Call for Statements
Diskussion

Eine subjektive Antwort auf den Ruf nach Kommentaren
von Cristian Pietsch (cristian@attac-saar.de)

1.Was ist eigentlich die besondere Aufgabe, was die spezifische Rolle von Attac in der gegenwärtigen Situation?

Wenn ich die Frage weit fasse, ist die gegenwärtige Situation diejenige nach dem Ende der bipolaren Weltordnung. Gleichzeitig beschleunigen sich die wirtschaftliche und die informationelle Globalisierung. Die postbipolare Welt ist gekennzeichnet durch das Fehlen von Utopien. Sicher waren dem Realsozialismus und dem Realkapitalismus schon längst alle Utopien ausgegangen, aber erst das Ende des Realsozialismus machte die Köpfe frei für neue Utopien. Diese sind aber noch nicht eingetroffen. Die Sinnleere wird gefüllt durch (neo-)konservative Werte oder durch (neo-)liberalen Hedonismus. Wer keine Vision vor Augen hat, kümmert sich um Knete, Konsum und Karriere. Attac soll die Frage stellen: „Wie wollen wir leben?“ Attac könnte dazu beitragen, Visionen zu entwickeln, zu verbreiten und vielleicht modellhaft umzusetzen. Die informationelle Globalisierung kann uns dabei helfen.

2.Wohin entwickelt sich diese Situation und was können wir realistischerweise zu erreichen hoffen?

Enger gefasst, ist unsere gegenwärtige Situation die nach dem Abgang von SPD und Grünen von der politischen Bühne, nachdem sich beide Parteien demontiert haben. Wer die frei gewordene Stelle als Linke einnehmen will, muss sich heute gegen den bizarren Vorwurf des Populismus wehren, der immerhin offenbart, dass der Neoliberalismus nicht mehr populär ist.
Wenn wir beharrlich alternative Konzepte erarbeiten, wird es immer schwerer für TINA-Rufer, glaubhaft zu machen, es gäbe keine Alternativen. Die Tobinsteuer und die solidarische Einfachsteuer waren ein Anfang. Konzepte für ein unbedingtes Grundeinkommen und für neue Formen der Arbeit erwarte ich als Nächstes von Attac.

3.Wer sind dabei unsere wichtigsten Partner, und auf wen beziehen wir uns eigentlich, wen können wir mobilisieren?

Sicherlich gibt es selbst in den Attac-Mitgliedsorganisationen viel zu viele Menschen, die noch nie von Attac gehört haben. Da gibt es noch einiges zu tun. Aber auch auf anderen Wegen sollten wir auf die Leute zugehen; etwa durch Bildungsarbeit. Jeder Pressesprecher wünscht sich direkten Zugang zu den Massenmedien. Aber wäre es noch Attac, wenn es den Leuten aus dem Fernseher eingehämmert würde? Nein, das ist nicht unser Stil.
Die wirkungsvollste Öffentlichkeitsarbeit macht Attac wahrscheinlich nicht nach außen, sondern nach innen. Darum ist es wichtig, dass Attac eine Bewegung bleibt und nicht zu einem elitären Zirkel oder zu einer bloßen Kampagnenorganisation (= elitärer Zirkel + „Fußvolk“) verkümmert. Unsere erfolgreiche innere Mobilisierung wirkt auch in Bündnisse hinein; die Bündnisfähigkeit von Attac wird mit Recht oft gelobt. Eine Voraussetzung dafür ist die weltanschauliche Vielfalt bei Attac, die erhalten und vergrößert werden muss. Bedroht wird diese Vielfalt in der letzten Zeit v.a. durch westdeutsche altlinke Platzhirsche, die zwar kaum politische Erfolge vorzuweisen haben, die aber gelernt haben, wie sie in ihrer unmittelbaren Umgebung abweichende Meinungen, Politikstile, Denk- und Arbeitsweisen unterdrücken können.
Zu den natürlichen Mitstreitern, die auf diese Weise verprellt wurden, gehören die ehemaligen DDR-Bürger. Attac hat nicht nur ein Gender-Problem, sondern ein ebenso großes Ost-West-Problem. Das ist nicht nur politisch inkorrekt, sondern das beraubt Attac entscheidender Einsichten und Fähigkeiten, die durch eine stärkere Einbeziehung der unterrepräsentierten Gruppen entstehen könnten. Wer von uns hat schon einen Systemwechsel selbst erlebt? Außer den ganz Alten sind das nur die Ostdeutschen.

