Antwort von MdEP Dr. Anja Weisgerber (Schwebheim) auf Mails von Attac
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An die attac-Mailingliste
Schweinfurt, 8. Februar 2006
Sehr geehrte Damen und Herren,
am 16. Februar 2006 wird das Europäische Parlament über die umstrittene
Dienstleistungsrichtlinie abstimmen. Kaum ein anderes Gesetzesprojekt auf europäischer Ebene
ist so kontrovers und auch teilweise sachlich falsch diskutiert worden wie diese Richtlinie. Ich möchte
Ihre Mail vom 1. Februar zum Anlass nehmen, Sie umfassend über den Stand der Beratungen so
kurz vor der Entscheidung zu informieren.
Der Binnenmarktausschuss hat im November den Entwurf der Kommission gründlich überarbeitet und verändert. Der ursprüngliche Kommissionsentwurf, auf den sich immer noch der überwiegende Teil der in den Medien und Verbänden geäußerten Kritik bezieht, ist damit vom Tisch.
Grundlage der weiteren Beratungen stellt die Fassung des Binnenmarktausschusses dar. Durch die
dort beschlossenen Änderungen schafft das Europäische Parlament eine ausgewogene Richtlinie,
die den berechtigten Bedenken der Kritiker genauso Rechnung trägt wie dem Ziel, einen
europäischen Binnenmarkt für Dienstleistungen zu schaffen.
Die CDU/CSU-Gruppe und die EVP-ED-Fraktion sind mit den nun selbst vorgeschlagenen und den
mitgetragenen Kompromissen in deutlicher Weise auf die Forderungen von Handwerk,
Bauindustrie und Gewerkschaften zugegangen, die große Vorbehalte gegen die Richtlinie hatten.
Alle ihre Anregungen konnten aufgenommen und in den nun zur Entscheidung vorliegenden
Richtlinienentwurf eingearbeitet werden. Trotz der teilweise wenig sachlichen und damit auch wenig
hilfreichen Diskussionen innerhalb und außerhalb des Parlaments haben die politischen Lager im
Europäischen Parlament nun zu einem sachgerechten Ausgleich der unterschiedlichen
Interessen und Zielsetzungen zusammengefunden.
Welche Punkte an der Richtlinie werden verbessert?
Einer der Hauptstreitpunkte in den Diskussionen war das sogenannte Herkunftslandsprinzip.
Dieses Herkunftslandprinzip wurde aus der Richtlinie gestrichen. Nunmehr soll ein ausgewogenes
Zusammenspiel aus dem Recht auf Dienstleistungsfreiheit einerseits gelten, das schon im
EG-Vertrag festgelegt ist, und den Bestimmungen des Landes, in dem die Dienstleistung erbracht
wird andererseits. Die Mitgliedstaaten können somit in jedem Fall auf die Einhaltung von
wichtigen Vorschriften bestehen, wenn sie aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung,
des Gesundheits- und Umweltschutzes oder zur Vorbeugung gegen besondere Risiken am Ort der
Dienstleistungserbringung gerechtfertigt sind. Es gilt also der generelle Vorbehalt für das Recht
des Bestimmungslandes.
Außerdem wurde eine Reihe von sensiblen Bereichen aus der Richtlinie komplett
herausgenommen. Dazu gehören u. a. die Gesundheitsdienstleistungen und Dienstleistungen
von allgemeinem Interesse.
Der oftmals angeführte Vorwurf, die Dienstleistungsrichtlinie führe zu Sozialdumping, geht deutlich an
der Realität vorbei und fördert die Unsachlichkeit im Diskussionsprozess um die Richtlinie. Unser
System der Sozialen Marktwirtschaft wird nicht angegriffen. Das gesamte deutsche Arbeits- und
Sozialrecht gilt weiterhin. Weder Arbeitsverträge, noch der Arbeitsschutz, noch Tarifverträge
werden durch die Richtlinie berührt. Bestehende europäische Richtlinien – insbesondere die für
Handwerk und Bauindustrie so wichtige Entsenderichtlinie – haben ohne Einschränkung
ausdrücklichen Vorrang vor der Dienstleistungsrichtlinie.
