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Zeit zum Umverteilen – Es ist genug für Alle da: Zur Finanzierung der Kosten für Flüchtende durch eine andere Steuerpolitik

Wir sind uns mit vielen Menschen einig: Ein reiches Land wie Deutschland muss Hilfesuchende menschenwürdig aufnehmen und ihnen eine Perspektive bieten.

Dabei sind die Flüchtenden keine Bittsteller, sondern sie kommen als Opfer einer Politik nach Europa, dorthin, wo wesentlich die Fluchtursachen geschaffen werden – durch Naturzerstörung, Verarmung und Kriege. Nach aktuellem Stand werden es 2015 circa 800.000 Menschen sein, die wir in Deutschland aufzunehmen.

Die Flüchtenden kommen in ein Europa, in dem mit einer neoliberalen Austeritätspolitik eine Umverteilung von Reichtum von Unten nach Oben in vollem Gang ist. Mit der Folge von individueller Verarmung und Ausgrenzung – in Deutschland durch Hartz IV-Gesetze – und öffentlicher Verarmung durch Kürzung von sozialstaatlichen Leistungen und Vernachlässigung von Bereichen wie Bildung, Wohnungsbau oder Infrastruktur.

Armutsbekämpfung – individuelle und öffentliche – und Aufnahme von Flüchtenden müssen Hand in Hand gehen. Das müssen wir offensiv vertreten, um zu verhindern, dass gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Soziale Spaltung und Entsolidarisierung ist nicht nur Markenzeichen „rechter Kreise“, sondern entspricht auch der Logik und Praxis neoliberaler Verarmungspolitik. So tauchen erwartungsgemäß aus dem Arbeitgeberlager Forderungen nach Senkung des Mindestlohns auf.

Aktuelle Aktionsfelder zur Schaffung eines Lebens in Würde sind vor allem:

  • Soziale Sicherung jenseits von Hartz IV,
  • ein schnelles, massives und staatlich finanziertes Sozialwohnungsbauprogramm,
  • Investitionen in Bildung und Ausbildung, die soziale Benachteiligung aufheben und Zugewanderten die nötige Bildung für eine Integration anbieten,
  • Investitionen in Arbeitsförderung, mit dem Hartz IV-Empfänger und Zugewanderte schnellstens von ihrer eigenen Arbeit leben können.

Ein handlungsfähiger Staat, der dies zügig umsetzen will, braucht finanzielle Ressourcen, die weit über das vorhandene Steueraufkommen hinausgehen. Dazu ist gesellschaftliche Umverteilung von Einkommen und Vermögen nötig. Das bedeutet eine Umkehr einer Steuerpolitik, die in den letzten Jahrzehnten systematisch Vermögende und Besserverdienende entlastet und abhängig Beschäftigte belastet hat.

Versuche, die Verarmungspolitik in Deutschland zu stoppen, kamen in den letzten Jahren von Bündnissen wie „UmFairteilen“, in dem Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen und auch ATTAC beteiligt waren. Um was ging es?

Die AG Alternative Wirtschaftspolitik hat 2013 folgenden jährlichen Finanzierungsbedarf für öffentliche Daseinsvorsorge in Deutschland errechnet:

  • Bildung 25 Milliarden Euro,
  • Verkehrsinfrastruktur 10 Milliarden Euro,
  • Kommunale Aufgaben 10 Milliarden Euro,
  • Energetische Gebäudesanierung 5 Milliarden Euro,
  • Lokale Pflegeinfrastruktur 20 Milliarden Euro, Arbeitsmarkt 30 Milliarden Euro
  • Summe 100 Milliarden Euro.
  • Der Großteil des Bedarfs besteht dabei bei Ländern und Kommunen. Dies als Annäherung. Zahlen und Bedarfe schwanken je nach Bemessungsgrundlage, Sichtweise oder Interessenlagen.

Zu dieser Ausgangslage kommt die Aufgabe hinzu, hunderttausende Flüchtende zu versorgen, ihnen Wohnungen und Zugang zum Bildungssystem zu beschaffen und ihnen zu ermöglichen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Neben Sachleistungen und Betreuung muss hierbei die Vernachlässigung sozialen Wohnungsbaus und die chronische Unterausstattung des Bildungsbereichs schnellstens beseitigt werden.

Beziffern läßt sich dieser Bedarf vorerst noch unscharf:

  • Der Deutsche Städte- und Gemeindebund geht von einem Bedarf von 400.000 Wohnungen aus. Die Linke fordert für Bremen jährlich 2000 neue Wohnungen aus kommunal finanziertem Wohnungsbau.
  • Das Institut der deutschen Wirtschaft kommt in seiner Schätzung für Sprachausbildung und Berufsvorbereitung auf Kosten von 3,7 Milliarden Euro – bei 800.000 Flüchtlingen, von denen rund 70 Prozent volljährig und damit nicht schulpflichtig sind.
  • Bedarf an mehr Lehrern wird es auch an den staatlichen Schulen geben. Die Kultusministerkonferenz geht von 300.000 schulpflichtigen Flüchtlingen aus. Wenn auf einen Lehrer 20 Schüler kommen sollen, würden hierfür 15.000 zusätzliche Lehrkräfte benötigt. Diese Zahl kann sich auf 30.000 verdoppeln, wenn man berücksichtigt, dass Flüchtlingskinder mehr Förderung brauchen. 30.000 Stellen würden jährlich etwa 2,1 Milliarden Euro kosten.
  • Laut Bayrischem Rundfunk ergeben Hochrechnungen, dass künftig fünf oder sechs Milliarden Euro jährlich mehr für deren Versorgung und Unterbringung anfallen – bei voraussichtlich 800.000 Flüchtlingen in 2015.

