22.04.2005
Brüssel, 22. April 2005
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 7. März 2005.
Ich teile einige Ihrer Bedenken in der Beratung um die Dienstleistungsrichtlinie. Zu Ihrer Information
lege ich mein Positionspapier dazu diesem Schreiben bei.
Allerdings muss ich die Gelegenheit nutzen, die fehlleitende und populistische Kampagne Ihrer Kollegen
in Frankreich zu verurteilen. Hier wird den Menschen Angst vor einer Verfassung gemacht, die in
Wirklichkeit in nie da gewesener Weise vor Neoliberalismus schützt. Auch dazu lege ich Ihnen Informationen
bei.
Mit freundlichen Grüßen,
Elmar Brok
Angst vor einer Neoliberalen Verfassung
Angst vor "Neoliberalismus" ist beim Vertrag für eine Verfassung für Europa genauso
wenig gerechtfertig, wie es Angst vor einer sozialen Übergewichtung wäre. Sicherlich
hat der Verfassungsvertrag Elemente, die auf eine gesunde Wirtschaftsentwicklung abzielen und dementsprechende
Ansprüche an den Wirtschaftsraum Europas stellen. Als Ausgleich bietet die Europäische
Verfassung aber auch eine umfangreiche Sozialcharta, die dem einzelnen Bürger Recht auf
Schutz und Anspruch gegenüber der EU-Gesetzgebung und Administration gibt (siehe Teil II, Titel
V - spricht wirklich für sich... siehe unten).
Die teils verbreitete Kritik, dass die Verfassung kein Recht auf Arbeit erteilt, ist realitätsfern,
da dieses Recht in keinem Land der EU existiert und weder einklagbar noch finanzierbar wäre.
Die Europäische Verfassung implementiert vielmehr das "Recht zu arbeiten" (Art.
II-75) und konkretisiert die Rechte, die ein Arbeitnehmer haben soll. Wesentlicher und festgeschrieben
sind sodann das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes (Art. II-75, Abs. 2) und das Recht auf "Bildung
und berufliche Ausbildung" (Art. II-74).
Entgegen anders lautender Kritik ist aber die Sozialpflichtigkeit des Eigentums geregelt. In Art II-77
ist sie "den Gründen des öffentlichen Interesses" sowie dem "Wohl der
Allgemeinheit" unter Gesetzesvorbehalt unterworfen. Die Konsequenz und der Weg sind damit ähnlich
wie im deutschen GG, nur anders formuliert. Dieser Formulierung geht lediglich etwas das Philosophische
und Selbstverpflichtende ab.
TITEL IV SOLIDARITÄT
ARTIKEL II-87 Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im
Unternehmen
Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertreter muss auf den geeigneten Ebenen
eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen
gewährleistet sein, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten
vorgesehen sind.
ARTIKEL II-88 Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen
Organisationen haben nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten
das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen
sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich
Streiks, zu ergreifen.
ARTIKEL II-89 Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst
Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst.
ARTIKEL II-90 Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften
und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung.
ARTIKEL II-91 Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige
Arbeitsbedingungen.
(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit,
auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.
Artikel II-92 Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz
Kinderarbeit ist verboten. Unbeschadet günstigerer Vorschriften für Jugendliche und abgesehen
von begrenzten Ausnahmen darf das Mindestalter für den Eintritt in das Arbeitsleben das Alter,
in dem die Schulpflicht endet, nicht unterschreiten. Zur Arbeit zugelassene Jugendliche müssen
ihrem Alter angepasste Arbeitsbedingungen erhalten und vor wirtschaftlicher Ausbeutung und vor
jeder Arbeit geschützt werden, die ihre Sicherheit, ihre Gesundheit, ihre körperliche, geistige,
sittliche oder soziale Entwicklung beeinträchtigen oder ihre Erziehung gefährden könnte.
ARTIKEL II-93Familien- und Berufsleben
(1) Der rechtliche, wirtschaftliche und soziale Schutz der Familie wird gewährleistet.
(2) Um Familien- und Berufsleben miteinander in Einklang bringen zu können, hat jeder Mensch
das Recht auf Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund sowie
den Anspruch auf einen bezahlten Mutterschaftsurlaub und auf einen Elternurlaub nach der Geburt oder
Adoption eines Kindes.
