has criticised the fund’s call for austerity in 2010. The move reopens a heated debate among policy makers about the merit of raising taxes and cutting public spending after the financial crisis.

In a review of the IMF’s response, the independent evaluation office praised the fund’s international lending role but attacked the policy advice it gave in 2010 for governments to start cutting their budget deficits.
(Harding, 2014)

Man muss anfügen: dass diese Kritik die herrschenden Kräfte wieder einmal erreicht hat, denn eine solche späte Einsicht ist ja durchaus kein historischer Einzelfall. Dies mag dazu verleiten, sie beiseite zu schieben. Aber es ist wohl eher angebracht, zu versuchen, sie ins Positive zu wenden. Denn die dahinterstehende Untersuchung ist sicherlich ausreichend faktenreich: Es handelt sich um den Bericht des Independent Evaluation Office of the International Monetary Fund (Independent Evaluation Office of the International Monetary Fund, 2014).

Tatsächlich zeigt sich an den genannten und verschiedenen weiteren Stellungnahmen zu Wirtschaftsentwicklung, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswissenschaft eine Verunsicherung die nicht unterschätzt werden sollte. Wenngleich das Gespenst, das sich derzeit in Europa umher treibt, weitgehend unsichtbar zu sein scheint, so ist doch der Teufel an jeder Ecke zu finden. Neben solchen eher hochrangigen Diskussionen, wie sie zuvor angeführt wurden, sind auch jene Verunsicherungen zu nennen, die z.B. sichtbar werden, wenn man sich die Diskussionen über die Sozialwirtschaft im Rahmen der italienischen EU-Ratspräsidentschaft etwa beim Informellen Treffen der Arbeitsminister in Milan oder der Konferenz in Rom unter dem Titel Unlocking the Potential of the Social Economy for EU Growth anschaut oder wenn man die Diskussionen auf Foren wie dem vierten Sorrento Treffen “Mezzogiorni d’Europa e Mediterraneo – Transizioni sostenibili e visioni rovesciate” (Sorrento, 7-8 November 2014) verfolgt; und in diesem Licht ist es dann auch von Interesse, wenn Anfang Dezember etwa „Un Nouveau Départ Pour L’investissement » diskutiert wurde, wo es um „Les clés d’une relance de l’investissement“ gehen sollte.

Kontinuität in der Krisenbetrachtung

Grundlegend Klarheit schafft Hans-Werner Sinn mit dem Blick auf die "heilige Kuh” des wachstumsorientierter Wettbewerbs:
Wettbewerb gehört zu den Grundvoraussetzungen, unter denen die unsichtbare Hand wirken kann, denn Monopole und Oligopole beuten die Konsumenten aus und beschränken die Produktion.
(Sinn, 2014)

Und um diesen zu sichern, werden selbst Staatseingriffe akzeptiert:

Linke benutzen den Begriff Neoliberalismus als Schimpfwort. Dabei gehen sie von der Auffassung aus, der Neoliberalismus sei die Lehre von der Deregulierung der Wirtschaft und vom Nachtwächterstaat. Das ist nicht richtig. ... Er stammt von Alexander Rüstow, der 1932 auf der Jahrestagung des Vereins für Sozialpolitik das Ende des alten Liberalismus ausrief und stattdessen einen neuen Liberalismus mit einem starken Staat forderte, der den Firmen einen festen Rechtsrahmen vorgibt.
(ibid.)

Tatsächlich, solange wir in den alten Begriffsrahmen bleiben und die überkommenen Konzepte auf weitgehend geänderte Bedingungen anwenden, ist auch die Ausrichtung des Blicks auf neue Perspektiven eingeengt. Freilich ist dies nicht als Vorschlag gedacht, sich nun auf eben die Konservativen zu beziehen – die verschiedentlich in der Linken gemachten Anbiederungen an die sog. Soziale Marktwirtschaft (siehe prominent Wagenknecht, 2011). Schauen wir auf die Krisenanalyse allgemein, so lässt sich vor allem feststellen, dass neben den verschiedenen Verkürzungen der Analyse – Herausgreifen jeweils eines, wenngleich oft wichtigen Aspektes und Ausblenden des relationalen Charakters – kennzeichnend ist, dass der simple Hinweis, der Einstein zugeschrieben ist: dass man „Probleme (...) ... niemals mit derselben Denkweise lösen (kann), durch die sie entstanden sind“ schlicht immer wieder ignoriert wurde und wird. Folgende Aspekte sind als Kern zu nennen.

