Brüssel, 29. März 2005
Sehr geehrte Frau Weinowski, sehr geehrter Herr Weinowski,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 10. März 2005 bezüglich des Richtlinienentwurfs über
Dienstleistungen im Binnenmarkt!
Ich stimme mit Ihnen überein, dass der Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission in
seiner jetzigen Form nicht akzeptabel ist. Das haben der zuständige Kommissar Charlie McGreevy
und der Präsident der Kommission José Manuel Barroso inzwischen auch begriffen.
Ich bin mir der Tragweite und der Auswirkungen des Richtlinienvorhabens sehr bewusst und teile durchaus
einige Ihrer Kritikpunkte.
Angesichts der vielen Probleme, die die Dienstleistungs-Richtlinie in sich birgt, hat der Ausschuss
für Binnenmarkt und Verbraucherschutz am 11. November 2004 eine öffentliche Anhörung
zur Dienstleistungs-Richtlinie veranstaltet. Dabei konnten gerade die von Ihnen aufgeworfenen Probleme
mit Experten diskutiert werden.
Darüber hinaus hat die Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament Anfang März
als erste Fraktion eine Stellungnahme zum Entwurf der DienstleistungsRichtlinie formuliert.
Hierin fordert die sozialdemokratische Fraktion eine grundlegende Überarbeitung des Richtlinienentwurfs.
Das Herkunftslandprinzip kann nicht Grundprinzip der Dienstleistungsrichtlinie sein.
Der ebenfalls beiliegenden Stellungnahme können Sie die Forderungen der sozialdemokratischen
Fraktion entnehmen.
Ich kann Ihre Bedenken bezüglich einer zu weit reichenden Liberalisierung und der Einführung
des Herkunftslandprinzips gut nachvollziehen. Die deutsche Sozialdemokratin Evelyn Gebhardt bereitet
deshalb als Berichterstatterin im federführenden Ausschuss eine umfassende Änderung
des Entwurfs der Europäischen Kommission vor.
Mit freundlichen Grüßen
Jo Leinen
Positionspapier angenommen von der Sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament
- 02/03/2005 Die Dienstleistungsrichtlinie
Hochwertige Dienstleistungen erhalten und das europäische
Sozialmodell schützen
Die Vollendung des Binnenmarktes im Bereich der Dienstleistungen ist eine Notwendigkeit. Die Fraktion
der Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen im Europäischen Parlament unterstützt voll
und ganz das Ziel einer legislativen Initiative in diesem Bereich. Dieses Ziel reiht sich in die dynamische
Entwicklung des Binnenmarktes ein.
Allerdings müssen dabei die Achtung der sozialen Kohäsion in der Europäischen Union
sowie ein hohes Maß an Schutz für die Verbraucher in Europa beachtet werden. Dieses Gleichgewicht
steht im Mittelpunkt der Ambition, die wir uns mit der Lissabon-Strategie als Ziel gesetzt
haben: Die Förderung eines Europas der Spitzenklasse.
In dieser Hinsicht ist der Richtlinienentwurf über Dienstleistungen im Binnenmarkt in der zur
Zeit von der Kommission vorgelegten Fassung nicht akzeptabel. Er stellt eine Gefahr für den Verbraucherschutz,
für das Europäische Sozialmodell und für die Dienstleistungen im allgemeinen
Interesse dar.
Wir begrüßen das neue Entgegenkommen der Europäischen Kommission für Veränderungen
an ihrem Entwurf. Für die Fraktion der europäischen Sozialdemokraten ist dies ein
erster Schritt auf dem Weg hin zu einer tiefgreifenden Überarbeitung des Vorschlags, die wir
in den nächsten Monaten anstreben.
Die sozialdemokratische Fraktion entwickelte ihre Position in enger Abstimmung und nach intensiver
Debatte mit sozialdemokratischen Mitgliedern nationaler Parlamente, sozialen Akteure und der gesamten
Zivilgesellschaft, die die Mängel und Widersprüche im Entwurf der Kommission auf breiter
Front angeprangert haben.