ARTIKEL II-94 Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung
(1) Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit
und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit
oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten, nach
Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.
(2) Jeder Mensch, der in der Union seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat und seinen Aufenthalt
rechtmäßig wechselt, hat Anspruch auf die Leistungen der sozialen Sicherheit und die sozialen
Vergünstigungen nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.
(3) Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die Union das
Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen,
die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen
sollen, nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.
ARTIKEL II-95 Gesundheitsschutz
Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach
Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und
Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union in allen Bereichen wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau
sichergestellt.
ARTIKEL II-96 Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse
Die Union anerkennt und achtet den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse,
wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit der
Verfassung geregelt ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union zu fördern.
ARTIKEL II-97 Umweltschutz
Ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität müssen in die Politik
der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.
ARTIKEL II-98 Verbraucherschutz
Die Politik der Union stellt ein hohes Verbraucherschutzniveau sicher.
Dienstleistungsrichtlinie: Ein neuer Ansatz ist notwendig
Sozialdumping vermeiden - keine uneingeschränkte Geltung des « Herkunftslandprinzips »
von Elmar Brok, MdEP (Der Autor ist Europaabgeordneter und Vorsitzender der EUCDA)
Im Februar 2004 hat die alte EU-Kommission dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat den
Gesetzgebungsvorschlag einer Dienstleistungsrichtlinie mit der Zustimmung der rot-grünen Kommissare
Schreyer und Verheugen vorgelegt. Noch im Dezember hat Kanzler Schröder dies als "logisch
richtigen und konsequenten Schritt" bezeichnet.
Das Ziel der Richtlinie ist auch richtig, nämlich die Erbringung von Dienstleistungen auf dem
EU-Binnenmarkt zu erleichtern. Immer häufiger klagen gerade deutsche mittelständische Unternehmen,
dass sie auf der jeweils anderen Seite der Grenze durch bürokratische Verfahren und Tricks
bei der Auftragsvergabe ausgebremst werden. Dies verhindert auch die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Nur hat das entscheidende Instrument, das "Herkunftslandprinzip", bei umfassender Anwendung
eine katastrophale Wirkung. Dies gilt umso mehr, da die Richtlinie nicht sauber zwischen dem dauerhaften
Niederlassungsrecht, das hier nichts zu suchen hat, und einer vorübergehend erbrachten
Dienstleistung unterscheidet. Damit könnte z.B. ein polnischer Betrieb ohne Rücksicht auf
deutsche Standards (insbesondere auch im Sozial-, Tarif- und Arbeitsrecht) ständig tätig
sein. Das Resultat: Ein dramatisches Sozialdumping und das Ende des hiesigen Mittelstands, besonders
des Handwerks.
Auch ist es nicht hinnehmbar, dass die Kontrolle der Unternehmen im Herkunftsland stattfinden soll.
Wie sollen portugiesische Behörden Kontrollen bei Tätigkeiten in Deutschland durchführen,
wie Verbraucher und Mitbewerber vor unredlichem Verhalten geschützt werden? Damit werden
meines Erachtens berechtigte Anliegen von Verbrauchern, Arbeitnehmern sowie kleinen und mittleren Unternehmen
missachtet.
Deshalb kann man nach den bisherigen Debatten in der EVP-Fraktion, innerhalb der EUCDA sowie mit Gewerkschaften
und anderen Verbänden nur einfordern:
• die Erbringung von Dienstleistungen muss sozialen, ökologischen und qualitativen Anforderungen
genügen. Dies folgt schon aus dem Gebot der Sozialen Marktwirtschaft, dem Leitmotiv von CDA
und CDU, das auch die EUCDA innerhalb der EVP immer wieder betont.
