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Wurzeln der Krise

Viele Zutaten für eine tödliche Mixtur : Nahrungsmittelkrise

« Hunderttausende Menschen werden hungern müssen », so fasst Robert Zoelick, der Chef der Weltbank die Folgen der derzeitigen Krise bei der Lebensmittelversorgung von Ägypten bis Haiti zusammen. Hungern und vielleicht sogar verhungern, wenn nicht schnell gegengesteuert wird …

Der Preis von Weizen und Reis hat sich im letzten Jahr verdoppelt – Leidtragende sind zuallererst die Armen, deren geringe Mittel nicht mehr reichen, satt zu werden. Die Bilder von wütenden Demonstranten und von Plünderungen sind um die Welt gegangen. Die Vertreter von IWF, Weltbank und von nationalen Regierungen setzen besorgte Gesichter auf und versprechen rasche Hilfe. Befürworter der Gentechnik sehen ihre Stunde gekommen.

Die tödliche Mixtur für die aktuelle Hungerkrise hat viele Zutaten. Sie verschärft massiv den Skandal von 850 Mio. Hungernden und Unterernährten. Denn der Hunger ist nicht neu, er ist ein alter Bekannter in vielen Teilen der Erde. Die Halbierung der Zahl der Hungernden bis 2015, vollmundig angekündigt von der UN-Millenniums-Versammlung, ist niemals wirklich angepackt worden. Jetzt hat der Hunger auch die Städte erreicht und durch die steigenden Preise sind größere Bevölkerungsschichten betroffen. Das verschärft das Hungerproblem und macht es sichtbarer für die Medien.

Der Auslöser für den aktuellen Anstieg bei den Preisen für Grundnahrungsmittel war eine Serie von Ernteausfällen in wichtigen Anbauregionen in den letzten Jahren: Ob zufällige Wetterlagen oder Vorboten des Klimawandels, Dürre oder Überschwemmung – die Erträge von Weizen, Mais und Reis sind hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Lagerbestände sind zurückgegangen, trotz der gigantischen Rekordernten 2007. Das treibt die Preise nach oben, und der hohe Ölpreis trägt das seinige bei.

Ein weiterer Grund für den Mangel an wichtigen Lebensmitteln sind ehrgeizige Programme zur Gewinnung von Agrotreibstoffen in wichtigen Erzeugerländern. So haben die USA, einer der gröβten Maiserzeuger, ein ambitioniertes Programm zur Produktion von Agrosprit gestartet, das von allen politischen Strömungen in den USA getragen wird. Auch in vielen anderen Ländern, z.B. in Brasilien und Indonesien, fällt die Entscheidung zwischen « Tank und Teller » immer öfter zugunsten des lukrativen Geschäfts mit den neuen Alternativtreibstoffen aus. Die Europäische Union liegt hier voll im Trend. Die EU-Kommission will künftig einen Pflichtanteil von zehn Prozent an Agrosprit dem Diesel beimischen. Wo all die Abermillionen Liter Agrodiesel herkommen sollen, weiß die Kommission auch nicht zu sagen, setzt aber jetzt auf neuere Entwicklungen. Unsere Mobilität steht damit in tödlicher Konkurrenz zum Bedarf an Nahrungsmitteln.

Wenn die Preise steigen, sind Spekulationsgeschäfte nicht weit. Da sind zum einen die lokalen Zwischenhändler, die in Erwartung zunehmender Teuerung Getreide horten. Da sind aber auch die internationalen Finanzmärkte, die für ihre Milliarden und Billionen immer neue rentable Investitionen suchen. Seit der Immobilienmarkt in den USA nicht mehr als sicher gilt, haben die Anleger das Geschäft mit den künftigen Ernten an den Terminbörsen entdeckt.

Das Argument, dass Inder und Chinesen mit ihren veränderten Konsumgewohnheiten an den plötzlichen Preisexplosionen schuld seien, greift zu kurz. Die Importe in diese Länder sind allmählich gestiegen und können nicht als Grund für die plötzliche Teuerung bei den Getreidepreisen herangezogen werden. Für die künftige Entwicklung auf den Agrarmärkten wird die wachsende Nachfrage von Millionen Menschen nach Fleisch und hochwertigen Agrarprodukten aber eine Rolle spielen.