Weiterhin wird immer noch behauptet, die Richtlinie würde soziale und ökologische Rechte
europaweit einschränken. Diese Behauptung ist falsch, weil die Richtlinie die Tarifautonomie, den
Arbeitsschutz und umweltrechtliche Maßnahmen vollkommen unberührt lässt.
Eine „Aushebelung der Tarifverträge oder Umweltstandards waren in dem Entwurf der Kommission
nie vorgesehen, auch wenn die deutschen und westeuropäischen Gewerkschaften dies behaupten“,
schrieb am 26.1.2006 die FAZ. Die Entscheidungen aus dem Binnenmarktausschuss stellen dies
noch einmal deutlich klar (z. B. Änderungsantrag 72 zu Art. 1). Die auf Initivative der EVP-EDFraktion
parteiübergreifend beschlossenen Änderungen werden u. a. auch von den beiden
hochrangigen SPD-Europaabgeordneten Martin Schulz und Bernhard Rapkay als „sinnvoller
Kompromiss“ bezeichnet.
Zudem wird die EVP-ED-Fraktion voraussichtlich im Plenum Änderungsanträge stellen, die noch
einmal über diese bisher erreichten Schutzvorschriften im Arbeits- und Sozialbereich hinausgehen.
Es wurde zusätzlich ein umfassendes Prüfungs- und Kontrollrecht für die Behörden vor Ort festgeschrieben, die damit die Handhabe bekommen, die Einhaltung der deutschen Umwelt- und
Arbeitsrechtsvorschriften sicherzustellen.
Warum braucht Europa eigentlich die Dienstleistungsrichtlinie?
Seit vielen Jahrzehnten bereits gibt es in der Europäischen Union die Dienstleistungsfreiheit. Sie ist
im EG-Vertrag in den Artikeln 49 ff. geregelt. Sie besagt, dass Beschränkungen des freien
Dienstleistungsverkehrs zwischen den Mitgliedsstaaten der Union verboten sind. Bisher hinkt
die Verwirklichung eines EU-Binnenmarkts im Dienstleistungsbereich dennoch anderen Bereichen –
insbesondere dem Warenverkehr – weit hinterher. Der Europäische Gerichtshof hat in über 140
Urteilen zur Dienstleistungsfreiheit ganz unterschiedliche Behinderungen aufgedeckt, die die bereits
bestehende – im EG-Vertrag verankerte – Dienstleistungsfreiheit in der EG verhindern. Hier einige
Beispiele:
- In den Niederlanden ist die kurzfristige Nutzung eines nicht im Land zugelassenen Fahrzeugs zum
Materialtransport verboten. Ein Fahrzeug kann aber nur zugelassen werden, wenn der Dienstleister in
den Niederlanden eine Niederlassung unterhält. Ergebnis: Kein Handwerker aus den Grenzgebieten
kann dort seine Leistungen anbieten.
- In Italien ist es ortsfremden Reiseführern beispielsweise in Rom oder Venedig nicht gestattet,
Touristen durch historische Stätten zu führen, weil Reiseführer dort eine "lokale Lizenz" brauchen.
Viele Busunternehmen oder Touristikbetriebe sind damit gezwungen, ortsansässige Führer zu
nehmen, die oft nicht gut die Muttersprache der Teilnehmer sprechen.
- In Frankreich müssen Servicetechniker 8 Tage vor der Einreise angemeldet werden: Wie soll dorthin
ein Aufzug oder eine Maschine, bei denen heute eine 24-Stunden-Servicegarantie Standard ist,
verkauft werden? Dies können nur große Unternehmen, nicht aber der Mittelstand, der in ganz
Europa, in besonderem Maße aber gerade in Deutschland das Rückgrat der Wirtschaft ist.
