21.04.2005
Brüssel, den 21. April 2005
Betr.: Ihr Schreiben vom 7. März
herzlichen Dank für Ihre Nachricht zur geplanten Dienstleistungsrichtlinie der EU-Kommission.
Ich finde es ermutigend, dass Sie sich mit diesem Thema befasst haben. Als Obmann und "Schattenberichterstatter"
der Fraktion im federführenden Binnenmarkt- und Verbraucherschutzausschuss
des Europäischen Parlaments befasse ich mich seit längerem detailliert mit dieser Gesetzesinitiative
der Kommission.
Ich teile Ihre Sorgen vollständig. Wir haben am 11. November ein Expertenhearing im EP zu dieser
Frage gehabt, in dem einige Experten die Kritik auch sehr deutlich bestätigt haben. Auch in
Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen, Kommunalabgeordneten,
Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern bin ich in meiner kritischen Position
fast immer bestärkt worden.
Ich werde erstens versuchen, dazu beizutragen, dass diese Richtlinie grundsätzlich verhindert
wird, zweitens zumindest die von Ihnen aufgeworfenen Probleme völlig anders als im Gesetztext
vorgesehen gelöst werden: Herausnahme des öffentlichen Sektors und vor allem der Bereiche
der Daseinsvorsorge, Ablehnung des Herkunftslandsprinzips, Harmonisierung statt Deregulierung, Erhalt
sozialer, beschäftigungspolitischer und Umweltstandards etc. Die Berichterstatterin, Frau Gebhardt,
teilt im übrigen viele dieser Kritiken und wird meine aktive Unterstützung haben.
Ich lege Ihnen weitergehende Informationen über unsere Positionen bei. Mit freundlichen Grüßen
und allen guten Wünschen
Europa droht ein gnadenloser Unterbietungswettlauf - Der EU-Binnenmarkt für Dienstleistungen
-
Liberalisierung, Deregulierung, mehr Wettbewerb und Vollendung des europäischen Binnenmarkts
sind die abstrakten, aber alles dominierenden Ziele der Europäischen Kommission und der europäischen
Regierungen. Die Auswirkungen sind konkret und fast immer unsozial. Nun holt die EU-Kommission
zu einem neuen, besonders folgenschweren Schlag aus. Es geht um die Dienstleistungen, immerhin
70 Prozent der Bruttowertschöpfung und mehr als drei Viertel der Beschäftigung in Europa.
Der größte Teil davon (die Hälfte der gesamten Wirtschaftstätigkeit in der EU)
soll nach einem Richtlinienvorschlag der EU-Kommission einem liberalisierten europäischen Binnenmarkt
für Dienstleistungen unterworfen werden. Es sollen nicht gemeinsame Normen für den
Verbraucher- und Umweltschutz, Qualitäts- und Sozialstandards und Normen vereinbart werden, sondern
die Bestimmungen des Herkunftslandes gelten.
Im Klartext: Unternehmen, die real oder auch nur mit einem Briefkasten in einem Mitgliedsland mit
niedrigen Standards angesiedelt sind, dürfen diese überall in der EU praktizieren. Dem Abwärtstrend
werden Tür und Tor geöffnet. Verbrauchern und Arbeitnehmern droht ein gnadenloser
Wettlauf um niedrige Beschäftigungs-, Umwelt- und Qualitätsstandards. Nicht zuletzt
werden auch die öffentlichen Dienstleistungen von Kommunen und regionalen Körperschaften
gefährdet.
Die Richtlinie gilt für fast alle Dienstleistungsbereiche - vom Handel über Reparatur- und
Wartungsbetriebe, Tourismus, Bauwirtschaft, Personalagenturen bis hin zu freien und reglementierten
Berufen (z.B. Architekten, Ingenieure, Steuerberater, Rechtsanwälte, Notare usw.). Es geht also
um ein weit reichendes Vorhaben mit größten Auswirkungen für uns alle.
Unterbietungswettlauf bei Standards: Das Herkunftslandprinzip
Den liberalisierten EU-Binnenmarkt für Dienstleistungen will die Richtlinie in einer Hau-Ruck-Aktion
schaffen. Staatliche Auflagen an niederlassungswillige Dienstleister aus dem EU-Ausland sollen
teils sofort, teils schrittweise abgeschafft werden. Um den freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr
zu fördern, soll in der Regel das so genannte „Herkunftslandprinzip" gelten.