Zu Beginn der Beratungen für die erste Lesung über den Kommissionsentwurf durch das Europäische
Parlament stellen wir sechs Forderungen für die Annahme einer Richtlinie für
Dienstleistungen im Binnenmarkt auf:
- Die Garantie des sozialen Zusammenhalts der Union. Die Vollendung des Binnenmarktes im Bereich
der vom Richtlinienentwurf betroffenen Dienstleistungen muss zur Verwirklichung der sozialen Ziele
der Union beitragen. Diese Forderung setzt für jeden der betroffenen Sektoren eine Beurteilung
der Auswirkungen auf die Beschäftigung, die Qualität der Beschäftigung, den sozialen
Zusammenhalt und das Verbraucherschutzniveau voraus.
- Der Schutz hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen. Der Richtlinienentwurf darf die Kompetenz
jedes einzelnen Mitgliedsstaates, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu organisieren und
zu fördern, nicht in Frage stellen. Die Bedingungen, die an diese Dienstleistungen gestellt werden,
müssen mit ihrem Auftrag und Sinn in Einklang stehen. Die Schaffung eines allgemeinen Rahmens
für die vom Anwendungsbereich des Richtlinienentwurfs abgedeckten Dienstleistungen macht
einen gesetzlichen Rahmen für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse notwendig.
- Eine klare Definition des Anwendungsbereichs der Richtlinie. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse
müssen unmissverständlich vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden.
Insbesondere muss jede Zweideutigkeit vermieden werden, die die Abgrenzung zwischen den wirtschaftlichen
Bereichen auf der einen und den nichtwirtschaftlichen und sozialen Bereichen auf der anderen Seite
betrifft. Ebenso müssen Dienstleistungen ausgeschlossen bleiben, die bereits Gegenstand sektoraler
Regelungen sind.
- Das Herkunftslandprinzip kann nicht das Grundprinzip des Binnenmarktes für Dienstleistungen
sein. Harmonisierung und gegenseitige Anerkennung auf hohem Qualitätsniveau müssen die Ziele
des Binnenmarktes für Dienstleistungen bleiben. Solange dies nicht erreicht ist, ist die Anwendung
des Herkunftslandprinzips nicht akzeptabel. Es führt zu großer Rechtsunsicherheit
für die Dienstleistungserbringer, die Wirtschaftsakteure und die Verbraucher. insgesamt.
- Die Kohärenz der Europäischen Gesetzgebung und die Achtung der internationalen Verpflichtungen
der Union. Es ist von elementarer Bedeutung, dass der Richtlinienentwurf auf keinen Fall existierende
und laufende Gesetzgebung der Gemeinschaft einschränken darf, insbesondere im Hinblick
auf die Entsendung von Arbeitnehmern, die soziale Sicherheit von Wanderarbeitern und die gegenseitige
Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Darüber hinaus darf die Anwendung dieser Richtlinie
weder die Regelungen im Bereich der Arbeitsbedingungen unterlaufen, noch die Grundrechte von Arbeitnehmern
in Frage stellen, wie sie in der nationalen Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten der Europäischen
Union und durch Tarifvereinbarungen verankert sind.
- Eine effektivere Kontrolle der Dienstleistungen. Die Richtlinie muss den europäischen Verbrauchern
ein hohes Qualitätsniveau der Dienstleistungen garantieren. Wir wollen eine bessere Garantie
des Rechts auf Information und eine Kontrolle, die so nah wie möglich am Verbraucher ist.
Um dies zu gewährleisten, muss die Kontrolle im Zielland, in dem die Dienstleistung erbracht wird
erfolgen. Die Mitgliedsstaaten müssen die Möglichkeit haben, auf ihrem Territorium erbrachte
Dienstleistungen zu regulieren und zu kontrollieren, vor allem aus Gründen des öffentlichen
Interesses und in Übereinstimmung mit dem Vertrag.
Jo Leinen
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