Hegemonialsysteme

Es geht immer wieder um die Sicherung nationaler Wettbewerbsfähigkeit bzw. nationalen Wachstums. Allerdings sollte das Festhalten am Nationalstaatsprinzip selbst für konservative Wirtschaftspolitik obsolet sein. Globalisierung hat heute sowohl mit Blick auf das Ausmaß als auch mit Blick auf den Charakter einen neuen Status, und erfordert entsprechend auch ein neues Denken. Der Slogan „Wir sind eine Welt“ ist längst nicht mehr nur eine ideologische Forderung nach der Anerkennung der Rechte anderer Länder und Regionen; vielmehr haben wir eine Stufe erreicht, die fordert, den Begriff Globalisierung selbst zu überdenken: das herkömmlich damit verbundene Verständnis von Zentrum-Peripherie-Verhältnissen ist teils fraglich geworden, auch wenn nach wie vor massive Ungleichgewichte bestehen. Neben der Neuordnung der Welt stehen Prozesse der zunehmenden Bedeutung von Semiperipherien, der Neuordnung hin zu einer unipolaren Welt oder auch  multi-polaren Welt, einer Regionalisierung als Mechanismus einer Abkapslung von Dominanzbestrebungen, dem Bestreben nach der Entwicklung von Gegenhegemonien u.a.m.

Wachstums-Manie

Der Grundsatz Wachstum scheint immer noch fraglos. Dies gilt auch, wenn man folgende Überlegungen einbezieht: Die Medien griffen den Bericht der von Sarkozy eingesetzten Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress aus dem Jahre 2009 mit einiger Aufmerksamkeit auf. Bezeichnend war für die Vorschläge, dass andere Faktoren, namentlich „Lebensqualität“ und „Nachhaltige Entwicklung und Umwelt“, neben die „klassischen BSP-Themen“ gestellt wurden. Damit wurde freilich die wichtige Frage einer wirklichen Neuformulierung der Problemstellung unter dem Titel „Messen von Wirtschaftlicher Leistung und Sozialem Fortschritt“ nicht einmal klar ausformuliert.

Wachstumsvorstellungen sind als solche verselbständigt und gelten als unhinterfragbar und allgemeingültig. Dies bezieht sich nicht nur  darauf, sie als Bedingung sine qua non anzusehen, sondern weitergehend als Kern der gesamten sozialen Fabrik. Angesichts der permanenten Überproduktion und der Überhitzung von Innovationen, mit nur geringem Gebrauchswert-steigerndem Effekt ist dies in zweierlei Hinsicht verwunderlich: zum einen wird trotz behauptetem Nachlassen des Wachstums immer noch erstaunlich viel produziert; zudem muss man sich ernsthaft fragen, wie ein solcher Wachstumsfetisch mit dem Anspruch auf eine Umorientierung auf Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Glück statt Wachstum verbunden werden kann. – Diese Diskussionen sind derzeit weitgehend ausgeblendet. Dies muss auch festgestellt werden, wenn wir uns den auch teils unter Linken zu findenden Hype um die EU-Pläne anschauen: nach wie vor wird Wachstum als nahezu einzig mögliche und universale Antwort auf die Krise akzeptiert, da damit praktische Maßnahmen vorgeschlagen sind, die den Menschen helfen, aus der Notlage der Krise herauszukommen. – Alternativen werden gesehen, aber in der Praxis zumeist nicht direkt und unmittelbar in die Debatten um das Hier-und-Jetzt eingebracht.

Allemal bestätigt dies zweierlei: die Krise ist keineswegs vorüber – es wurde ja gezeigt dass dies auch die sonst so gläubigen Hoffnungsträger der Wirtschaft so sehen; und sie wird auch nicht überwunden werden können, solange an dem Konzept festgehalten wird, welches hinter der Krise steht: Die Reduzierung komplexer politisch-ökonomischer Zusammenhänge auf ein mechanisches Gesellschaftsverständnis: Konsum bedeutet Wohlstand und Wohlfahrt, und nur durch Wachstum der Produktion für den Markt und die daraus folgende unbedingte Orientierung auf Lohnarbeit ist (mehr) Wohlstand für alle machbar.