Demnach unterliegt „der Dienstleistungserbringer einzig den Rechtsvorschriften des Landes (...),
in dem er niedergelassen ist." Das Herkunftsland soll denn auch kontrollieren, ob seine im
EU-Ausland tätigen Dienstleister dort die heimischen Vorschriften einhalten.
Ob das in der Praxis funktionieren kann, ist mehr als fraglich. Denn z.B. spanische Behörden
können ja mangels staatlicher Hoheitsbefugnisse keine Kontrollen in Frankreich oder Polen durchführen.
Die Zielländer dürfen
hingegen „die Erbringung von Dienstleistungen durch in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene
Dienstleistungserbringer nicht beschränken". Auflagen und Kontrollen des Tätigkeitslands
würden so gänzlich untersagt.
Die Folge wäre, so der Bundesrat, "dass im jeweiligen Mitgliedstaat kein einheitliches Recht
gelten würde, was das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit beeinträchtigt. Das
Recht wäre von Person zu Person, je nach Herkunft, verschieden, was die Rechtsanwendung erschwert."
In der Tat: In jedem einzelnen Mitgliedstaat würden künftig bis zu 25 verschiedene
Unternehmens-, Sozial- und Tarifrechtsysteme usw. nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren.
Eine effektive Wirtschaftsaufsicht würde in der Europäischen Union so faktisch außer
Kraft gesetzt. Künftig könnte sich jedes Unternehmen durch Sitzverlagerung oder die simple
Gründung einer Briefkasten-Firma im EU-Ausland lästiger inländischer Auflagen entledigen.
Örtliche Tarifverträge, Qualifikationsanforderungen, Standards und Auflagen beim
Arbeits-, Umwelt oder Verbraucherschutz könnten auf einfache und billige Weise unterlaufen werden.
Im Ergebnis würden durch die Richtlinie ungleiche Wettbewerbsbedingungen im EU-Binnenmarkt
geschaffen, die in einen radikalen Unterbietungs- und Dumpingwettlauf münden.
Die in der Richtlinie vorgesehenen Verbote von Auflagen (dazu zählt eben auch die Durchsetzung
bestehender nationaler Standards) erstrecken sich auf sämtliche Verwaltungsebenen und widersprechen
damit dem im EG-Vertrag verankerten Subsidiaritätsprinzip. Die einschlägigen Bestimmungen
des EG Vertrags besagen nur, dass Dienstleister aus dem EU-Ausland bei der Niederlassung (Artikel
43 EGV) und beim freien Dienstleistungsverkehr (Artikel 50 EGV) „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats
für seine eigenen Angehörigen" behandelt werden sollen. Nirgendwo ist im EG-Vertrag
davon die Rede, dass das Aufnahmeland ihnen erlauben muss, nach dem Recht ihres Herkunftslandes
tätig zu werden.
EU-Entsenderecht: nicht mehr kontrollierbar
Schon heute können z. B. die Bauarbeiter portugiesischer, britischer oder spanischer Subunternehmen
im Rahmen des freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs bis zu 24 Monate auf
bundesdeutschen Baustellen arbeiten. Nach dem bestehenden EU-Recht zur Entsendung von Arbeitnehmern
müssen dabei die „Kernarbeitsnormen" des Bestimmungslandes gelten - etwa gleiches Mindestentgelt,
gleiche Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten etc. für entsendete wie einheimische Arbeitnehmer
am gleichen Arbeitsort. Der Richtlinienentwurf zum Dienstleistungsbinnenmarkt bestimmt dagegen,
dass das Entsendeland für die Einhaltung dieser Vorschriften zuständig werden soll, und
dem Bestimmungsland werden alle effektiven Kontrollmöglichkeiten genommen.
So darf das Bestimmungsland einem grenzüberschreitend tätigen Dienstleistungserbringer nicht
mehr vorschreiben, eine Niederlassung zu unterhalten, eine Meldung abzugeben, eine Genehmigung
zu beantragen,
eine Registrierung vorzunehmen, eine Anschrift zu nennen, eine vertretungsberechtigte Person zu stellen
oder Sozialversicherungsunterlagen ihrer Arbeitnehmer vorzuhalten oder aufzubewahren. Dies gilt
sowohl für die Beschäftigung inländischer Arbeitskräfte als auch für Entsendekräfte
aus anderen EU-Ländern oder aus Drittstaaten. Die deutschen Sozialversicherungsträger
wundern sich zu Recht, „wie dann die anzuwendenden Rechtsvorschriften bzw. die Sozialversicherungspflicht
(...) zweifelsfrei festgestellt werden sollen".
