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Wohin geht Europa?

Thesen zu einer anstehenden Debatte über eine linke Alternative zum gegenwärtigen Austeritäts-, Wettbewerbs- und Festungseuropa

Dieses Thesenpapier wurde am 24.11.2015 dem offenen Themenabend der Regionalgruppe Freiburg vorgelegt und dort kontrovers diskutiert. Es versteht sich explizit als einen vorläufigen Beitrag zur notwendigen Diskussion in ATTAC über ein Anderes Europa von unten.

Soweit ich bisher die Übersicht behalten habe, gibt es derzeit bei ATTAC sowie im ATTAC-Umfeld folgende Positionen zu einem Anderen Europa nach der autoritären Unterwerfung von Griechenland unter die europäische Austeritätspolitik .

  1. Es wird weiter davon ausgegangen, dass Europa stärker sozialpolitisch und demokratiekonform durch einen verfassungsfortschreibenden Mix von zentralgeleiteter und föderalistischer Integration mit ökonomischen und sozialen Ausgleichskomponenten um- und ausgestaltetet werden muß und kann. Das Weiterbestehen von Euro als stabilisierende Währung sowie von Europa als identitätstiftende und friedensichernde Union werden prinzipiell nicht in Frage gestellt, dagegen der kritische Focus auf den ESM, Fiskal-und Wettbewerbspakt, Euro-Pluspakt und ähnliche Verträge gelegt. Dabei geht es im wesentlichen um Abfederung der sozialen Folgen von Euro und Austerität, um bürgernahe Marktreformen, Umverteilung und Demokratierung sowie eine ansonsten systemkonforme Vertiefung der Integration in postneoliberaler Absicht (Crouch).Dies möchte ich die Re-Sozialdemokratisierung der heutigen europäischen Integration (unter dem intellektuellen Einfluß von Habermas) nennen. Dieser Position können auch weite Teile des ATTAC-Spektrums, so offenbar auch der Ko-Kreis mit seinem ziemlich platten Papier von August, zugerechnet werden.M.E. ist diese Projektion auf ein sozialeres Europa eine Illusion. Dies u.a. deshalb, weil die (im Kern nach wie vor neoliberale) Wettbewerbsorientierung mit dem Euro als exportoffensives Instrument weiter fortbestehen (vertieft) wird, dabei die damit verbundenen Ungleichgewichte und Ungleichheiten durch eine Hinführung auf eine politische Union sozial abgefedert werden sollen (siehe 5 Präsidenten-Papier von Mitte 2015).
  2. Eine dazu radikale Gegenposition -wenn auch ohne eine klare alternative Vision- wird durch die europäische Bewegungslinke, vor allem bei Blockupy und der inteventionistischen Linken, vertreten. Hier wird als wesentliches Motto Gegenmacht auf der Straße zur autoritären Herrschaft des neoliberalen Kapitals, symbolisiert insbesondere durch die EZB, propagiert und praktiziert.Ob dies im Rahmen des Nationalstaats, der Eurozone oder der EU erfolgt, bleibt relativ belanglos. Europa wird als strategisch-instrumentelles Netzwerk zur Koordinierung der Kämpfe, nicht als inhaltliche Plattform für ein Anderes Europa gesehen. Prioritäres Ziel ist auch nicht so sehr die Abschaffung oder Beibehaltung des Euro bzw. die Demokratisierung von Europa aus sozialpolitischer Perspektive, sondern der komplette Bruch mit dem Austeritätsregime und den dahinter stehenden Machteliten, insbesondere der Export- und Finanzinteressen.Dies würde ich als bewegungsobzessiven Selbstzweck einer an sich legitimen Praxis von Widerstand bezeichnen, welche so kaum einen Erfolg für eine interessennahe Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten verspricht, da sie diese nicht bei ihren alltäglichen Befürchtungen gegenüber dem zentralistischen Brüssel abzuholen vermag. Dies zumindest solange, wie dieser Widerstand nicht -ohne oder mit Euro- von einem explizit ausgearbeiteten konzeptionellen und strategiepolitischen Alternativentwurf hin zu einem demokratischeren und solidarischen Europa (auch im institutionellen Rahmen einer zivilgeschaftlichen Verfassung von unten) getragen wird.
  3. Infolge der Niederlage von Syriza (genauer: seiner euroreformistischen Mehrheitsposition) gegen das autoritäre Spardiktat der Troika seit Juli d.J. kommt ein bedeutender Teil der europäischen Linken zur Schlußfolgerung, daß Euro und EU nicht mehr weiter einer Sakralisierung (Peter Wahl) zu unterwerfen sei bzw. ein Plan B, einschließlich eines exits aus dem Euro, notwendig sei (Varoufakis u.a.).Dies impliziert einen Neuanfang, den Euro und die Eurozone kreativ zu überdenken und zu überwinden, da beide längst zum starren Korsett (im Sinne eines sozialen Herschaftsverhältnisses) für ein immanent Ungleichheiten produzierendes Währungs- und Wettbewerbsregime und eine entsprechend alternativlose Austeritätspolitik verkommen sind. Dazu gehört auch ein relativer Bruch mit dem per se neoliberal verfassten Euro als alleinige Gemeinschaftswährung durch die Einführung von flexibleren Mechanismen. Diese reichen von einem Mix von Außen- und Binnen-Euro über eine bilaterale Kopplung einer nationalen Währung an einen Außen-Euro (Pegging) bis hin zu einer koordinierten Währungsschlange in modifierter Entsprechung zum früheren EWS (Lafontaine).Doch dazu gehört auch, die EU aus ihrem chaotischen Dauerkrisenmodus bzw. als ein starres, unreformierbares Integrationskonstrukt mit menschenausgrenzenden Wettbewerbs-, Festungs- und Globalmachtcharakter zu überwinden – dies mittels einer strategischen Flexibilisierung nach innen und einer Öffnung nach außen (Wahl). Dazu gehören u.a. Dezentralisierung, Subsidiarität und plurale Wirtschafts- und Sozialpolitiken sowie eine zwischenstaatliche Kooperation auf Augenhöhe in zukunftsbedeutenden Feldern, wie einer gemeinsamen Klima- und Flüchtlingspolitik. Das hat mit einer populistischen Rückkehr zum Nationalstaat nichts zu tun, sondern eher eher mit einem Moratorium für eine weitere Integrationsvertiefung nach altem Muster sowie einem Rückbau der neoliberalen Verfasstheit europäischer Integration (Nölke u.a.).Diese Position würde ich als einen linkslibertäre und bürgernah an dezentralen Interessen und Problemfeldern ansetzendende Kooperations- und Reformorientientierung für eine selektiv-produktive Integration interpretieren, die durchaus ihren diskussionsanstoßenden Verdienst in der Neubesinnung über “ein Anderes Europa schaffen” haben sollte – so auch sicherlich bei vielen ATTACies und Menschen des ATTAC-Umfeldes
  4. Vieles von der in 3. skizzierten Position aufnehmend, bietet sich m.E. eine noch darüber hinausgehende, bewusst utopisch-emanzipatorische Perspektive an. Diese kann mit Bezug auf Europa eine doppelte Transformation mit einer über systemkonforme Reformen hinausweisenden sozial-ökologischen Reichweite (in Anlehnung an Klein, Brie, Brand) charakterisiert werden.
    Sie geht davon aus, daß wir uns, sowohl auf europäischer Ebene wie auch in den nationalen, regionalen und lokalen Alltagspraktiken, in einer multiplen Grossen Krise der sog. imperialen Lebensweise befinden. Diese erfordert mittel-/langfristig eine tiefgehende, zumindest zweischichtige Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb und jenseits des finanzmarktdominierten Kapitalismus und seines neoliberal zementierten Integrationsprojektes der EU und des Euro.

