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Wer versteht was unter "Freihandel"?

Wohlstandsgewinne durch Freihandel

Freihandel bezeichnet den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zwischen verschiedenen Ländern bei Abwesenheit von Zöllen oder sonstigen Handelsbeschränkungen.

Den Begriff „Freihandelsabkommen“ verwendet die EU für ihre Handelsabkommen der neuen Generation; sie entsprechen als „umfassende Handelsabkommen“ den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) und gehen sogar über deren Vereinbarungen hinaus. Die 164 Mitglieder der WTO haben sich auf eine fortlaufende Deregulierung (Abbau von gesetzlichen u.a. Vorschriften), Liberalisierung (Marktöffnung) und Privatisierung ihres gesellschaftlichen Lebens verständigt, soweit es wirtschaftlichen Bezug hat; Privatisierungen sollen unumkehrbar sei.

In der aktuellen Pandemie setzen sich die Staaten über die Regeln der WTO hinweg, beschränken Handel und Verkehr, um notwendige Güter bereitzustellen (z.B. medizinisches Material und Medikamente), stützen Unternehmen und ordnen notwendige Produktionen an. Mit den Bemühungen der Staaten um den Erhalt ihrer Märkte ist auch der Marktfundamentalismus (Vorrang von Märkten gegenüber kollektiven Entscheidungen) in Frage gestellt. Vielmehr ist der Vorrang der Politik zur Zeit unbestritten. In der aktuellen Krise retten die Staaten die Unternehmen (Lufthansa) und deren Kunden (Stützung der Nachfrage), organisieren Marktstrukturen so, dass sie an die Anforderungen der als “systemrelevant“ erachteten Interessen (Digitalisierung; Klimapolitik) ausgerichtet sind.

Die neuen Handelsabkommen, wie CETA mit Kanada, JEFTA mit Japan, EUVFTA mit Vietnam etc., umfassen tausende von Seiten Vertragstext mit detaillierten Vereinbarungen über den Waren- und Dienstleistungshandel, Regulationen (Gesetze, Verordnungen, Gerichtsentscheidungen, Verfahrensregeln) und Institutionen (Schiedsgerichte, Gremien, Ausschüsse) und sind hart verhandelte Handelslenkung im Interesse von Konzernen. Im Ausdruck „level playing field“, also Spielfeld für „fairen“ Wettbewerb, kommt zum Ausdruck, dass hier nicht die Sichtweise der Bevölkerung eingenommen wird, denn dann ginge es um das Gemeinwohl. „Fairness“ bezieht sich auf die Spielregeln des großen Kapitals: das darf sich wechselseitig enteignen und Staaten wegen ihrer Gesetzgebung verklagen; spiegelbildlich dürfen die Gesellschaften Konzerne nicht verklagen, wenn diese die Umwelt zerstören oder Arbeitnehmer*innen- und Menschenrechte verletzen.

Deregulierter Handel vergrößert Märkte und setzt damit (1) Unternehmen und (2) Staaten miteinander in Konkurrenzbeziehungen:

(1) Mehr Konkurrenz soll Unternehmen zu mehr Innovationen zwingen und so bessere und billigere Produkte ermöglichen

Damit Unternehmen um beste Produkte konkurrieren, ohne ihre Arbeitnehmer*innen immer stärker auszubeuten, um billiger produzieren zu können, gibt es z.B. in Deutschland Flächentarifverträge, die von Gewerkschaften und Arbeitgebern für einzelne Branchen abgeschlossen worden sind, Arbeitsschutzgesetze und Verordnungen. Diese Standards gehen bei der Ausweitung von Märkten verloren. Folge:

(2) Staaten konkurrieren um die besten "Angebotsbedingungen" im Wettbewerb

Hierbei geht es um die geringste Belastung der Unternehmen (durch sinkende Steuern/Abgaben, Lohndumping oder steigende Subventionen), um die höchstmögliche Produktivität der Arbeitnehmer*innen (durch staatlich subventionierte/finanzierte Ausbildung), um die schnellsten und laxesten Genehmigungsverfahren (durch Entdemokratisierung der Verfahren), etc.

Dieser durch Freihandelsabkommen vorangetriebene Standortwettbewerb höhlt Schutzvorkehrungen (Arbeitsschutz, Tarifverträge, ILO-Kernarbeitsnormen, etc.) immer weiter aus, selbst wenn deren Grundlagen formal gültig bleiben. Immer mächtigere Lobbys einer wachsenden Exportindustrie kämpfen für aus ihrer Sicht bessere "Angebotsbedingungen", die da wären: Lohnzurückhaltung, Ausdehnung der Arbeitszeiten, Ausbildung statt Bildung, dürftigere Umwelt- oder Sozialstandards etc.

