18.05.2005
Brüssel, 18.04.05
Sehr geehrter Herr Reinhard,
vielen Dank für Ihren Brief zur von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Richtlinie
über Dienstleistungen im Binnenmarkt.
Ich finde es für meine Arbeit außerordentlich hilfreich, derartige inhaltliche Stellungnahmen
von den unterschiedlich Betroffenen zu erhalten.
Die in Ihrem Schreiben formulierten Bedenken sind schwerwiegend und müssen in den Abwägungsprozess
einfließen. Ich bin der Meinung, dass die Kommission die möglichen Folgen einer
solchen Dienstleistungsrichtlinie nicht ausreichend untersucht hat. Eine solche Richtlinie darf nicht
zu Lasten bestimmter Strukturen oder der öffentlichen Verwaltung gehen, sondern sollte alle
gleichmäßig be- oder vielmehr entlasten. Dafür arbeite ich.
Ich stimme mit Ihnen überein, dass u.a. die von Ihnen angesprochenen Punkte geklärt werden
müssen. Zusammen mit vielen weiteren Aspekten werden diese deshalb Gegenstand weiterer Erörterungen
im Ausschuss sein.
In der Anlage sende ich Ihnen den Fraktionsbeschluss, der ausführlicher Angaben zu einzelnen
auch von Ihnen angesprochenen Punkten macht.
Mit freundlichen Grüßen
Gegen die Bolkestein-Richtline: Grüne Alternativen
Warum sind die Grünen gegen diese Richtlinie?
Die Grünen unterstützen das Ziel, ungerechtfertigte Hindernisse bei der Freizügigkeit
von Dienstleistungen zu reduzieren, sprechen sich aber gegen die wachsende Neigung der EU-Kommission
aus, das Ziel einer Harmonisierung nach oben aufzugeben. Der Richtlinienentwurf für Dienstleistungen
im Binnenmarkt ist wegen der Beseitigung innerstaatlicher Bestimmungen ohne vorherige Harmonisierung
ungeeignet. Folglich sind die Grünen gegen die sogenannte Bolkestein-Richtlinie, insbesondere
aus den folgenden Gründen:
1. Der Rechtfertigungsgrund für den Kommissionsvorschlag ist eher ideologischer denn praktischer
Natur.
Die EU-Kommission stellte die Richtlinie im Januar 2004 als logisches und zentrales Element der Lissabon-Strategie
vor, dergemäß die EU bis zum Jahre 2010 zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten
wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden soll. Außerdem betrachtet die
EU-Kommission die Richtlinie als konkrete Umsetzung des EU-Vertrages, der die Freizügigkeit von
Dienstleistungen vorsieht. In Wirklichkeit haben die bisherigen Diskussionen um die Richtlinie gezeigt,
dass sie weder die nötige Rechtssicherheit, noch Transparenz bei grenzüberschreitenden
Dienstleistungen schafft. Niemand fordert wirklich eine so weit reichende Richtlinie. Dies wurde
besonders bei den Anhörungen deutlich, die vom Europaparlament im November 2004 abgehalten wurden
und bei denen sogar Arbeitgeber aus dem Dienstleistungssektor zum Ausdruck brachten, dass sie die
Richtlinie ablehnen.
2. Die Richtlinie wird zu Sozial- und Umweltdumping führen.
Die Richtlinie sieht das Herkunftslandprinzip als grundlegende Regel für den freien Verkehr von
Dienstleistungen vor (mit einer Reihe von Ausnahmen). Demnach wären Dienstleister nicht mehr
den Gesetzen und Bestimmungen desjenigen Landes unterworfen, in dem ihre wirtschaftliche Aktivität
stattfindet, sondern vielmehr des Landes, in dem sie ihren Firmensitz haben. Mit der Anwendung
des Herkunftslandsprinzips ohne vorherige Harmonisierung werden Dienstleister in Zukunft dazu neigen,
sich in den Mitgliedstaaten mit den niedrigsten Standards niederzulassen. Durch derartige Gesetze
würde die Europäische Union auf eine Harmonisierung auf hohem Niveau im Bereich Sozial-, Umwelt-
und Verbraucherschutzpolitik als zentralem Aspekt des Binnenmarktes verzichten.
3. Die Auswirkungen der Richtlinie auf Wachstum und Beschäftigung werden überschätzt.
Ein zentrales Argument, das immer wieder von der EU-Kommission in diesem Zusammenhang angeführt
wird, ist, dass Dienstleistungen ein riesiges Potential für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze
bieten. Die EU-Kommission hat wiederholt folgende Zahlen angeführt : Dienstleistungen
machen 70 % des nationalen BSP aus, jedoch nur 20% der Exporte. Es trifft zwar zu, dass der Dienstleistungssektor
viele neue Jobs geschaffen hat. Das heißt jedoch nicht, dass die Anzahl der Beschäftigten
in diesem Bereich durch mehr Wettbewerb auf der EU-Ebene steigen würde. Die meisten
Dienstleistungen decken lokale Bedürfnisse ab und es gibt für sie wenig Gründe,
ins Ausland abzuwandern. Die Bolkestein-Richtlinie würde eher die Entwicklung von großen
transnationalen Konsortien von Dienstleistungsanbietern begünstigen und dadurch kleinere Anbieter
vor Ort gefährden.