Inwiefern kommt hierbei eine doppelte Transformationsstrategie für ein radikal Anderes Europa ins Spiel?

Einerseits müssen die vom europäischen Kapital und dessen Integrationsprojekt schon längst ausser Kraft gesetzten oder aktuell bedrohten Bürgersouveränitäten/-rechte, Sozialreformen und Demokratieerungenschaften zurückgewonnen, aufrechterhalten und neu eingeführt werden – dies mittels einer mittelfristig strategischen Gratwanderung zwischen Systemreform und Systemüberwindung (in Anlehnung an die Vision eines Postwachstums).

Andererseits hat eine doppelte Transformation den gegenwärtig dominierenden Reformansatz in radikaler und offensiver Absicht auszureizen und zu überschreiten. Dies würde bedeuten, praktische Projekte des von unten zu verändernden Alltags- und Berufsslebens (wie Betriebs-, Energie-, Wohn- und Care-Genossenschaften) und der Einübung direkter Demokratie und Rekommunalisierung (wie Runde Tische und Referenden auf unterschiedlichen Politkentscheidungsebenen) hin zu einem Solidarischen Europa von unten zu gestalten. Zusammen mit lokal, national und übergreifend (europäisch) vernetzten Organisationformen (wie etwa die von ATTAC) des bürgerschaftlichen und politischen Engagements wären diese in tendenziell revolutionären Bausteine einer antihegemonialen und emanzipatorischen Strategie -über eine ohnmächtige Kapitalismuskritik hinaus- zu überführen.