Die ersten Verhandlungen um TTIP, die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft mit den USA (Transatlantic Trade and Investment Partnership) wurden 2013 noch mit dem Argument von Wohlstandsgewinnen durch Freihandel begründet. Die aktuellen Handelsabkommen und die zur Zeit verhandelten, wie TTIP 2.0, MEUFTA mit Mexiko oder EU-Mercosur mit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, werden nicht mehr mit Wachstum und Innovation begründet, sondern sind der Versuch, vorhandene Industrien zu erhalten - Deutschland muss „als Exportland“ vor allem für Autos, Maschinen und chemische Produkte den Export sichern und daher Strafzölle abwehren und Zugänge zu Märkten und Ressourcen absichern.

Die klassischen Außenhandelstheorien von David Ricardo (komparativer Vorteil zwischen zwei Ländern: The Principles of Political Economy and Taxation. John Murray, London 1817) oder von Eli Heckscher /Berti Ohlinaus den 1920/30 Jahren (unterschiedliche Ausstattung von zwei Ländern mit den Faktoren Arbeit und Kapital: Faktorproportionentheorem) können die heutigen Wohlstandsgewinne durch Freihandel und den heutige Welthandel nicht erklären.

neue Außenhandelstheorie, begründet von Paul Krugman (u.a. Increasing Returns, Monopolistic Competition and International Trade, in: Journal of International Economics, Nr. 9, 1979),geht davon aus, dass Monopole und Oligopole die Märkte dominieren; sie versuchten, Gewinne zu maximieren und ihre Marktmacht dadurch auszubauen, dass sie die jeweiligen Lebens- und Konsumstile prägen. Mit der stetigen Liberalisierung des Außenhandels steige die Ungleichheit zwischen den Ländern, da die Gewinne in den schon existierenden Wohlfahrtinseln anfallen. Die Ungleichheit zwischen Ländern der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und den Ländern des Globalen Südens nehme zu. Bei steigenden Skalenerträgen industrieller Produktion, vergleichsweise niedrigen Transportkosten und hoher Nachfrage seien Industrieländer stets im Vorteil.

In einer „strategischen Außenhandelspolitik“ zeigt sich die Rolle des Staates; hier können auch protektionistische Mittel eingesetzt werden, um Marktanteile oder den Markteintritt in den Weltmarkt zu Gunsten eines inländischen Unternehmens zu fördern: Wenn z.B. ein Land ein im Inland entwickeltes Medikament bevorzugt und andere solange aussperrt, bis die Entwicklungskosten auf dem Binnenmarkt erwirtschaftet wurden, kann dieses Präparat fortan für sehr geringe Preise weltweit vermarktet werden. Dies gilt für alle Herstellungsprozesse mit steigenden Skalenerträgen, im Extrem etwa für Software. Das stößt aber auf Widerstand bei den Handelspartnerländern, weshalb (liberale) Handelstheoretiker lieber weiterhin für Freihandel plädieren, als Protektionismus zu unterstützen.

Mit den klassischen Außenhandelstheorien lässt sich intraindustrieller Außenhandel, also Handel mit ähnlichen Produkten - Deutschland importiert Autos aus Südkorea und exportiert Autos dorthin -, nicht erklären Auch die These, dass intraindustrieller Handel das Wirtschaftswachstum beflügelt, lässt sich empirisch nicht bestätigen. Eine spannende Studie stellt bei einem Vergleich der Zeiträume 1960-80 mit 1980-2000 sogar fest, dass die Wachstumsraten während des globalisierteren späteren Zeitraums deutlich verlangsamt waren, unabhängig vom Entwicklungsstand der analysierten Ländergruppen.

Die "neue Handelstheorie" erklärt auch die Entwicklung von Clustern, d.h. hochproduktiven Zentren, und denen nützen die Deregulierungen des Handels überproportional. Gleichzeitig stimmen die allermeisten Ökonom*innen der These zu, dass gering qualifizierte Arbeitnehmer*innen durch größere Märkte und mehr Billiglohnkonkurrenz verlieren werden. Da die Theorien aber auch ergeben, dass durch deregulierten Handel insgesamt Wohlstand geschaffen würde, wäre das Problem der Verarmung durch Umverteilen zu lösen und alle wären Gewinner. Wenn aufgrund des härteren Standortwettbewerbs die Umverteilungsvolumina der Staaten aber immer weiter sinken, werden die Verlierer Verlierer bleiben.

Selbst wenn eine noch weitergehende Deregulierung des Handels Wachstumsraten erhöhen sollte, besteht heftiger Zweifel, ob dieses Wachstum dort ankommt, wo es notwendig ist: Bei der armen Bevölkerung. Dem Hinweis auf die Verlierer der „Freihandelspolitik“ wird entgegengehalten, dass durch Handel die Armut von 94% der globalen Bevölkerung 1820 auf 10% heute zurückgegangen sei. Belastbare Daten zu Armut gibt es aber erst seit 1981.