Entbettung

Wenn zuvor von einer neuen Dimension des strukturellen Charakters der Krise gesprochen wurde, ist wichtig, die Desintegration der verschiedenen Bereiche zu betonen: Wirtschaft(en) als Kapitalverhältnis ist gewaltsam weitgehend vom Stoffwechselprozess Mensch-Natur abgetrennt und als verselbständigtes Zwangsleichgewicht angestrebt (auch wenn dies nie wirklich erreicht wird); als solches ist es ebenfalls aus den sozialen Beziehungen herausgelöst. Oder man mag auch sagen: Da Kapitalverhältnisse soziale Verhältnisse sind, sind bei Kapitalverhältnissen, wie sie aktuell sozio-politisch definiert sind, soziale Beziehungen nunmehr vollends pervertiert. Selbst Konkurrenz nimmt eine neue und weiter pervertierte Form an und wandelt sich zum infantilisierten, egomanischen, autistischen, irrationalen hominem solvi.

Karl Polanyi hat auf den komplexen Zusammenhang hingewiesen. Danach haben wir es nicht einfach mit einer Dominanz bestimmter ökonomischer Interessen zu tun. Vielmehr handelt es sich um einen relationalen Prozess, d.h. die Gesamtheit der politisch-ökonomischen (oder wenn man will: der volkswirtschaftlichen) Orientierung und Grundlagen sind auf ganz spezifische Weise definiert:

Die Marktform …, die mit einer eigenen, spezifischen Zielsetzung verbunden ist, nämlich Austausch, Tauschhandel, ist imstande, eine spezifische Institution hervorzubringen: den Markt. Dies ist letztlich der Grund, warum die Beherrschung des Wirtschaftssystems durch den Markt von ungeheurer Bedeutung für die Gesamtstruktur der Gesellschaft ist: sie bedeutet nicht weniger als die Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des Marktes. Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.
(Polanyi, 1944: 88 f.)

Dies beschreibt zugleich eine tendenzielle Verschiebung der Bedeutung des ökonomischen Prozesses selbst. Neben der von Polanyi genannten Verschiebung von Reziprozität und Umverteilung zugunsten der Dominanz des Marktaustausches findet sich eine Veränderung des Marktes selbst: steht am Anfang die Nachfrage, die erst Angebote schafft, so entsteht mit der kapitalistischen Marktgesellschaft die zunehmende Umkehrung. Schon der Grundsatz der kapitalistischen Akkumulation – und dies ist die einzige Triebkraft einer solchen Marktwirtschaft – ist die Generierung von Profit: Weder der Luxuskonsum geschweige denn die Verbesserung der Lebenssituation der breiten Masse der Bevölkerung waren Ziel, höchstens „notwendiges Begleitprodukt“. Konsum war, mit anderen Worten, notwenige, aber nicht hinreichende Bedingung. Ferner ist zu betonen, dass diese Notwendigkeit des Konsums keineswegs lokal beantwortet werden musste – eher im Gegenteil: Export bedeutet immer auch die Möglichkeit, Löhne (also potentielle Kaufkraft) im Land der Produktion niedrig zu halten. Kurz: kapitalistische Akkumulation ist die Grundlage für eine mehrschichtige Entwicklung:

 

  • von der Nachfrage- zur Angebotsorientierung der Produktion;
  • von der lokalen zur nicht-lokalen Nachfrage, also zur Betonung des Exports;
  • von der Produktion von Gebrauchsgütern zur Dienste-Erbringung
    einhergehend damit die zunehmende innere Landnahme, d.h. sowohl im Arbeitsprozess als auch im Konsumtionsprozess verdichten sich die Poren der kapitalistischen Durchdringung (Marx, 1867: z.B. 360 f., 432, 787 f.).

Zusammengenommen bedeutet dies, dass der Akkumulationsprozess zunehmend reflexiv wird – die Finanzialisierung ist der krasse Ausdruck dieser Entwicklung, Produktion, und die damit verbundene Verbindung zum wirklichen Leben mit Bedürfnissen und Problemen wirklicher Menschen, erscheint fast als Störfaktor des ansonsten selbstreferentiellen Prozesses des Finanzsystems. Vor diesem Hintergrund sind auch Orientierungen auf grünes Wachstum, einen new green deal, social investment, Lokalwährungen u.ä. problematisch, solange das Grundmuster kapitalistischer Akkumulation dabei unangetastet bleibt.

Wohlstand als Glück

Trotz – und wegen – dieser Verfahrenheit um massive Ungleichheit, Kürzungen und Unterversorgung gibt es eine Debatte um Lebensstil und Wohlbefinden etc.
Kritisch ist hervorzuheben, dass diese Debatten oftmals in einer gefährlichen Richtung verlaufen, denn so wie einerseits Wachstum überbetont wird,  so wird andererseits nun vielfach ein Teil des Lebens als Glücksache dargestellt: als ob wir alle genug hätten und als ob die Entscheidung über Lebensstil Privatsache sei und alles von subjektiven Empfindungen und willentlichen Entscheidungen abhänge. Und ebenso problematisch ist, wenn von einer hegemonialen Lebensweise gesprochen wird, die als Machtfrage über Lebensstil eingestuft scheint, ohne dies konkret im Zusammenhang mit der Entwicklung der Objektivität der Produktivkräfte zu sehen.

