Bolkestein-Briefaktion - Musterbrief an die Bayerischen EP-Ageordneten

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Arbeitskreis Wasser Attac-München
Christiane Hansen
Trautnerstr. 7
81243 München

Sehr geehrteR Frau, Herr München, den 6.11.04

Sehr geehrter Herr Abgeordneter,


mit Sorge verfolgen wir die laufenden Verhandlungen über eine europäische Dienstleistungsrichtlinie. Der im Januar veröffentlichte Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt[1] stellt das bisher umfassendste Liberalisierungsvorhaben der Europäischen Union dar. Sämtliche Dienstleistungen einschließlich weiter Bereiche der Daseinsvorsorge sind von dem Entwurf betroffen. Nahezu 70 Prozent der EU-weiten Wirtschaftstätigkeit soll auf einen Schlag dereguliert werden. Noch dazu ohne die Öffentlichkeit über die Folgen zu informieren. Dies ist aus demokratischer Perspektive umso bedenklicher, da die Richtlinie tief in die Kompetenzen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene eingreift und damit das im EG-Vertrag verankerte Sub-sidiaritätsprinzip verletzt. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf den Beschluss des Bundesra-tes vom April dieses Jahres, der unmissverständlich klarstellt, dass der Kommissionsvorschlag die Grundsätze der Subsidiariät und Verhältnismäßigkeit verletzt und das Herkunftslandprin-zip nicht durch den EG-Vertrag gedeckt ist. Ebenso verwahrt sich die Länderkammer gegen das faktische Regulierungsmoratorium[2].
Als besonders kritikwürdig erachten wir die folgenden Punkte:

  • Die Richtlinie erfasst sämtliche Tätigkeiten, die gegen Entgelt erbracht werden, mithin auch all jene öffentlichen Dienste für deren Nutzung schon jetzt Gebühren zu entrichten sind: öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Verkehrsunternehmen, Ver- und Entsorger, Wasser- und Klärwerke, Kin-dergärten, Krankenhäuser, Volkshochschulen und Universitäten. Unionskompetenzen werden erstmals für die durch Sozialversicherungen geregelten Gesundheits- und Pflegedienste sowie für den Hörfunk begründet. Es ist nicht akzeptabel, dass die Kommission für weite Bereiche des öffentlichen Sektors Fakten schafft, während die mit dem Grünbuch und dem Weißbuch über “Dienstleistungen von allgemeinem Interesse” begonnene Debatte über die Organisati-on der Daseinsvorsorge in Europa noch längst nicht abgeschlossen ist.
  • Nach Artikel 14 der Dienstleistungsrichtlinie dürfen die Mitgliedstaaten künftig nicht mehr die Form der Niederlassung vorschreiben. Sie dürfen nicht mehr verlangen, dass Dienstleister für eine Mindestdauer auf ihrem Territorium tätig oder in den Unternehmensregistern eingetragen sind. Ferner ist auch die oftmals rein formale Mehrfachregistrierung nicht zu unterbinden. Mit diesen Verboten schafft die Kommission einen Anreiz zur Ausnutzung der unterschiedlichen Regulie-rungsniveaus in der Europäischen Union durch Sitzverlagerungen oder die Gründung von Brief-kastenfirmen. Der Richtlinien-Entwurf erleichtert damit nicht nur die Steuerflucht, sondern auch die Umgehung von Umwelt-, Arbeits- und Gesundheitsstandards, Qualifikationsanfor-derungen und Tarifverträgen.
  • Ferner müssen die Mitgliedstaaten zahlreiche Vorschriften im Dienstleistungssektor einer gegen-seitigen Überprüfung unterwerfen und gegebenenfalls beseitigen. Artikel 15 nennt u.a. Anforde-rungen an die Rechtsform, festgesetzte Mindestpreise oder Zulassungsgrenzen. Eine Beseitigung von Vorschriften über zulässige Rechtsformen behindert die Wahl von Organisationsformen für kommunale Aufgaben, die die grundgesetztlich vorgeschriebene demokratische Kontrolle sicher-stellen. Ebenso können Vergünstigungen für Gesellschaften “ohne Erwerbszweck” auf den Prüf-stand kommen, was die Gemeinnützigkeitsprivilegien freier Träger sozialer Dienste beträfe. Durch die Deregulierung festgesetzter Mindestpreise geraten nicht nur Honorarordnungen unter Druck, sondern auch Dumpingverbote. Schließlich kann die Beseitigung von Zulassungsgrenzen einen ruinösen Verdrängungswettbewerb in zahlreichen Gewerben vom Taxiunternehmen bis zur Arzt-praxis auslösen.
  • Nach dem Herkunftslandprinzip (Artikel 16) unterliegen Dienstleistungserbringer lediglich den Bestimmungen ihres Herkunftsmitgliedstaates. Kontrollen durch Behörden des Ziellands sollen gänzlich unterbleiben. Da das Herkunftsland aber weder ein übermäßiges Interesse noch die Ka-pazitäten hat, die Auslandsgeschäfte der bei ihm registrierten Unternehmen zu kontrollieren, un-terminiert die Richtlinie zum einen eine effektive Wirtschaftsaufsicht. Im EU-Ausland ansässige Unternehmen können zu weitgehend unkontrollierten Konditionen Dienstleistungen erbringen so-wie in- und ausländische Arbeitskräfte beschäftigen. Sie werden förmlich eingeladen, Anforde-rungen des Arbeitsschutzes oder die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen zu umgehen. Zum anderen bestünden die Standards des Ziellands nur noch für inländische Unternehmen, nicht mehr für all jene, die ihren Sitz in anderen EU-Staaten haben oder dorthin verlagern. Damit löst das Herkunftslandprinzip einen schonungslosen Wettbewerb um die niedrigsten Standards in der Europäischen Union aus.
  • Nicht zuletzt verfügt der Artikel 15 in den Absätzen 5 und 6 ein faktisches Moratorium über jegli-che Formen der Re-Regulierung. Demnach dürfen neue Rechts- und Verwaltungsvorschriften nur dann eingeführt werden, wenn sie diskriminierungsfrei, erforderlich und verhältnismäßig sind. Schon im Entwurfsstadium sind sie der Kommission mitzuteilen, die den betroffenen Mitglied-staat gegebenenfalls auffordert, sie nicht zu erlassen oder zu beseitigen. Mit dieser Klausel stellt die Kommission die Mitgliedstaaten faktisch unter Vormundschaft.


Da wir nicht damit einverstanden sind, dass die sozialen Errungenschaften in der Europäischen Union auf das Niveau einer Sonderwirtschaftszone gedrückt werden, fordern wir Sie auf, sich gegen die An-nahme dieses Richtlinienentwurfes einzusetzen. Ferner fordern wir öffentliche Anhörungen unter Be-teiligung aller Betroffenengruppen sowie unabhängige Untersuchungen der sozialen und demokrati-schen Folgen dieser geplanten Dienstleistungsrichtlinie.
Ü ber eine Antwort würden wir uns sehr freuen. Für ein Gespräch stehen wir ebenfalls gern zur Verfü-gung. Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass weitere Hintergrundinformationen auf unse-rer Internetseite (www.attac.de/gats) zu finden sind.

Mit freundlichen Grüßen

[1] Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnen-markt. 25. Februar 2004, KOM(2004) 2 endgültig/2, Brüssel.

[2] Beschluss des Bundesrates vom 2. April 2004, Drucksache 128/04, Randnummern 5,6 und 39


GATS Kampagne, Attac Deutschland
www.gats-kritik.de - Version vom Di, 22.02.05

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