Die heutigen 10% absolut Armen verfügen über die Kaufkraft von täglich 1,90 $. „Menschen, die knapp über dieser Linie leben, sind schrecklich unterernährt und weisen eine schreckliche Sterblichkeit auf. 2 Dollar pro Tag zu verdienen, bedeutet nicht, dass man plötzlich irgendwie frei von extremer Armut ist. … Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass die Menschen ein Minimum von etwa 7,40 Dollar pro Tag brauchen, um eine Grundnahrung und eine normale menschliche Lebenserwartung zu erreichen, sowie eine halbwegs akzeptable Chance, dass ihre Kinder den fünften Geburtstag überleben. Und viele Gelehrte, darunter der Harvard-Ökonom Lant Pritchett, bestehen auf 10 bis 15 Dollar pro Tag. Mit einer Annahme von 7,40 Dollar pro Tag, sieht man, dass die Zahl der Menschen, die unter dieser Grenze leben, seit Beginn der Messungen im Jahr 1981 dramatisch zugenommen hat und heute etwa 4,2 Milliarden Menschen erreicht. In den vier Jahrzehnten seit 1981 ist nicht nur die Zahl der Menschen in Armut gestiegen, sondern der Anteil der Menschen in Armut stagnierte bei etwa 60%..“ (Jason Hickel, s.u.) Und selbst wenn dort noch etwas ankommen sollte - was bereits reichlich unwahrscheinlich ist - schließt sich die Frage an: Ist das Wachstum nachhaltig - im doppelten Wortsinn: dauerhaft und zukunftsfähig? Auch hier sind arge Zweifel angebracht.

Der Wirtschaftswissenschaftler Joseph E. Stiglitz begründet die Zweifel mit dem rent-seeking, also der Absicherung eigener vorteilhafter Geschäftsmodelle und folgender Umverteilung nach oben, z.B. durch verlängerte Patentlaufzeiten in Handelsabkommen und Monopole. Jason Hickel dazu mit einer Schätzung: „Unsere Welt ist reicher als je zuvor, aber praktisch alles davon wird von einer kleinen Elite vereinnahmt. Nur 5 % aller neuen Einkommen aus dem globalen Wachstum versickern in den ärmsten 60% - und doch sind es die Menschen, die den größten Teil der Nahrungsmittel und Güter produzieren, die die Welt konsumiert, und die in den Fabriken, Plantagen und Bergwerken schuften, zu denen sie vor 200 Jahren verurteilt wurden.“(Quelle: abgerufen 20.8.2020 10:50 Uhr; Bill Gates says poverty is decreasing. He couldn’t be more wrong; Jason Hickel; The Guardian www.theguardian.com/commentisfree/2019/jan/29/bill-gates-davos-global-poverty-infographic-neoliberal)

In der aktuellen Pandemie hat sich deutlich gezeigt, dass deregulierter globaler Außenhandel Gesellschaften gegenüber wirtschaftlichen Schocks besonders verletzlich macht. Preissprünge beim Öl oder Seltenen Erden, politische Krisen, Extremwetterereignisse oder aktuell die Pandemie können weltweite Wertschöpfungsketten innerhalb kürzester Zeit unterbrechen.

Regionalentwicklungen und Kreislaufwirtschaft für die Basisversorgung scheinen auch in der Politik neuerdings attraktive Ziele zu sein (Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen; Vom Hof auf den Tisch – eine Strategie für ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem). Freihandelsverträge, die zur transkontinentalen Ausschreibung öffentlicher Aufträge zur Beschaffung von Waren und Dienstleistungen verpflichten, ein Bevorzugen regionaler Angebote verbieten und Investitionsschutzabkommen, wie der Energiecharta-Vertrag, stehen dem diametral entgegen.

Auch von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden wird die Frage untersucht, ob globale Wertschöpfungsketten nur unter dem Gesichtspunkt der Kosteneffizienz (niedrigste Kosten) oder auch dem der Resilienz (Widerstandsfähigkeit gegen und Bewältigung von externen Krisen) organisiert werden sollten. Unter anderem werden dezentralere und mehrfache (redundante) Wertschöpfungsketten mit Zweitlieferanten, Hubs auf einzelnen Kontinenten, größere Lagerhaltung und Sicherheitsbestände überlegt. Und auch die UNCTAD beobachtet in ihrem Weltinvestitionsbericht 2020 geschrumpfte internationale Wertschöpfungsketten; bedingt durch wachsenden Robotereinsatz und Digitalisierung, Regionalisierung der Produktion aus Gründen der Nachhaltigkeit und geschrumpfte Investitionen im globalen Süden, beschleunigt durch die Pandemie.

Damit wird ein altes Versprechen der Gründerväter der Volkswirtschaftslehre, Smith und Ricardo, auf „Wohlstand für alle durch Freihandel“ als falsch entlarvt

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