Wichtig ist, das eine Entbettung bzw. Wiedereinbettung tatsächlich die gesamte Qualität des Wirtschaftens und der Wirtschaftsbeziehungen betrifft, nicht nur die Frage des Konsums. Soweit Kapitalverhältnisse Sozialverhältnisse sind, soweit würden durch eine solche „Umkehr“ nun gleichsam die Sozialverhältnisse zu Kapitalverhältnissen. Was das konkret bedeutet, ist hier nicht Thema – ein oft vernachlässigter Faktor besteht darin, dass die Möglichkeit, wie die enormen Produktivkräfte genutzt werden könnten, weitgehend ausgeblendet bleibt. Die Diskussion darf sich aber nicht allein auf eine „neue Bescheidenheit“ orientiert sein – oder auf eine „vernünftige Produktion und Konsumweise“. Es geht zentral darum, zu überlegen, wie denn die bestehenden Potenziale anders ausgenutzt werden können. Dies bezieht sich vor allem auf die folgenden gesellschaftlichen Säulen:

  • sozio-technisches Potenzial, d.h. die Nutzung von technischen Mitteln im Stoffwechselprozess mit der Natur
  • Umverteilung des bestehenden privaten Reichtums zugunsten der unteren und mittleren Einkommen
  • gesellschaftliche Umverteilung des Reichtums von der Privatsphäre zur öffentlichen Sphäre, nicht zuletzt als Frage von Steuerpolitik sowie in der Folge der Produktion öffentlicher Güter
  • schließlich die Eröffnung einer neuen Rechtsdimension, namentlich des Rechtes zur selbstbestimmten, aber auch gesamtverantwortlichen Produktion
  • Bankenkontrolle, vor allem mit der Verpflichtung auf  Nachhaltigkeit und Gebrauchswertbindung.

Wiederum gilt: alles ist zusammenzudenken – Einzelmaßnahmen müssen den Gesamtzusammenhang immer mitdenken. Als ein wichtiger Baustein für weitere Überlegungen ist etwa die Vier-in-Einem-Perspektive, wie sie von Frigga Haug erarbeitet wurde, hervorzuheben. Es geht dabei darum, „Zeit, Wohlstand und Arbeit neu (zu) definieren“.

Es gilt nicht, neue Arbeit aus dem Hut zu zaubern, sondern die vorhandene Arbeit gerecht zu verteilen. Das meint, dass wir uns alle menschlichen Tätigkeiten – im Erwerbsleben, in der Reproduktion, in eigener Entwicklung und in der Politik – auf die Einzelnen in gleichen Proportionen verteilt denken. Wir gehen zunächst hypothetisch von einem 16-Stunden-Arbeitstag aus. In ihm haben die vier Dimensionen des Lebens, idealtypisch gerech- net, jeweils vier Stunden Raum. Das ist nicht mechanisch gedacht und mit der Stoppuhr abzuleisten, sondern dient als eine Art Richtschnur.
(Haug, 2014: 33)

Krisenbewältigung oder „Abschaffung der Krise“

Die Perversion sowohl der Krise als auch der Befangenheit bei der Suche nach Auswegen lässt sich in Folgendem mit einem Wortspiel auf den Punkt bringen:
Excessive cheap production and low fare trade, being a major feature of quantitative growth strategies are established on the strategies of sheep advertising and “low fair production”.
(Herrmann, 2014 a, mit Beug auf: Carvajal, 2006)

Es geht um das Festhalten an der Wachstumsbesessenheit, die sich selbst und vielleicht sogar besonders stark in manchen Bereichen zeigt, die beanspruchen Alternativen zu gehen. Ein Blick auf einige Beispiele zeigt die „Perversion des Widerspruchs“ bzw. die „Dialektik der Perversion“: als „grüne Politik“ wird nun vorgestellt, Schafe als Werbeträger für mehr Wachstum einzusetzen – auch wenn es sich in dem genannten Verweis auf den Artikel in der NYT um Werbung für Hotels handelt, so mag man immer noch an die Umweltbelastung durch die Anreise denken. Angebliche „Gerechtigkeit und Umverteilung“ geht mit tatsächlicher Ausgrenzung anderer einher: Supermärkte mit Billigprodukten wie Lidl, Aldi, Primark ermöglichen weiterhin Massenkonsum, sind aber mit Bezug auf Arbeitsbedingungen gleichzeitig an extreme Ausgrenzung gebunden.
Freilich geht es nicht um Primark oder einzelne Unternehmen, sondern um die Gesamtstruktur – und diese ist nach wie vor auf eine Ausweichstrategie gerichtet.