4. Der Anwendungsbereich ist viel zu weit gefasst und beinhaltet Dienstleistungen allgemeinen (wirtschaftlichen)
Interesses.
Der Richtlinienentwurf betrifft alle Dienstleistungen, abgesehen von drei Ausnahmen (Finanzdienstleistungen,
elektronische Kommunikation und Verkehr). Die meisten Dienstleistungen allgemeinen (wirtschaftlichen)
Interesses in Bereichen wie Gesundheitswesen, soziale Dienste, Kultur, Bildung, audiovisueller
und Medienbereich wären darin eingeschlossen, soweit der Empfänger ganz oder teilweise
die Kosten trägt. Es besteht weiterhin die Gefahr einer wachsenden Medienkonzentration und
eine Infragestellung der EU-Positionen bei den Verhandlungen des GATS. Trotz wiederholter Forderungen
von Seiten des Europäischen Parlamentes gibt es keinen begleitenden Rahmen-Richtlinienvorschlag
für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Der Bolkestein-Vorschlag gefährdet insbesondere
die Qualität sozialer und Gesundheitsdienste, die in allen Mitgliedstaaten von staatlich
finanzierten Solidarsystemen abhängig sind, aber auch von der Möglichkeit der Mitgliedstaaten,
verläßliche Vorausplanung durchzuführen.
5. Die Richtlinie steht potentiell im Widerspruch zu einigen Bestimmungen der neuen EU-Verfassung.
Im Gegensatz zu den Behauptungen mancher Verfassungsgegner, ist die Bolkestein-Richtlinie kein Ausdruck
"neoliberaler Politik", der sich aus dem Inkrafttreten der neuen Verfassung ergeben
würde. Sie ist vielmehr ein klares Beispiel für die "neoliberale Politik", die der
derzeitig geltende Vertrag von Nizza erlaubt. Selbst wenn die Verfassung keinerlei Garantien dafür
bietet, dass Gesetze im Stile der Bolkestein-Richtlinie nicht auch weiterhin verabschiedet werden
könnten, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass die Verfassung die Möglichkeit
einräumt, eine andere Politik zu betreiben. Es wäre möglich auf Grundlage der Verfassung
eine Rahmenrichtlinie zu schaffen, die die spezifische Rolle der allgemeinen (wirtschaftlichen)
Dienstleistungen bewahren und fördern würde.
6. Es gab bisher keine ernstzunehmende Untersuchung über die Auswirkungen der Richtlinie, weshalb
sie zu vielen rechtlichen Unwägbarkeiten führen könnte.
Das Herkunftslandsprinzip zum Beispiel gerät in Konflikt mit den Bestimmungen über vertragliche
und nicht-vertragliche Schuldverhältnisse (Rom 1 und 2). Die Tatsache, dass die Bolkestein-Richtlinie
zusammen mit anderen, dienstleistungsbezogenen europäischen Rechtsakten kumulativ
wirken würde (z.B. der Entsende-Richtlinie, der Richtlinien über "Fernsehen ohne Grenzen"
und derjenigen über unfaire Handelspraktiken sowie dem Richtlinienentwurf über
die Anerkennung beruflicher Qualifikationen) und dass Letztere nicht Vorrang vor der Bolkestein-Richtlinie
hätten, vergrößert diese juristischen Unwägbarkeiten noch weiter.
7. Die Richtlinie ist insbesondere unvereinbar mit der Entsenderichtlinie. Die Bolkestein-Richtlinie
sieht theoretisch (in Art. 17) vor, dass das Herkunftslandsprinzip nicht für die Entsenderichtlinie
gilt. Andererseits legt sie auch (in Art. 24) fest, dass die Mitgliedstaaten Dienstleister nicht
zwingen dürfen, von den Behörden des Gastlandes eine Genehmigung zu verlangen oder dort
einen Vertreter zu haben oder auf dem Territorium des Gastlandes Beschäftigungsunterlagen vorzuhalten.
Damit würde den Mitgliedstaaten die Durchführung wirkungsvoller Kontrollen der
Arbeitsbedingungen und der Einhaltung der Tarifverträge unmöglich gemacht, wodurch der soziale
Schutz der Arbeitskräfte und die Rolle der Sozialpartner in Frage gestellt würde.