• wichtige Schutzbereiche - etwa der Schutz der öffentlichen Sicherheit, der Verbraucherschutz,
die Arbeitsbedingungen, der Arbeitsschutz, die Anerkennung der Berufsqualifikationen - unterliegen
nicht dem Herkunftslandprinzip
(Die sogenannte „Entsenderichtlinie" regelt, dass in den Bereichen Mindestlohn, Höchstarbeitszeit,
Mindestruhezeit, bezahlter Jahresmindesturlaub, Mindestlohnsätze, Bedingungen für
die Überlassung von Arbeitskräften, Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz,
Schutzmassnahmen für Schwangere, Kinder und Jugendliche, Gleichbehandlung von Männern
und Frauen die Bestimmungen des Landes gelten, in dem eine Leistung erbracht wird. In Deutschland
gilt diese Bestimmung derzeit nur in der Baubranche; es ist ggf. zu überlegen, sie auf andere
Branchen und Sektoren zu übertragen, was aber bedeutet, in diesen Bereichen auch in Deutschland
allgemein verbindlich einen Mindestlohn einzuführen.)
• unterschiedliche Standards in den genannten Bereichen dürfen nicht dazu führen, dass Unternehmen
aus Ländern mit Niedrigststandards alle anderen Unternehmen am Markt verdrängen
(Sozialdumping)
• keine Anwendung des Herkunftslandprinzips im Sozial- und Tarifrecht, solange die Unterschiede noch
so groß sind
• unlauterer Wettbewerb durch Entsendefirmen, die ihre Beschäftigen europaweit unter Tarif und
Mindestlohn einsetzen, durch kriminelle Leiharbeitsfirmen oder durch « Briefkastenfirmen »,
die sich hinter Postfachadressen im Ausland verbergen, muss durch rechtliche Regelungen, einen
geregelten Informationsaustausch und nachfolgende Überprüfung von vorneherein unterbunden
werden
• die Kontrolle der Unternehmen vor Ort muss gewährleistet sein; vor Inkrafttreten einer entsprechenden
Richtlinie ist der Aufbau eines funktionsfähigen europaweiten Netzwerks nationaler Inspektionsdienste
unabdingbar. Dieses muss ständig auf seine Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit
überprüft werden
• weder die Erbringung von Diensten von allgemeinem Interesse noch die Ausübung öffentlicher
Gewalt dürfen durch die Regelungen zur Erbringung von Dienstleistungen im Binnemarkt eingeschränkt
werden. Die Mitgliedstaaten müssen für die Organisation des Gesundheitswesens,
der gesetzlichen Krankenversicherung und der medizinischen Versorgung verantwortlich bleiben.
Vor dem Hintergrund dieser Rahmenkriterien wird zu erörtern sein, wo und wie das Herkunftslandprinzip
denn dann gelten soll. Gegebenenfalls sind die entsprechenden Sektoren und Branchen (in einer
Art „Positivliste") festzulegen. Auf jeden Fall muss sichergestellt werden, dass nationale Standards
oder europäische Mindestnormen, die zum Beispiel
- die technische Sicherheit,
- den Verbraucherschutz
- Haftungs- und Gewährleistungsansprüche
- Fragen der beruflichen Qualifikation und ihrer Anerkennung
- die Arbeitsbedingungen (einschließlich Lohn) und den Arbeitsschutz
betreffen, nicht unterlaufen werden. Die Kontrollverantwortung und -befugnis muss auf jeden Fall bei
dem Mitgliedstaat belassen werden, in dem die Dienstleistung erbracht wird. Dies betrifft insbesondere
den Kampf gegen illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit.
Der Experte aus dem Europäischen Parlament Joachim Würmeling hält es sogar für
möglich, eine Einschränkung auf solche unbedenklichen Bereiche wie Buchführung und Werbung
zu begrenzen.
Eine europäische Richtlinie, die sich an diesen Kriterien ausrichtet, unterscheidet sich im Ansatz
und in der Methodik jedoch sehr von dem fetzigen Kommissionsentwurf. Die neue Kommission hat so
bereits angekündigt, nach der ersten Lesung eine Neufassung vorzulegen.
Der Diskussionsprozess muss jetzt in die Phase treten, in der man gemeinsam an pragmatischen Lösungen
arbeitet, die sich am Wohl und am Schutzbedürfnis der Menschen ausrichten. Wir brauchen
ein differenziertes und flexibles europäisches Regelwerk. Hierzu müssen die europäischen
Institutionen mit den Praktikern aus Wirtschaft, Arbeitnehmervertretungen und Verbraucherverbänden
zusammenwirken.
Elmar Brok
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