So bringt der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie, Uwe Mazura, folgende Position vor:

Im Kern geht es darum, die Sozial- und Umweltbedingungen der internationalen Bekleidungsindustrie und die Lebenssituation der Menschen in den Produktionsländern nachhaltig zu verbessern. Dieses Ziel teilen wir ausdrücklich. Die mittelständischen deutschen Unternehmen haben aber nur sehr wenige eigene Fabriken, sondern lassen Kleidung bei lokalen Produzenten herstellen. Wir sind nicht Arbeitgeber, sondern Auftraggeber.
(Siems, 2014)

Nun ist die Darstellung von Ausbeutung als Sozialleistung nicht neu. Und es sollte auch nicht wirklich wundern, dass heute ein beachtlicher Teil des Kleidungshandels in Geschäften wie etwa Lidl oder Tchibo abgewickelt wird. Die Arbeitsbedingungen dort sollten bei allem nicht vergessen werden, auch wenn sich ein Betrieb wie KiK-Textilien wie ein Umweltschutz- und Sozialwerk darstellt.

Für die weitere Entwicklung und das Denken über Perspektiven ist dies von besonderer Bedeutung, denn zumindest deutet es drauf hin, dass neue Legitimationsmuster erforderlich sind.

Ebenso ist von großer Bedeutung, was bereits früher angesprochen wurde: die Entwicklung hin zur Dienste-Erbringung sowie einhergehend damit die innere Landnahme auf einer qualitativ neuen Stufe. Ist dies einerseits schlicht eine Frage der weiteren Durchsetzung kapitalistischer Hegemonie, so zeigt sich andererseits darin das bestehende Potenzial. Es ist vermutlich nicht übertrieben, aus einer umfassenden Krisenanalyse heraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass nun tatsächlich und unmittelbar jenes Stadium erreicht ist, von dem Marx bereits sprach:

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. … Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.
(Marx, 1859: 9)

Eine solche Schlussfolgerung ist auch im Lichte einer andernorts geführten Diskussion einleuchtend: die Frage der Möglichkeit und Bedeutung eines Kapitalismus in einem Land (see Herrmann/Bobkov, forthcoming). Es geht darum, dass das System Eine Welt – Ein Kapitalismus, eine nahezu vollständige globale Hegemonialstellung die Strukturen für Vieles und Viele ändert: die früher eindeutige bi-polare Struktur und der darin angelegte Systemwettbewerb, die   Bedingungen, die die „Entwicklung von Unterentwicklung“ (Frank) fallen als Faktoren einer gewissen „Humanisierung“ zumindest innerhalb des globalen Nordens fort.
Damit ist es gerechtfertigt, den Blick auf die gegenwärtige Entwicklung gleichsam ins Positive zu wenden. Wichtig ist, dies nicht nur als Frage einer notwendigen moralischen Wende zu sehen, sondern als Wende, die sich aus der Entwicklungsstufe der Produktivkräfte und der objektiven Sozialisierungsdimension ergibt. Die These, die dem zugrunde liegt, setzt sich aus mehreren Elementen zusammen – zum einen handelt es sich um ein Set von Potentialen, zum anderen um ein Set von Notwenigkeiten, die im Folgenden in Stichworten genannten werden.

Die grundlegende These lautet, dass wir es mit einer schwerwiegenden Verschärfung der Entwicklung und des Entwicklungsmodells selbst zu tun haben – der Begriff Krise ist zu schwach, dies zu fassen. Dies birgt die reale Gefahr von innerer und äußerer Gewalt sowie sozialem Notstand in sich. Es  bedeutet zugleich, dass vor allem von einer breiten linken Bewegung auf die bestehenden Möglichkeiten orientiert werden muss. Die Orientierung auf den status quo ante, also die bedingungslose Wiederherstellung der früheren Konstellation, bedeutet auf jene Bedingungen zu setzen, die letztlich der gegenwärtigen Situation zugrunde liegen.