4.Was sind die Themen, mit denen sich Attac in die aktuellen Debatte einmischen kann, einmischen soll?

Ich werde nicht in den Chor derer einstimmen, die den linken Gemischtwarenladen bei Attac beklagen. Tagespolitische Forderungen zu erheben und sich gegen die aktuelle Zumutungen zu wehren, gehört zu unseren Aufgaben – ob als Netzwerk, NGO oder Bewegung. Entscheidend ist dabei, unsere jeweilige Position nicht nur aus einem irgendwie linken oder emanzipatorischen Bauchgefühl abzuleiten, sondern aus unseren Visionen, die wir immer weiter ausformulieren sollten. Globalisierungskritik und globale Gerechtigkeit sind Schlüsselwörter, die noch mehr mit Inhalt gefüllt werden müssen.

5.Was ist eigentlich unsere spezifische Stärke im Konzert der verschiedenen politischen Akteure, warum soll man gerade auf uns hören?

Eine Stärke ist unser Losgelöstsein von parteipolitischen Zwängen. Gleichzeitig sind wir keine bezahlten Lobbyisten, sondern eine authentische, selbstmotivierte Stimme. Eine zweite Stärke ist damit verbunden: die weltanschauliche Vielfalt bei Attac, die weiteres Wachstum und weitere Bündnisse möglich macht. Die dritte Stärke ist unser Internationalismus, den Attac durch ihre Geschichte hat, aber noch mehr leben sollte. Die vierte Stärke ist, dass Attac-Arbeit Freude macht.

6.Welches Verhältnis sollen wir zu welchen Parteien und überhaupt zur Parteipolitik, zu parlamentarischer Politik einnehmen, was kann nur auf außerparlamentarischen Weg befördert werden und wie gewichten wir beides?

Wenn wir die überzeugenderen Konzepte haben, werden sich die Parteien bei uns bedienen, ohne dass wir auf sie zugehen müssen. Wer in die Wahlprogramme der Parteien schaut, sieht, dass dies teilweise schon geschehen ist. Recht zu haben, reicht natürlich nicht. Wir müssen auch Druck durch Protest machen. Auch dafür ist ein deutlicher Abstand vom Parlament nützlich.

7.Was muss sich innerhalb von Attac tun, was auch muss sich innerhalb von Attac verändern?

Eine fünfte Stärke könnten wir entwickeln, wenn es uns gelänge, die Erfahrungen von Männern und Frauen, Ost- und Westdeutschen, MigrantInnen und Andersdenkenden gleichberechtigt anzuerkennen und zu nutzen. Aber davon sind wir noch weit entfernt.

8.Andere Dringlichkeiten, andere Fragen, Optionen und Chancen?

Ich vermisse die Stimme der Ost-Intellektuellen und Bürgerrechtler bei Attac. Warum sind kritische Köpfe wie Peter Ensikat und Daniela Dahn nicht bei Attac? Da fällt mir auf: Ich vermisse auch die Stimme der West-Intellektuellen. Abgesehen vom Lexikon/ABC der Globalisierung ist der Wissenschaftliche Beirat kaum sichtbar geworden. Vielleicht sollten wir auch einen Kulturellen Beirat gründen und z.B. Schriftsteller wie die genannten gezielt ansprechen, ob sie darin mitwirken wollen.

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