Was würde dies für eine Alternative zum heute bestehenden Europa mit seinen Euro-immanenten Ungleichgewichten und Ungleichheiten bedeuten?

Eine doppeltransformatorische Strategie sollte m.E. als Mindestset die folgenden Strukurveränderungen umfassen:

  1. Mittelfristige Ablösung des Euro durch ein flexibles, am strukturell schwächsten EU-Mitgliedsland orientiertes Währungsregime, flankiert durch Kapitalkontrollen und bürgerdemokratisch verankerte und gesteuerte Schritte hin zu einer flexibel gestalteten Wirtschafts-, Fiskal-, Sozial- und politischen Union.
  2. Gemeinwohlgesteuerte und reproduktionsgeleitete Überwindung der finanzmarktdominierten Akkumationsdynamik und Profitlogik unter europäischer Exportwettbewerbshegemonie.
  3. Sozialökologischer Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft weg vom fossilen Regime in Richtung einer solaren Neubestimmung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses (jenseits eines technokratischen Green New Deal).
  4. Gerechte und solidarische Umverteilung von Vermögen, Lebenschancen, Freiheitspotentialen und Machtpositionen – auch und gerade im deutschlanddominierten Europa.
  5. Vornehmlich basisdemokratische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft mit der Perspektive einer breiten Selbstermächtigung und Selbstorganisation von gegenüber Brüssel und dem europäischen Kapital nichtentfremdeten BürgerInnen.
  6. Blockübergreifende Friedenspolitik, Flüchtlings-/Migrationsbewältigung und internationale Entwicklungszusammenarbeit (die ihren Namen verdient) zur Sicherung der Souveränität, Humanität und Solidarität von/mit Menschen und Länder, die derzeit von einem imperialen Zugriff von Machtinteressen im Westen wie im Osten (siehe aktuelles Beispiele der Ukraine und Syrien) und einer menschenverachtenden Flüchtlingspolitik in Europa betroffen sind.

Die zwei Ebenen gesellschaftlicher Verānderungen im Rahmen und jenseits des gerade heute widersprüchlichen “Kapitalismus, wie wir ihn kennen” (Harvey), die sich gegenseitig befruchten und welche die unproduktive Konfrontation zwischen Reform und Revolution aufheben sollten, sind somit folgende:

Das erste Standbein bezieht sich im wesentlich darauf, die alltägliche Kleinarbeit eines sozialen und politischen Engagements an der Basis strategisch zu fokussieren auf die Wiederaneignung und Konsolidierung

  • des öffentlich-rechtlichen Eigentums und gemeinschaftlicher commons,
  • des Non-Profit-Sektors in der solidarischen und genossenschaftlichen Ökonomie und im care-Bereich,
  • der öffentlichen, kommunalen und eigenunternehmerischen Daseinsvorsorge und Dienstleistungsbereitstellung,
  • von anderen gemeinwohlorientierten, solidarischen und selbstbestimmten Produktions-, Vermarktungs- und Lebensformen,
  • sowie von reproduktionsorientierter Sozialstaatlichkeit, Ethik und Verantwortung gegenüber Geflüchteten und Migranten sowie gegenüber zukünftigen Generationen überhaupt.

Das zweite Standbein der doppelten Transformation umschliesst die zuvor benannten Keime einer alternativen Veränderung von unten. Diese wären jedoch jetzt -zusammen mit weiteren eher makroökonomisch/-sozial ansetzenden Systemveränderungen, etwa in Bezug auf das europäisierte Exportmodell mit seiner immanenten Zwang zur inneren Abwertung- in ihrer tendenziell revolutionären Reichweite einzuüben, zu konsolidieren und auszureizen.

Damit sollte insbesondere angestrebt werden, die o.g Elemente alltäglicher Alternativpraxis aus ihren heute noch strukturell gegenläufigen Einbindungen in kapitalistische Reproduktionszwänge und entfremdende Profit- und Machtlogiken des neoliberalen Hegemoniemodells in Europa zu lösen, um eine grundlegend andere emanzipatorische Logik hin zu einem solidarischen Europa zu entfalten. Dazu gehört auch eine von den Interessen und Grundrechten subalterner Menschen, Klassen und Peripheriegesellschaften angeleitete Neufundierung der europäischen Verfassung hin zu einem sozial-ökologischen Projekt in wirtschafts-, finanz-, eigentums-, sozial-, umwelt-, migrations- und demokratiepolitischer Hinsicht (s. dazu schon die 10 Prinzipien von ATTAC Europa 2007).