Potentiale

Sowohl national als auch regional und zunehmend global finden wir einen enormen Reichtum, der freilich leicht hinter  der enormen Ungleichheit und damit der umgekehrt bestehenden Armut vergessen wird; Privat- und Unternehmensvermögen reichen nicht selten über die Ressourcen von Staatshaushalten selbst großer Länder – kurz „Es reicht für alle“.
Dabei sind Well-being, Buen vivir, Quality of Life, und viele ähnliche Schlagworte und Konzepte letztlich Ausdruck einer Unzufriedenheit mit dem materiellen Überfluss und der einseitigen utilitaristisch-individualistischen und „materialistischen“ Orientierung des Lebens, wo der Einstein zugeschriebene Grundsatz: „Nicht alles was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles was gezählt werden kann, zählt!“ schlicht über Bord geworden ist; Unzufriedenheit gibt es aber auch zunehmend auf der Seite jener, die ausgegrenzt sind, zugleich diese Ausgrenzung in direkter Konfrontation mit dem Wohlstand, den vorenthaltenen Möglichkeiten erfahren; all dies ist nicht einfach eine Frage subjektiver Unzufriedenheit und empfundener Sinnlosigkeit; dahinter steckt mehr die damit einhergehende und dadurch bedingte tatsächliche Machtlosigkeit, denn wir können viel machen, aber wenig bewirken – kurz „Allen reicht es“.

Capabilities, human resources, social capital, buen vivir, gutes Leben, Glücksforschung, social quality und andere Stichworte markieren die Suche nach Wegen, die in ihrer Beurteilung über eine Messung eng gefasster ökonomischer Leistungsfähigkeit hinausgehen. Alle weisen, sicher in sehr verschiedener Art, auch darauf hin, dass sich die objektive Grundlage des politisch-ökonomischen Prozesses verändert hat. Entfremdung ist nicht zuletzt zu einem objektiven Faktor geworden: die Kontrolle über den Stoffwechsel mit der Natur ist allseits außer Kontrolle geraten, technische Möglichkeiten positiver Steuerung schlagen in ihr Gegenteil, d.h. die Akkumulation von nicht-intendierten Handlungsfolgen um; damit werden die Grundlagen des Lebens zerstört, namentlich die Notwendigkeit zum und Fähigkeit des Sozialen, verstanden als Produktion- und Reproduktion des täglichen Lebens aller Menschen. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass der heute erreichte Entwicklungsstand teils durchaus erlaubt, hergebrachte arbeitsteilige Prinzipien zu brechen – in vielen Bereichen findet dies ja durchaus auch bereits statt. Interessant ist, dass es sich zwar zu einem Grossteil um kleine und begrenzte Aktivitäten handelt (etwa Nischen eines alternativen Lebens, wie sie von einigen besetzt werden; oder die Ausprägung mancher  Freizeitaktivitäten), zu einem anderen Teil sind es aber auch Momente, die sich in bestimmten traditionellen Produktionsrahmen gleichsam einnisten: die verschiedentlich beschriebenen paradiesischen Arbeitsbedingungen bei google sind selbst dann bemerkenswert, wenn zumindest die Hälfte solcher Beschreibungen zutreffend ist – kurz „Alle zusammen reichen“ und die wirklich gemeinsame Suche nach Perspektiven kann anstehende Probleme überwinden. – All dies zeigt auch, dass es nicht um Maßhalten oder das Durchbrechen bestehender Logiken geht, sondern darum, konkret Bedingungen zu schaffen, die einer anderen Logik folgen und in der die Logik anderes produziert wird; öffentliche Güter sind eines der zu nennenden Beispiele, ein anderes ist die Sozialwirtschaft – „Es reicht zu mehr als reiner Existenzsicherung“. Dieser objektive Character weist freilich auch auf die Problematik hin: es ist immer leicht, einen Konsens au allgemeinen Stellungnahmen zu bestimmten Werte zu finden: alles sind für Gerechtigkeit etc., aber wenn es um die materiale Seite geht, wird es schnell schwer, dies auch zu definieren und umzusetzen.

Nicht zuletzt sind die Produktivitätspotentiale genauer zu betrachten – tatsächlich ist global die Arbeitszeit massiv verkürzt,28 zugleich ist das Problem die extrem ungleiche Verteilung sowohl in nationaler und regionaler als auch in globaler Perspektive – kurz „Es müsste weiter reichen als ‚Wohlstand’ und ‚Glück’ für Individuen einer kleinen Gruppe zu schaffen“.

