Attac-Stellungnahme
zum Kompromiss-Vorschlag für die Abstimmung der DLRL
im Europa-Parlament am 16. Februar 2006
Wichtige aktuelle Änderungen am Kommissionsentwurf
Dieser Text bietet eine erste Übersicht wichtiger Änderungen, die im Europäischen Parlament zur Dienstleistungsrichtlinie diskutiert werden. Er beschränkt sich dabei vor allen auf die Änderungen, die an den Artikeln 1 (Gegenstand), 2 (Geltungsbereich) und 16 (ursprünglich Herkunftslandprinzip) diskutiert werden. Er ist sehr kurz nach Veröffentlichen der neusten Kompromisse zwischen den beiden größten Fraktionen im EP erschienen, so dass die darin enthaltenen Bewertungen notwendigerweise unter Vorbehalt stehen und noch einer tiefergehenden Analyse bedürfen. Alle Angaben sind deshalb auch ohne Gewähr.
Bei allen Änderungsvorschlägen ist zu berücksichtigen, dass es sich nur um Vorschläge handelt, die bisher keineswegs beschlossen wurden. Selbst wenn es dafür eine Mehrheit im Europäischen Parlament geben sollte, ist noch keineswegs gesichert, dass sie auch bei der Abstimmung im Ministerrat Bestand haben.
Auch wenn die meisten der diskutierten Änderungsvorschläge prinzipiell in die richtige Richtung gehen, sollte dabei nach wie vor nicht vergessen werden, dass der eigentliche Ansatz der Richtlinie, eine weitere Liberalisierung im Binnenmarkt zu bewirken, nach wie vor in die falsche Richtung geht. Die Richtlinie hat vor allem das Ziel, die Mobilität von Dienstleistern und die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung zu fördern. Sie setzt dabei trotz aller zusätzlichen Ausnahmen nach wie vor einseitig auf Deregulierung, statt eine Harmonisierung auf möglichst hohem Niveau anzustreben.
Trotz allem handelt es sich dabei im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf der EU-Kommission um spürbare Verbesserungen, die zeigen, dass die Kampagne von Attac, Gewerkschaften und anderen nicht ohne Wirkung bleibt.
Artikel 1 (Gegenstand)
Der Kommissionsentwurf stellte nur fest, dass die Richtlinie allgemeine Bestimmungen aufstellt, „die die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit durch Dienstleistungserbringer sowie den freien Dienstleistungsverkehr erleichtern sollen.“
Bereits im Binnenmarktausschuss wurden einige Ergänzungen beschlossen, die den Geltungsbereich der Richtlinie einschränken:
Es wurde klargestellt,
- dass dies „bei gleichzeitiger Gewährleistung einer hohen Qualität der Dienstleistungen“ geschehen soll;
- diese Richtlinie weder die Liberalisierung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse noch die Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen betrifft, die solche Dienstleistungen erbringen (auch die Gemeinschaftsbestimmungen über Wettbewerb und Beihilfen sollen davon unberührt bleiben);
- diese Richtlinie nicht die Maßnahmen beeinträchtigt, die auf gemeinschaftlicher oder nationaler Ebene ergriffen werden, um die kulturelle oder sprachliche Vielfalt oder den Pluralismus der Medien zu schützen oder zu fördern;
- diese Richtlinie nicht das Arbeitsrecht beeinträchtigt, insbesondere nicht bestehende Bestimmungen über die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern, einschließlich des Rechts auf gewerkschaftliche Maßnahmen und das Recht auf Kollektivvereinbarungen;
- die Richtlinie nicht die nationale Sozialgesetzgebung in den Mitgliedstaaten betrifft.
In dem jetzt ausgehandelten Kompromiss findet sich außerdem:
- Eine weitergehende Einschränkung zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse:
This Directive shall not deal with the liberalisation of Services of General Economic Interest reserved to public or private entities nor with the privatisation of public entities providing services.
This Directive does not deal with the abolition of monopolies providing services nor aids granted by the Member states which are covered by common rules on competition.
This Directive does not affect the freedom of Member states to define, in conformity with Community law, what they consider to be services of General Economic Interest, how those services should be organised and finances and what specific obligations they should be subject to.
- Zu sozialen Dienstleistungen
This Directive does not affect services pursuing a social welfare objective.
- Zum individuellen und kollektiven Arbeitsrecht findet sich die folgende Klarstellung:
This Directive shall not apply to or affect labour law, i.e any legal or contractual provision concerning employment conditions, working conditions, including health and safety at work, and the relationships between employers and workers. In particular it shall fully respect the right to negotiate, conclude, extend and enforce collective agreements, and the right to strike and to take industrial action according to the rules governing industrial relations in Member States. It shall also not affect national social security legislation in the Member States.
