Sehr geehrte Frau Abgeordnete, sehr geehrter Herr Abgeordneter,
mit Sorge verfolgen wir die laufenden Verhandlungen über eine europäische
Dienstleistungsrichtlinie. Der im Januar veröffentlichte Vorschlag der Europäischen
Kommission für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt [1] stellt
das bisher umfassendste Liberalisierungsvorhaben der Euro-päischen
Union dar. Sämtliche Dienstleistungen einschließlich weiter Bereiche
der Daseinsvorsorge sind von dem Entwurf betroffen. Nahezu 70 Prozent der EU-weiten
Wirtschaftstätigkeit soll auf einen Schlag dereguliert werden, ohne die Öffentlichkeit über
die Folgen zu informieren. Dies ist aus demo-kratischer Perspektive umso bedenklicher,
da die Richtlinie tief in die Kompetenzen auf Bundes-, Landes- und kommunaler
Ebene eingreift und damit das im EG-Vertrag verankerte Subsidiaritätsprin-zip
verletzt. Als besonders kritikwürdig erachten wir die folgenden Punkte:
- Die Richtlinie erfasst sämtliche Tätigkeiten, die gegen Entgelt
erbracht werden, mithin auch all jene öffentlichen Dienste für
deren Nutzung schon jetzt Gebühren zu entrichten sind: öffentlich-rechtlicher
Rundfunk, Verkehrsunternehmen, Ver- und Entsorger, Wasser- und Klärwerke,
Kindergärten, Krankenhäuser, Volkshochschulen und Universitäten.
Unionskompetenzen werden erstmals für die durch Sozialversicherungen
geregelten Gesundheits- und Pflegedienste sowie für den Hörfunk
begründet. Es ist nicht akzeptabel, dass die Kommission für weite
Bereiche des öffentlichen Sektors Fakten schafft, während die mit
dem Grünbuch und dem Weißbuch über “Dienstleistungen
von allgemeinem Interesse” begonnene Debatte über die Organisation
der Daseinsvorsorge in Europa noch längst nicht abgeschlossen ist.
- Nach Artikel 14 der Dienstleistungsrichtlinie dürfen die Mitgliedstaaten
künftig nicht mehr die Form der Niederlassung vorschreiben. Sie dürfen
nicht mehr verlangen, dass Dienstleister für eine Mindestdauer auf ihrem
Territorium tätig oder in den Unternehmensregistern eingetragen sind.
Ferner ist auch die oftmals rein formale Mehrfachregistrierung nicht zu unterbinden.
Mit diesen Verboten schafft die Kommission einen Anreiz zur Ausnutzung der
unterschiedlichen Regulie-rungsniveaus in der Europäischen Union durch
Sitzverlagerungen oder die Gründung von Briefkastenfirmen. Der Richtlinien-Entwurf
erleichtert damit nicht nur die Steuerflucht, sondern auch die Umgehung von
Umwelt-, Arbeits- und Gesundheitsstandards, Qualifikationsanforderungen und
Tarifverträgen.
- Ferner müssen die Mitgliedstaaten zahlreiche Vorschriften im Dienstleistungssektor
einer gegenseitigen Überprüfung unterwerfen und gegebenenfalls
beseitigen. Artikel 15 nennt u.a. Anforderungen an die Rechtsform, festgesetzte
Mindestpreise oder Zulassungsgrenzen. Eine Beseitigung von Vorschriften über
zulässige Rechtsformen behindert die Wahl von Organisationsformen für
kommunale Aufgaben, die die grundgesetztlich vorgeschriebene demokratische
Kontrolle sicherstellen. Ebenso können Vergünstigungen für
Gesellschaften “ohne Erwerbszweck” auf den Prüfstand kommen,
was die Gemeinnützigkeitsprivilegien freier Träger sozialer Dienste
beträfe. Durch die Deregulierung festgesetzter Mindestpreise geraten
nicht nur Honorarordnungen unter Druck, sondern auch Dumpingverbote. Schließlich
kann die Beseitigung von Zulassungsgrenzen einen ruinösen Verdrängungswettbewerb
in zahlreichen Gewerben vom Taxiunternehmen bis zur Arzt-praxis auslösen.
- Nach dem Herkunftslandprinzip (Artikel 16) unterliegen Dienstleistungserbringer
lediglich den Bestimmungen ihres Herkunftsmitgliedstaates. Kontrollen durch
Behörden des Ziellands sollen gänzlich unterbleiben. Da das Herkunftsland
aber weder ein übermäßiges Interesse noch die Kapazitäten
hat, die Auslandsgeschäfte der bei ihm registrierten Unternehmen zu
kontrollieren, un-terminiert die Richtlinie zum einen eine effektive Wirtschaftsaufsicht.
Im EU-Ausland ansässige Unternehmen können zu weitgehend unkontrollierten
Konditionen Dienstleistungen erbringen sowie in- und ausländische Arbeitskräfte
beschäftigen. Sie werden förmlich eingeladen, Anforderungen des
Arbeitsschutzes oder die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen
zu umgehen. Zum anderen bestünden die Standards des Ziellands nur noch
für inländische Unternehmen, nicht mehr für all jene, die
ihren Sitz in anderen EU-Staaten haben oder dorthin verlagern. Damit löst
das Herkunftslandprinzip einen schonungslosen Wettbewerb um die niedrigsten
Standards in der Europäischen Union aus.
- Nicht zuletzt verfügt der Artikel 15 in den Absätzen 5 und 6
ein faktisches Moratorium über jegliche Formen der Re-Regulierung. Demnach
dürfen neue Rechts- und Verwaltungsvorschriften nur dann eingeführt
werden, wenn sie diskriminierungsfrei, erforderlich und verhältnismäßig
sind. Schon im Entwurfsstadium sind sie der Kommission mitzuteilen, die den
betroffenen Mitgliedstaat gegebe-nenfalls auffordert, sie nicht zu erlassen
oder zu beseitigen. Mit dieser Klausel stellt die Kommission die Mitgliedstaaten
faktisch unter Vormundschaft.
Da wir nicht damit einverstanden sind, dass die sozialen Errungenschaften
in der Europäischen Union auf das Niveau einer Sonderwirtschaftszone
gedrückt
werden, fordern wir Sie auf, sich gegen die An-nahme dieses Richtlinienentwurfes
einzusetzen. Ferner fordern wir öffentliche Anhörungen unter
Beteiligung aller Betroffenengruppen sowie unabhängige Untersuchungen
der sozialen und demokrati-schen Folgen dieser geplanten Dienstleistungsrichtlinie.
Wir verweisen
in diesem Zusammenhang auf den Beschluss des Bundesrates vom April
dieses Jahres, der unmissverständlich klarstellt, dass der Kommissionsvorschlag
die Grundsätze
der Subsidiariät und Verhältnismäßigkeit verletzt
und das Herkunftslandprinzip nicht durch den EG-Vertrag gedeckt ist.
Ebenso verwahrt
sich die Länderkammer gegen das faktische Regulierungsmoratorium [2].
Über eine Antwort würden wir uns sehr freuen. Für ein Gespräch
stehen wir ebenfalls gern zur Verfügung. Abschließend möchten
wir darauf hinweisen, dass weitere Hintergrundinformationen auf unserer
Internetseite (www.attac.de/gats) zu finden sind.
Mit freundlichen Grüßen
[1] Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über
Dienstleistungen im Binnenmarkt. 25. Februar 2004, KOM(2004) 2 endgültig/2,
Brüssel.
[2]Beschluss des Bundesrates vom 2. April 2004, Drucksache 128/04, Randnummern 5,6
und 39.
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