Die Bilder von wütenden hungrigen Menschen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die aktuelle Krise weniger mit den absoluten Mengen an Agrarprodukten zu tun hat, als mit einer ungleichen Verteilung und einer unterschiedlichen Betroffenheit in verschiedenen Regionen. Die Folgen des Klimawandels oder ökologisch riskanter Projekte werden zuerst für die Menschen spürbar, die in sensiblen Regionen leben. Wo die Böden durch großflächige Rodungen die Fähigkeit verloren haben, Wasser zu binden, steigt die Gefahr von Überschwemmungen und Bodenerosion. Werden Bauern für riesige Staudammprojekte aus den fruchtbaren Tälern in karge Bergregionen vertrieben, sind die Ernteerträge niedriger und anfälliger für Wetterschwankungen.

Die zentrale Ursachen dafür, dass Millionen hungernde Menschen müssen, liegen jedoch tiefer – und sie erfordern ein grundsätzliches Umsteuern in der Agrarpolitik.

Wenn heute 30-40 Länder von Hungersnöten bedroht sind, so die Schätzung der Weltbank, dann liegt dies auch und vor allem an der systematischen Vernachlässigung der dortigen Landwirtschaft. In den letzten fünfzig Jahren sahen sich viele Kleinbauern gezwungen, ihre Landwirtschaft aufgeben und in die Städte abzuwandern. In einer Weltwirtschaft, die die Landwirtschaft im globalen Süden auf die Nachfrage transnationaler Konzerne und die Interessen der Agroindustrie ausrichtet, haben sie keinen Platz. Staatliche Programme und internationale Entwicklungshilfe haben einseitig die Industrialisierung gefördert. Landreformen wurden nur zaghaft oder gar nicht in Angriff genommen. Die mit – teils versteckten - Exportsubventionen verbilligten Agrarimporte aus den USA und der EU tragen ebenfalls dazu bei, die Existenz der lokalen Produzenten zu zerstören.

Verantwortlich für diese verheerende Landwirtschaftspolitik sind gerade jene Organisationen, die heute über den Hunger Krokodilstränen vergießen: IWF und Weltbank. Sie drängen die Länder des Südens zur Öffnung ihrer Agrarmärkte und vergeben ihre Kredite nur unter der Auflage, dass staatliche Subventionen für billige Grundnahrungsmittel und Regulierungen zugunsten der kleinen Landwirte abgeschafft werden.

An die Stelle staatlicher Regulierung traten die Gesetze des Marktes. Und weil sich auf dem Weltmarkt Schnittblumen und Gemüse teurer verkaufen lassen als Grundnahrungsmittel auf dem heimischen Markt, sind einstige Selbstversorgerländer zu Agrarimporteuren geworden. Auf der anderen Seite haben die USA und Europa bis heute ihre Agrarmärkte gegen die Einfuhren aus den Entwicklungsländern abgeschottet.

Der fortschreitende Klimawandel ist ebenfalls ein wichtiger Faktor dafür, dass das Thema Ernährungssicherheit nicht so schnell von der Tagesordnung verschwinden wird. Die Experten sind sich weitgehend einig, dass der Klimawandel den Verlust von Anbauflächen, Ernterückgänge bei hitzegeplagten Pflanzen und unkalkulierbare Veränderungen bei der Wasserversorgung mit sich bringen wird. Höhere Temperaturen führen zu mehr Verdunstung und zu mehr Regen, aber wo dieser in welchen Mengen niedergehen wird, lässt sich weder vorhersagen noch lenken.

Ist dies die Stunde der Gentechnik? Werden uns speziell gezüchtete Pflanzen für extreme Standorte retten?

Die Erfahrungen mit den bisherigen « Grünen Revolutionen » lassen wenig Optimismus aufkommen. In der Regel brauchen diese neuen Nutzpflanzen große Mengen an Dünger und Pestiziden, die für die Bauern teuer sind und für die Konsumenten und die Umwelt auch nicht ohne Folgen bleiben. Die Besitzrechte bleiben bei den Agrarkonzernen, die diese Mutanten entwickelt haben und die sich ihr Wissen teuer bezahlen lassen.

Der von den Vereinten Nationen berufene Weltagrarrat warnte im April eindringlich davor, blind auf Produktionssteigerungen durch eine weitere Industrialisierung der Landwirtschaft zu setzen. Statt dessen müssten traditionelle Anbaumethoden und lokale Märkte wieder gestärkt werden.