Erst dann würde über die begrenzten Reformen der Position 1 hinausgegangen und eine sozial-ökologische Vergesellschaftung und Verfasstheit der europäischen Lebensweise auf den Weg gebracht werden.

Diese weitreichende Position wird derzeit, ohne wohl bisher mehrheitsfähig zu sein, in ATTAC – vor allem in der Projektgruppe “Wachstumskritik” und (noch als Minderheitsposition) in der AG Eurokrise- diskutiert und vertreten, darüber hinaus in der deutschen und europäischen Linken im Umfeld der Rosa Luxemburg-Stiftung (Brie u.a.) und der französischen Degrowth-Bewegung (Latouche u.a.).

Es bleibt den LeserInnen dieser Thesen überlassen, die prioritäre Position des Autors zu verorten und diese mit ihm und den TeilnehmerInnen am Themenabend zu debattieren.

Verwendete Quellen und weiterführende Literaturhinweise:
  1. ATTAC (Hrsg) (2006): Das kritische EU-Buch: Warum wir ein anderes Europa brauchen. 3. Ausgabe. Wien: Deuticke Verlag.
  2. ATTAC Europa (2007): 10 Prinzipien für einen demokratischen EU Vertrag.
  3. ATTAC KoKreis (2015): Nicht Austritt oder Abschaffung des Euro ist das Ziel, sondern der offensive Bruch von Europlus-Pakt, ESM, Fiskalpakt und ähnlichen Verträgen
    Thesen zur Debatte um Griechenland und den Euro. 28.08.2015.
  4. Blätter für deutsche und internationale Politik (Hrsg) (2015): Mehr geht nicht! Der Postwachstums-Reader. Berlin: blätter Verlag.
  5. Brand, Ulrich (2015): Sozial-ökologische Transformation als Horizont praktischer Kritik. Befreiung in Zeiten sich vertiefender imperialer Lebensweise. in: Martin, Dirk, Martin, Susanne, Wissel, Jens (Hrsg). Perspektiven und Konstellation kritischer Theorie. Münster: Westfälisches Dampfboot, 166-183.
  6. Brie, Michael (Hrsg.) (2014): Futuring. Perspektiven der Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus. Münster: Westfälisches Dampfboot.
  7. Buckel, Sonja u.a. (2012): Solidarisches Europa. Mosaiklinke Perspektiven. Hamburg: VSA-Verlag und Institut Solidarische Moderne.
  8. Crouch, Colin (2011): Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Frankfurt a. M: Suhrkamp/Insel.
  9. Europäische Kommision (2015): Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden. 5 Präsidenten-Papier. Vorgelegt von Jean-Claude Juncker u.a.
  10. Felber, Christian (2012): Retten wir den Euro! Wien: Deuticke Verlag.
  11. Habermas, Jürgen (2012): Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt a.M.: Suhrkamp / Insel.
  12. Harvey, David (2015): Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus. Berlin: Ullstein Verlag.
  13. Klein, Dieter (2013): Das Morgen tanzt im Heute.Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus. Hamburg: VSA-Verlag.
  14. Kalmring, Stefan (2012): Die Lust zur Kritik. Plädoyer für soziale Emanzipation. Berlin: Dietz Verlag.
  15. Lehndorff, Steffen (2015): Nach dem Plätzen der Hoffnungen: Die Debatte über den zweiten Schritt nach dem ersten. In: Sozialismus. Heft Nr. 9, Jg. 42, 35-39.
  16. Nölke, Andreas (2015): Abschied vom Euro? Europas Linke nach der Griechenlandkrise. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9, Jg. 60, 68-76.
  17. Sauer, Thomas und Peter Wahl (Hrsg.) (2013): Welche Zukunft hat die EU? Eine Kontroverse. Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac. Hamburg: VSA-Verlag.
  18. Wahl, Peter (2015): Linke Sakralisierung von Euro und EU. In: Sozialismus. Heft Nr. 10, Jg. 42, 32-35.
  19. Varoufakis, Yanis u.a. (2015). Ein Plan B für Europa. In: Neues Deutschland,12.09.2015.

 


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