Notwendigkeiten

Der Bruch zwischen selbstreferentiellen „Wirtschafts“-Systemen und dem Stoffwechsel mit der Natur führt zunehmend an Grenzen. Ob man Katastrophenerwartungen oder eher gemäßigte Analysen heranzieht, es wird nirgendwo ernsthaft bestritten, dass bedeutende Grenzen dieser Wirtschaftsweise erreicht sind: Man mag dies als Grenzen des Wachstums, als Grenzen einer gleichsam feindlichen Gegenüberstellung von Mensch und Umwelt oder als Grenzen der Entfremdungsfähigkeit sehen – konkret haben die jeweiligen Interpretationen je spezifische Perspektiven, aber gemeinsam ist die eine Schlussfolgerung: dringend geboten ist eine Umorientierung.

Hiermit in Zusammenhang steht die Frage nach Generationengerechtigkeit al einem weiteren Feld, von welchem eine Notwendigkeit abgeleitet werden kann. Auch wenn die Solidargemeinschaft nie eindeutig und problemlos bestand, so kann heute selbst kaum von einem Schein einer solchen Gemeinschaft gesprochen werden, wenn wir an die materielle Seite denken: hier geht es nicht (allein) um die Tatsache, dass wir die Welt nur von unseren Kindern geliehen hätten, sondern darum, dass Alterssicherungssysteme, Gesundheitsversorgung, Ausbildungssysteme u.ä. kurzfristig ausgerichtet sind und weder finanziell noch substantiell Perspektiven bieten, die auf die Zukunft gerichtet sind.
Fürderhin: Globale Konfliktzuspitzung mag sich heute in Dimensionen, die hoffen lassen, dass der Umschlag  in einen neuen Weltkrieg unwahrscheinlich ist – wenngleich ein die reale Gefahr sicher keineswegs vollständig von der Hand zu weisen ist. Allemal sind ganz zahllose akute Konflikte zu verzeichnen. – Ein hier ebenfalls zu nennender Faktor besteht in Re-Regionalisierungs- oder Re-Nationalisierungsbestrebungen – wie auch immer man dies im Einzelnen beurteilen mag, so handelt es sich am Ende doch um nichts anderes als den Versuch, einem „empfundenen Dauerkonflikt“ zu entkommen – Schottland ist hier nun ein Beispiel, welches unter vielen genannt werden muss. Und es handelt sich um Bestrebungen der Machteignung. Dabei geht es um komplizierte Beziehungen verschiedener Hegemonien innerhalb von abgegrenzten Bezugseinheiten und über deren Grenzen hinweg: Nationen gegen Nationen; Identitäten; Religionen gegen Religionen ..., und immer wieder und damit verbunden das auch bewusste Verwischen und Verleugnen von Klasseninteressen.

Schließlich besteht ein zunehmend drängendes Problem in der Orientierung auf sogenannte governance sowie neue Formen bei der Bestimmung von Öffentlichem und Privatem, Rechten und Pflichten, formalen und tatsächlichen demokratischen Rechten. So schwer natürlich die Probleme rigider überkommener Muster wiegen, so muss doch auch gesehen werden, dass die governance- und stakeholder-Prinzipien nur eine Anwendung der Prinzipien der Wirtschaftsführung im politischen Bereich sind und derzeit eine massive Drohung durch Entrechtlichung besteht, die sich dann im Lichte der Demokratie und Wohltätigkeit zeigt: Bill and Melinda Gates und Bertelsmann sind gerade einmal zwei Beispiele. Die genannte deutsche Stiftung ist vielleicht noch bemerkenswerter, da sie für unsagbare politische Einflussnahme im „Geiste neuer Gemeinschaftsbildung“ steht. Dagegen sind klare demokratische und rechtliche Regelungen zu entwickeln, die solche Verfahren privater Machtaneignung unterbinden.

First Things First ... – was sollte auf die Tagesordnung gesetzt werden?