Mit unseren Forderungen stellen wir uns an die Seite von Via Campesina, dem größten weltweiten Zusammenschluss von Menschen, die in der Landwirtschaft tätig sind. Sie nennen ihr Konzept für eine zukunftsfähige Landwirtschaft, die sich an den Bedürfnissen der Menschen ausrichtet, Ernährungssouveränität:

Die Menschen müssen die Möglichkeiten haben, ihren Bedarf an Grundnahrungsmitteln direkt vor Ort zu decken, Die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die noch heute die Mehrzahl der Menschen das Überleben sichert, muss gegen die Macht der Agrarkonzerne geschützt werden. Die Erhaltung der biologischen Vielfalt und des indigenen Wissens ist eine der vorrangigen Aufgaben für die Sicherung des (Über-)Lebens auf der Erde. Abkommen der Welthandelsorganisation dürfen nicht länger Staaten daran hintern, der Versorgung ihrer eigenen Bevölkerung Vorrang einzuräumen. Die Agrarexport-Subventionen – ob direkte oder indirekte – müssen weg und das sofort.

Die Warenterminbörsen für Agrarrohstoffe müssen reguliert werden, um die hohen Schwankungen (Volatilität) einzuschränken und Preisexplosionen zu verhindern. Wir im Norden müssen schnell und durchgreifend unseren Teil dazu beitragen, den weltweiten Temperaturanstieg abzuschwächen.

Das Konzept der Ernährungssouveränität umfasst folgende Forderungen:

  • das Recht auf Nahrung - jeder Mensch muss einen stabilen Zugang zu gesunden, nahrhaften, kulturell angemessenen Nahrungsmitteln in ausreichender Menge haben, die es ihm ermöglichen, ein Leben in Würde zu führen. Das schließt das Recht ein, selbst über die eigene Ernährung entscheiden zu können.
  • das Recht zu produzieren - jeder Mensch ebenso wie jede Gemeinschaft muss die Möglichkeit haben, Nahrungsmittel selbst herzustellen. Voraussetzung hierfür ist der Zugang zu und die Kontrolle von Produktionsmitteln wie Land, Wasser oder Saatgut.
  • das Recht auf eine selbst bestimmte Landwirtschafts- und Ernährungspolitik - jede Gemeinschaft muss ihre Landwirtschaft und ihre Ernährung den eigenen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Umständen entsprechend gestalten können, allerdings ohne eine Schädigung anderer. Das beinhaltet das Recht, landwirtschaftliche Produktion zu schützen und zu regulieren.


Ernährungssouveränität gründet also auf einem umfassenden Verständnis von Selbstbestimmtheit. Daneben umfasst Ernährungssouveränität die folgenden Prinzipien:

  • Vorrang des regionalen Marktes und der Versorgung der heimischen Bevölkerung: Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von Nahrungsmitteln sollen primär auf lokale und regionale Märkte sowie die Versorgung der heimischen Bevölkerung ausgerichtet sein. Das heißt nicht, dass es keinen Handel geben darf, allerdings sollen quer über den Globus verschiffte Produkte das Nahrungsmittelangebot höchstens ergänzen, nicht ersetzen.
  • sozial- und umweltverträgliche Landwirtschaft: Die Erzeugung von Nahrungsmitteln soll möglichst vielen Menschen eine Lebensgrundlage bieten und natürliche Ressourcen nachhaltig nutzen.
  • gerechte Preise und Löhne sowie faire Arbeitsbedingungen: Preise, die Landwirtinnen und Landwirte für ihre Produkte erzielen, sowie die Löhne und Arbeitsbedingungen derjenigen, die in der Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von Agrarprodukten beschäftigt sind, müssen ihnen ein Leben in Würde ermöglichen.
  • Demokratisierung der Agrar- und Ernährungspolitik: Entscheidungsverfahren und Institutionen der Landwirtschafts- und Ernährungspolitik sollen ebenso basisdemokratisch organisiert sein wie die Orte der Erzeugung, Verteilung und des Konsums von Lebensmitteln.
  • Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, Nord und Süd sowie ethnischen Gruppen: Es gilt, patriarchale, rassistische, koloniale sowie sonstige Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse in Landwirtschaft und Ernährung zu überwinden.

(Hintergrundtext von Lena Bröckl)