8. Es gäbe bessere Wege, einige der zentralen Ziele der EU-Kommission zu erreichen.
Wenn das Ziel lautet, ungerechtfertigte Barrieren für die Freizügigkeit von Dienstleistungen
zu beseitigen und die bestehenden Bestimmungen zu vereinfachen, so sind die von der EU-Kommission
vorgeschlagenen Mittel ungeeignet. Das Prinzip des Herkunftslandes z.B. würde die Behörden
und die Justiz in den Mitgliedstaaten zwingen, sich mit 25 unterschiedliche Rechtssystemen in 20
verschiedenen Sprachen auseinanderzusetzen, was zu mehr (und nicht etwa weniger) Bürokratie führen
würde. Zahlreiche soziale und politische Akteure - die Grünen eingeschlossen - befürworten
zwar die Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen. Ein freier Markt für
kommerzielle Dienstleistungen könnte jedoch auch durch die Anwendung des entgegengesetzten
Prinzips geschaffen werden (Gastlandprinzip). Schrittweise Konvergenz unter den Mitgliedstaaten könnte
besser durch die Methode der "offenen Koordinierung" als durch die Beseitigung
einer Reihe von Anforderungen, die von den Mitgliedstaaten für die Genehmigung von Dienstleistungen
eingeführt wurden, erreicht werden, so wie es jetzt die Bolkestein-Richtlinie vorschlägt.
Alternativvorschläge
Die Grünen
9. Fordern die Rücknahme des Richtlinienentwurfs Bolkestein.
10. Fordern die EU-Kommission auf, eine Rahmenrichtlinie vorzuschlagen, um die grundlegenden Prinzipien
für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse festzulegen und die Voraussetzungen zu bestimmen,
unter denen eine Finanzierung durch die öffentliche Hand und der allgemeine Zugang zu diesen
Dienstleistungen ohne Diskriminierung hinsichtlich der sozialen Lage oder des Wohnortes sichergestellt
ist.
11. Fordern die EU-Kommission auf, eine Untersuchung über die Folgen der derzeitigen sektoralen
Liberalisierungen im Dienstleistungsbereich durchzuführen (Energie, Postdienste, Verkehr etc.),
bevor weitere Liberalisierungsvorschläge vorgelegt werden.
12. Fordern die EU-Kommission auf, eine verbesserte Entsenderichtlinie vorzulegen, in der die Rechte
der Arbeitnehmerinnen und der soziale Dialog gestärkt, das Anwendungsgebiet erweitert wird und
die Tarifverträge bei ihrer Umsetzung voll und ganz mit eingeschlossen werden.
13. Schlagen einen alternativen Ansatz für eine begrenzte Anzahl von wirtschaftlichen Dienstleistungen
vor. Dieser Alternativansatz sollte dem Ziel der gemeinschaftlichen Harmonisierung entsprechen
und auf folgenden Grundsätzen
basieren
a. Der Anwendungsbereich sollte mittels einer Positivliste definiert werden, so dass tatsächlich
nur wirtschaftliche Tätigkeiten von Selbstständigen auf Grundlage von Art. 47 EG-Vertrag
betroffen sind. Bereiche wie z.B. Bildung, Kultur, audiovisuelle Dienste, Gesundheitsdienste und
sonstige soziale Dienste, Beschäftigungsdienste, Wasser- und Energieversorgung, Abfallbeseitigung
und Umweltschutzmaßnahmen sind auszunehmen. Bolkesteins-Ansatz, der dagegen auf einem großen
Anwendungsbereich basiert und nur wenige Dienstleistungen explizit ausnimmt, lehnen wir ab.
b. bei der Freizügigkeit von Dienstleistungen sollte das Gastlandprinzip statt des Herkunftslandprinzips
gelten, solange es keine volle Harmonisierung hinsichtlich des Zugangs zu und der Ausübung
einer Dienstleistungsaktivität gibt, insbesondere bzgl. des Verhaltens des Dienstleisters,
der Qualität oder des Inhalts der Dienstleistung, der Werbung, der Verträge und der Haftung
des Dienstleisters.
c. Hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit, sollte die Methode der offenen Koordinierung Vorrang haben
statt eines gesetzgeberischen Ansatzes, um die Anforderungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten
im Bereich Versorgung mit Dienstleistungen vergleichen zu können. Dies führt dann schrittweise
zu mehr Konvergenz und dem Ziel zukünftiger Harmonisierung (sowie der Pflicht zu Ergebnissen
innerhalb eines bestimmten Zeitraums).
d. Schaffung eines einheitlichen Ansprechpartners und anderer administrativer Einrichtungen, um Dienstleistern
den Zugang zu relevanten Informationen zu ermöglichen und die Zusammenarbeit unter
den verschiedenen Behörden in den Mitgliedstaaten zu verbessern.
14. Fordern die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten auf, mehr EU-Programme im Rahmen der Europäischen
Beschäftigungsstrategie aufzulegen, um das Beschäftigungsniveau anzuheben und die
Chancengleichheit im Dienstleistungssektor zu vergrössern, insbesondere in den Bereichen Umweltschutz,
soziale Dienste, Kultur und Mobilität.
9.3.05
Gisela Kallenbach
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