1. Investitionen stehen ganz oben auf der Tagesordnung, ist doch Wachstum hier und heute das oberste Gebot – auch im Sinn der unmittelbar erforderlichen Problemlösung für die krisen-betroffenen Menschen und Regionen. Allerdings ist dies zu qualifizieren: es geht dabei nicht schlicht um monetäre Investitionen im herkömmlichen Verständnis, sondern um die Etablierung von Mechanismen, die qualitatives Wachstum und qualitative Umorientierungen ermöglichen. Das kann auch “Wachstumsumverteilung bedeuten  Sowohl die Entwicklung bei der Übernahme der seinerzeitigen DDR-Wirtschaft durch die BRD als auch die jüngeren Erfahrungen vor allem im Zusammenhang mit Griechenland zeigen, dass dies durchaus möglich ist – nur: in den genannten Fällen erfolgt es nach dem Prinzip der weiteren einseitigen Akkumulation von Produktionspotenzialen und ganzen Volkswirtschaften – dies in umgekehrter Weise zu betreiben muss Ziel einer alternativen Investiti0onsstrategie werden. Wichtig ist dabei die Gewährleistung öffentlicher Kontrolle. Es ist sicherzustellen, dass private Investitionen nicht genau das wieder aufbauen, was die akute Krise verursacht hat: kurzfristig orientierte hohe Gewinnmargen, die den Aufbau einer langfristig-orientierte Infrastruktur verhindern.

2. Auch wenn Investitionen großen Ausmaßes gefordert sind, so bedeutet dies nicht, dass dies auch Großinvestitionen sein müssen – gerade dies ist mit der eben genannten Qualifizierung gemeint. Eher sind gerade durch kleine „Projekte“ bestehende Produktivkräfte in qualitativer Weise zu ändern. Dies bezieht sich etwa auf Vorhaben der Stadt- und Regionalentwicklung, der Produktionskonversion sowie der Änderung der Produktionsorganisation, etwa durch Förderung von Genossenschaften.

3. Öffentliche Infrastrukturen sind direkt und hoch auf der Tagesordnung anzusetzen: Bildung, Kinderbetreuung, Gesundheitswesen ... – diese sind nicht nur auszuweiten, sondern unter öffentlicher auch qualitativ auszubauen – besser ausgebildete Politik- und Wirtschaftsverantwortliche hätten uns sicherlich einiges an Krisenlast erspart.

4. Bankenkontrolle ist erforderlich, muss aber weit über Regulierungen der Spekulationskontrolle hinausgehen. Zentral ist die „Wieder-Einbettung“ von Finanzgeschäften in den Produktions- und Reproduktionszusammenhang menschlicher Existenz – als solche sind Bankgeschäfte betroffen, die die Finanzierung von Unternehmen als auch von privaten Haushalten betreffen. Öffentliche und genossenschaftliche Verantwortung sind zu stärken.

5. Neben der Bankensteuerung ist die Schaffung eines neuen Geldsystems und eines neuen internationalen Koordinierungsmechanismus ein dringendes Gebot.

6. Dringend geboten ist, die globale Dimension tatsächlich Ernst zu nehmen – dies bedeutet, dass der „Weltmarkt“ als Angelegenheit einer Weltgesellschaft zu begreifen ist – ein Schritt um eine solche Perspektive zu entwickeln, kann die Einführung einer globalen Budgetierung sein, die alle Kosten und Gewinne, auch nicht-monetäre, offenlegt.

7. Es ist dabei zu überlegen, in welcher Weise neue Budgetierungs- und Buchhaltungsverfahren zu entwickeln sind, die „soziale Investitionen“ aus der Definition von Verschuldung ausklammern.

8. Demokratie ist auch als eine Frage der Wirtschaftspolitik zu begreifen. Wichtig ist vor allem die (Re-)Etablierung betrieblicher Mitbestimmung – dabei sind Bedingungen sicherzustellen, frei von Druck sind, um z.B. eine Erpressung durch Verlagerungsdrohung zu verhindern. Die Forderung nach internationalen Betriebsräten ist ein wichtiges Element.

9. Arbeitszeitverkürzung ist ein dringendes Gebot der Stunde – sie darf aber nicht rein mechanisch erfolgen, sondern muss genutzt werden, um im Sinn der Haug’schen Vier-in-einem-Perspektive an die objektiven Bedingungen anknüpfend eine neue Sozialordnung zu schaffen.

10. Umverteilung jetzt ist gleichsam die letzte, und zugleich wichtigste Forderung – verschiedene Mittel sind denkbar, nicht zuletzt ist eine Steuerpolitik gefordert, die (i) dem Umverteilungserfordernis gerecht wird und (ii) verantwortlich als Steuermittel eingesetzt wird. Verantwortlich bedeutet dabei auch die Forderung nach demokratischer Kontrolle – Lokal-Budgets sind in diesem Licht zu untersuchen.

Peter Herrmann lehrt als Sozialphilosoph in Rom. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac. Der Artikel wird demnächst als Teil seines neuen Buchs "Opening Views against the Closure of the World" im Wiener Verlag für Sozialforschung  erscheinen.