Selbst bei großzügiger Schätzung ergeben sich 10 Milliarden Euro zusätzliche Kosten für die Integration Flüchtender, bei einem jährlichen Finanzierungsbedarf für öffentliche Daseinsvorsorge von ca. 100 Milliarden Euro. Das sind etwa 10 Prozent zusätzlich – als Argument gegen „Kostenlawinen“ und „unbezahlbar“.

Schwer bezahlbar allerdings mit der bisherigen Steuer- und Verteilungspolitik. Während Bund und Länder mit der „Schuldenbremse“ die neoliberale Verarmungspolitik sogar noch in Verfassungen festschreiben, stoßen Länder und Kommunen allein bei der Finanzierung der kurzfristigen Versorgung von Flüchtenden an selbstgemachte Grenzen. So beschloss der niedersächsische Landtag für 2015 einen Nachtragshaushalt von 506 Millionen Euro. Schleswig-Holstein beziffert den Mehrbedarf für die Integration Flüchtender mit 805 Millionen Euro für 2016, Hamburg geht von 500 Millionen Euro aus. Die dem Bund abgehandelten Mittel reichen dabei nicht aus: Bremen geht von einem Mehrbedarf von 200 Millionen Euro aus, kann aber vom Bund nur mit 40 Millionen Euro für 2015 und 2016 rechnen.

Selbst bei einem veränderten Verteilungsschlüssel zwischen Bund, Ländern und Kommunen und bei verändertem Länderfinanzausgleich muss das Gesamtsteueraufkommen zur Finanzierung von Armutsbekämpfung und öffentlicher Daseinsvorsorge inklusive der Integration Geflüchteter erhöht werden, um in Summe die o.g. circa 110 Milliarden Euro einzutreiben – durch höhere Besteuerung von Reichtum und Vermögen.

Dazu erforderliche Maßnahmen:

  • Erhöhung des Spitzensatz Einkommenssteuer auf 45 – 49 – 53 Prozent
  • Wiedereinführung Vermögenssteuer 1 – 5 Prozent > 1 Million Euro
  • Reform der Erbschaftssteuer
  • Abschaffung der 25 Prozent Abgeltungssteuer bei Kapitalerträgen, Besteuerung nach Einkommenssteuergrundsätzen (siehe Pressemitteilung von ATTAC vom 12.11.2015)
  • Erhöhung der Körperschaftssteuer auf 25 Prozent
  • Gemeindewirtschaftssteuer statt Gewerbesteuer
  • Konsequente Unterbindung von Steuerflucht + besserer Steuervollzug

Gemäß dem Steuerkonzept von ver.di würde dies Mehreinnahmen von jährlich ca. 60 Milliarden Euro bringen. Eine einmalige Vermögensabgabe ist zusätzlich denkbar. Dazu kämen Mittel aus einer Gesamtkonzernsteuer oder Finanztransaktionssteuer, wie sie von ATTAC seit langem gefordert werden. Damit lässt sich öffentliche Armut beheben, und den Reichen tut es noch nicht mal weh.

Dazu Sahra Wagenknecht: „Allein die in Deutschland ansässigen Millionäre besitzen ein Vermögen von gut 2,5 Billionen Euro, die zehn reichsten Familien kassieren zusammen Dividenden in Höhe von 2,4 Milliarden Euro im Jahr. Den Luxus, dieses Vermögen nicht angemessen zu besteuern, können wir uns nicht länger leisten. Nur mit einer sozial- und wirtschaftspolitischen Wende für alle hier lebenden Menschen kann die Herausforderung gelingen, einer großen Anzahl zusätzlicher Menschen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.“ http://www.huffingtonpost.de/sahra-wagenknecht/mehr-gute-arbeit-fuer-all_b_8541496.html

Obwohl eine große Mehrheit in Deutschland Vermögen höchst ungleich verteilt empfindet und Enthüllungen über Steueroasen und „LuxLeak“ immer wieder genug Skandalpotential für eine breite Mobilisierung liefern sollten, konnte das Bündnis „Umfairteilen“ trotz mehrerer bundesweiter Aktionstage mit großer Beteiligung bisher nicht die nötigen gesellschaftlichen Mehrheiten für eine gerechtere Steuerpolitik organisieren.

Der Arbeitsausschuss von „Umfairteilen“ hat für Dezember zu einem Workshop eingeladen, um die Möglichkeiten eines neuen Anlaufs auszuloten. Der Aspekt „Kosten gesellschaftlicher Teilhabe von Geflüchteten“ ist neu, aber unbedingt einzubeziehen. Denn eine unserer wichtigsten aktuellen Aufgaben ist, einer Entsolidarisierung und Spaltung von jahrzehntelang sozial Benachteiligten und Neuankommenden konsequent entgegenzuarbeiten.

Umverteilung per Steuerpolitik ist ein erster Schritt zu einer gerechteren Gesellschaft und kann auch als erster Schritt zur Angleichung von Einkommen und völliger Neubewertung von Arbeit gesehen werden, die auch geschlechtsspezifische Unterschiede beseitigt (männlicher Bankmanager versus weibliche Pflegerin im Gesundheitsdienst). Für eine weitergehende Transformation in eine sozial-ökologisch gerechte Welt, die nicht mehr kapitalistischen Wachstumszwängen unterliegt, reicht Umverteilen nicht aus, wenn die Bezugsgröße ein möglichst großes Stück vom Kuchen „Gesellschaftliches Gesamtprodukt“ bleibt. Andere gesellschaftliche Prämissen als Wachstum benötigen eine andere gesellschaftliche Ressourcenverteilung.

 


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