- Zu den Grundrechten, insbesondere dem Streikrecht findet sich die folgende Klarstellung:
This Directive shall not be interpreted as affecting in any way the exercise of fundamental rights as recognized in the Member States and in the EU Charter of Fundamental Rights, including the right to take industrial action.
- Außerdem wird klargestellt, dass von dieser Richtlinie das Strafrecht der Mitgliedsstaaten nicht betroffen ist.
Kurzbewertung
Grundsätzlich gehen alle Änderungen in die richtige Richtung. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse ganz von der Richtlinie ausgenommen worden wären. Durch den jetzigen Text können leicht Widersprüche entstehen, wenn bestimmte Bedingungen, die in der Richtlinie für Ausschreibungen und Genehmigungen vorgesehen sind, auch auf diese Dienstleistungen Anwendung finden.
Artikel 2 (Geltungsbereich)
Der Kommissionsentwurf galt grundsätzlich für alle Dienstleistungen, die von einem Dienstleister, der in einem der Mitgliedsstaaten niedergelassen ist, erbracht werden. Es gab nur drei Ausnahmen:
- Finanzdienstleistungen, die bereits in einer eigenen Richtlinie geregelt sind;
- Dienstleistungen und Netze der elektronischen Kommunikation sowie zugehörige Einrichtungen und Dienste, die bereits in einer eigenen Richtlinie geregelt sind;
- Dienstleistungen des Verkehrs, die bereits in einer eigenen Richtlinie geregelt sind.
Außerdem sollte der Richtlinienentwurf für das Steuerwesen das Herkunftslandprinzip einführen.
Im Binnenmarktausschuss wurden die drei Ausnahmen etwas präziser gefasst und weitere hinzugefügt
- Satt Finanzdienstleistungen einer Richtlinie war von Dienstleistungen im Zusammenhang mit Bankgeschäften, Krediten, Versicherungen, beruflicher und privater Altersvorsorge Geldanlagen oder Zahlungen und ganz allgemein die im Anhang einer Richtlinie über die Ausübung und Aufnahme von Kreditinstituten aufgeführten Dienstleistungen die Rede.
- Die Ausnahme der Dienstleistungen und Netze der elektronischen Kommunikation wurde auf solche erweitert, in die in den besagten Richtlinien zusätzlich Bezug genommen wird.
- Bei den Dienstleistungen des Verkehrs wurden Geldtransporte und der Transport Verstorbener explizit von den Ausnahmen ausgenommen.
Die erfreulichsten zusätzlichen Ausnahmen sind dort:
- Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge;
- Gesundheitsdienstleistungen;
- Dienstleistungen im audiovisuellen Bereich, ungeachtet der Art ihrer Herstellung, Verbreitung und Ausstrahlung, einschließlich Rundfunk und Kino;
- Der Steuerbereich wurde komplett von der Richtlinie ausgenommen:
Außerdem wurden ausgenommen:
- Dienstleistungen von Rechtsanwälten;
- Berufe und Tätigkeiten, die dauerhaft oder vorübergehend mit der Ausübung von Amtsgewalt in einem Mitgliedstaat verbunden sind, insbesondere Notare;
- Gewinnspiele, die einen Geldeinsatz bei Glücksspielen verlangen, einschließlich Lotterien, Spielkasinos und Wetten;
Der Kompromissantrag sieht zusätzlich als Ausnahmen vor:
- Zeitarbeit (temporary work agencies);
- Wachdienst (security services);
- Verkehrsdienstleistungen werden jetzt doch vollständig ausgenommen, wobei explizit Taxis, Nahverkehr und Ambulanzen erwähnt werden;
- Hafendienstleistungen;
Bewertung
Auch hier gehen alle Änderungen grundsätzlich in die richtige Richtung. Größtes Manko ist nach wie vor, dass Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse bei den Ausnahmen fehlen.
Artikel 4 Begriffsbestimmung
Zur Begriffserläuterung der immer wieder im Entwurf auftauchenden „zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses hieß es schon zur Klarstellung im Papier des Binnenmarktausschusses:
„zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses“ unter anderem die folgenden Gründe: Schutz der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Gesundheit, Schutz der Verbraucher, der Dienstleistungsempfänger, der Arbeitnehmer und der Umwelt einschließlich des städtischen Lebensraums, Gesundheit der Tiere, Schutz des geistigen Eigentums, Bewahrung des nationalen historischen und künstlerischen Erbes, Verwirklichung sozial- und kulturpolitischer Zielvorgaben;
Diese Erläuterung wurde in der Version des Kompromissantrags durch weitere Tatbestände ergänzt:
“overriding reasons relating to the public interest”: the notion of overriding reasons relating to the public interest to which reference is made in this Directive covers inter alia the following grounds: the protection of public policy, public security, public safety, public health, preserving the financial equilibrium of the social security system, including maintaining balanced medical care available to all, the protection of consumers, recipients of services, workers, fairness of trade transactions, combating fraud the protection of the environment including the urban environment, the health of animals, intellectual property, the conservation of the national historic and artistic heritage or social policy objectives and cultural policy objectives;
Artikel 16 (ursprünglich Herkunftslandprinzip, jetzt „Freizügigkeit für Dienstleistungen)
Die Neufassung lautet jetzt:
1. Member states shall respect services providers’ rights to provide a service in another Member state than where they are established.