- In Belgien müssen alle Kräne, mit denen in Belgien gearbeitet wird, alle drei Monate der "contrôle
téchnique" vorgeführt werden, was mit erheblichen zusätzlichen Kosten verbunden ist, obwohl Kräne
aus Deutschland jährlich vom TÜV geprüft werden. Solche kostenintensiven Doppelprüfungen
behindern deutsche Unternehmen, im EU-Ausland Aufträge anzunehmen.
Diese - und viele andere Fälle - würden mit der Richtlinie entfallen. Damit wird gerade den kleinen
und mittleren Unternehmen die Chance auf ein stärkeres Engagement innerhalb der EU eröffnet. Das führt zu mehr Arbeitsplätzen – gerade auch in Deutschland! Mehrere unabhängige
Studien haben bestätigt, dass eine Dienstleistungsrichtlinie große positive Effekte auf jeden einzelnen
europäischen Mitgliedsstaat haben wird. Die untersten Schätzungen belaufen sich auf ein
durchschnittliches zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,8 %, Arbeitsmarktwachstum von 0,3 %
und Gehaltszuwachs von 0,4 %.
Wie ist die aktuelle Situation in Deutschland?
Deutschland hat einen der stärksten Dienstleistungssektoren in Europa. Durch Qualität,
Zuverlässigkeit und Know-how sind wir trotz des höheren Lohnniveaus konkurrenzfähig. Dennoch ist Deutschland Nettoimporteur für Dienstleistungen; d.h. dass mehr ausländische
Dienstleister in Deutschland tätig werden als umgekehrt.
Vielfach wurden in diesem Zusammenhang in den vergangenen Monaten Schwierigkeiten im
Dienstleistungssektor bekannt. Nur zu gut erinnern wir uns alle an Berichte über osteuropäische
Schlachter, Fliesenleger oder Subunternehmer auf deutschen Baustellen. Diese Probleme haben
jedoch nichts mit der Dienstleistungsrichtlinie zu tun!
Im Gegensatz zu den teilweise stark abgeschotteten Dienstleistungsmärkten unserer europäischen
Nachbarn hat Deutschland ein sehr liberales Gewerberecht. Gerade das deutsche Handwerk leidet
unter den Folgen der von Rot-Grün beschlossenen Veränderung der Handwerksordnung und dem
Wegfall des Meisterzwangs in über 50 Berufen. Erhebliche Auswirkung hat auch die
Konsumzurückhaltung der Deutschen, die kleinere Reparaturen lieber selbst erledigen, anstatt eine
ortsansässige Werkstatt zu beauftragen. Diese Situation besteht schon heute – die Dienstleistungsrichtlinie wird aber erst im Jahr 2010 gelten!
Die Richtlinie wird im Gegenteil dazu sogar zu Verbesserungen führen, weil die Behörden endlich
grenzüberschreitend zusammenarbeiten müssen und Informationen über angebliche Ich-AGs,
Scheinselbständigkeit und die Zahlung von Sozialversicherungsgebühren austauschen müssen! Das
führt zu verbesserter Kontrolle im Kampf gegen Schwarzarbeit, für einen erhöhten
Verbraucherschutz und für mehr Rechtssicherheit bei den deutschen Unternehmen!
Wann kommt die Dienstleistungsrichtlinie?
Am 16. Februar wird das Europäische Parlament in erster Lesung über den Vorschlag des
Binnenmarktausschusses abstimmen. Danach werden sich Rat und Kommission mit der
Entscheidung des Parlaments auseinander setzen bevor das Parlament in der 2. Lesung sein
abschließendes Votum abgibt. Wir wollen eine bestmögliche Dienstleistungsrichtlinie für alle
Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union. Daher werden wir die weiteren Arbeiten zur
Dienstleistungsrichtlinie in Rat, Kommission und Europäischem Parlament mit größter
Aufmerksamkeit begleiten.
Für weiterführende Informationen stehe ich Ihnen wie bisher gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Anja Weisgerber
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