The Member state into which the service is provided shall ensure free access to and free exercise of a service activity within its territory.
Member States shall not make access to or exercise of a service activity in their territory subject to compliance with any requirements which do not respect the following principles:
(a) non-discrimination: the requirement must be neither directly nor indirectly discriminatory with regard to nationality or, with regard to legal persons, to the Member state where they are established,
(b) necessity: the requirement must be justified for reasons of public policy or public security or for the protection of the health and the environment,
(c) proportionality: the requirements must be suitable for securing the attainment of the objective pursued, and must not go beyond what is necessary to attain this objective, 2. Member States may not restrict the freedom to provide services in the case of a provider established in another Member State, in particular, by imposing any of the following requirements:
(a) an obligation on the provider to have an establishment in their territory ;
(b) an obligation on the provider to obtain an authorisation from, their competent authorities, including entry in a register or registration with a professional body or association in their territory, except en cases provided for in this Directive or other instruments of Community law;
(c) a ban the provider setting up a certain infrastructure in their territory, including an office or chambers, which the provider needs to supply the services in question ;
(d) the application of specific contractual arrangements between the provider and the recipient which prevent or restrict service provision by the self-employed;
(g) an obligation on the provider to possess an identity document issued by its competent authorities specific to the exercise of a service activity;
(h) requirements, unless those necessary for health and safety at work, which affect the use of equipment and material which is an integral part of the service provided;
(i) restrictions on the freedom to provide the services referred to in Article 20;
3. These provisions do not prevent the Member state into which the service provider moves from applying the requirements with regard to the provision of a service activity, where they are justified for reasons of public policy, public security, social policy, consumer protection, environmental protection and public health, nor do these prevent Member states to apply, in conformity with Community law, their rules on employment conditions, including those laid down in collective agreements.
4. By five years after the entry into force of this Directive at the latest, the Commission shall, after consultation of the Member States and the Social Partners at European level, submit to the European Parliament and the Council a report on the application of this article, in which it shall consider the need for proposing harmonization measures regarding service activities covered by this Directive.
Bewertung
Abschnitt 1 deckt sich auf den ersten Blick mit der bestehenden Systematik, mit der der EuGH bei Streitfällen im freien Dienstleistungsverkehr richtet. Allerdings erkannte der EuGH grundsätzlich alle Rechtfertigungsgründe an, die ein „zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses“ darstellen (siehe dazu die Liste von Gründen zur Begriffserläuterung in Artikel 4). Diese Liste wird eingeschränkt auf Schutz der öffentliche Ordnung, Schutz der öffentlichen Sicherheit, Gesundheitsschutz und Umweltschutz. Größter Fortschritt im Vergleich zu den bisherigen Entwürfen ist, dass jetzt für Belange des Umweltschutzes generell die Anwendung von Regeln des Tätigkeitslands ermöglicht wird und nicht nur, wenn sie mit spezifischen Anforderungen des Orts verbunden sind. Durch Abschnitt 3 wird diese Liste ergänzt durch Sozialpolitik, Verbraucherschutz und Beschäftigungsbedingungen inklusive derjenigen, die in Tarifverträgen niedergeschrieben sind, wenn sie mit den Gemeinschaftsbestimmungen in Einklang stehen.
Auch Abschnitt 2 dürfte weitgehend auf Einzelfallentscheidungen des EuGH zurückgehen, wobei vermutlich auch hier die Rechtsetzungskompetenz der Mitgliedsstaaten im Vergleich zum Status quo eingeschränkt wird.
Insgesamt dürfte dieser Artikel den Mitgliedsstaaten deutlich mehr Spielraum lassen eigene Regelungen auf ausländische Dienstleistungserbringer anzuwenden, als er in den bisherigen Entwürfen vorgesehen war, allerdings weniger, als sie es ohne diese Richtlinie hätten. Insofern wird das Herkunftslandprinzip zwar aufgeweicht, aber nicht abgeschafft.
Stephan Lindner, Mitglied im Koordinierungskreis von Attac Deutschland, stlindner@ipn.de
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