Öffentliche Daseinsvorsorge: Kommunen und Länder unter Druck
Die Richtlinie verwischt die bestehenden Unterschiede zwischen öffentlichen bzw. gemeinwohlorientierten
und privatwirtschaftlichen Dienstleistungen. Unter dem Begriff Dienstleistung versteht sie
„alle selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten (...), die in der Regel gegen Entgelt
erbracht werden (...)." Entscheidendes Merkmal für das "Entgelt". ist, dass es
eine wirtschaftliche Gegenleistung für die erbrachte Dienstleistung darstellt - unabhängig
davon, wie diese wirtschaftliche Gegenleistung finanziert wird.
Wirklich sicher ist nur, dass hoheitliche Aufgaben des Staates (z.B. Militär, Polizei, Gefängnisse)
außerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinie bleiben, ebenso wie z. B. kostenloser
öffentlicher Schulunterricht.
Wie steht es jedoch um kommunale oder regionale Dienstleistungen: z. B. Ver- und Entsorger, Wasser-
und Klärwerke, Kindergärten, Krankenhäuser, öffentliche Schwimmbäder, Volkshochschulen
oder Universitäten? Für deren Dienstleistungen werden gewöhnlich Gebühren
erhoben, also Entgelte. So wie der Begriff „Dienstleistungen" in der Richtlinie definiert
wird, wären offenbar auch große Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge betroffen.
Die Wasser- und Abwasserwirtschaft, die Abfallwirtschaft, Mess- und Prüfstellen wie z.B. der
TÜV werden mit einigen spezifischen Regelungen im Richtlinienentwurf sogar ausdrücklich
benannt.
Andererseits hat die Kommission gerade erst mit ihrem Weißbuch über „Dienstleistungen von
allgemeinem Interesse" eine Debatte angestoßen, wie die öffentliche Daseinsvorsorge
durch das EU-Recht künftig zu behandeln ist. Mit dem Richtlinienentwurf zum Dienstleistungsbinnenmarkt
würden hingegen harte Fakten geschaffen, bevor diese Diskussion ernsthaft begonnen hat,
und die Rechte der Mitgliedsländer beeinträchtig. Der Bundesrat kritisierte den Richtlinienentwurf
daher zu Recht mit dem Argument, "dass Regelungen der Daseinsvorsorge grundsätzlich
Sache der Mitgliedstaaten sind."
Eingriff in die Sozialschutzsysteme
Nach geltendem EU-Recht sind ausschließlich die Mitgliedstaaten für die Organisation ihres
Gesundheitswesens und ihrer sozialen Sicherungssysteme zuständig. Mit einer sozialpolitischen
EG-Richtlinie koordiniert sie die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten. So können
z.B. Rentenansprüche aus einer beruflichen Tätigkeit im EU-Ausland übertragen und die
Übernahme der ärztlichen Behandlungskosten bei Urlaubsaufenthalten geregelt werden.
Der neue Richtlinienentwurf betrifft aber nun ausdrücklich auch Gesundheits- und Pflegedienste.
Erstmals würde so mit einer Liberalisierungsrichtlinie in die nationalstaatlichen Sozialschutzsysteme
eingegriffen. Der Kommissionsentwurf will z.B. Fragen der Kostenerstattung von medizinischen
Behandlungen im Ausland regeln, um europaweit die Mobilität von Patienten zu fördern. So
schafft er ein Einfallstor für einen verschärften Kostenwettbewerb der nationalstaatlichen
Gesundheitssysteme. Parallel findet längst schon eine Diskussion über das Fernziel dieser
Bemühungen statt: einen liberalisierten EU-Binnenmarkt für Gesundheits- und Pflegedienste.
Die Richtlinie stoppen!
Die Europaabgeordneten der PDS und ihre Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion der Vereinten Europäischen
Linken/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament fordern die Europäische
Kommission auf, diesen verheerenden Richtlinienvorschlag zurückzuziehen. Wir erwarten
von der rotgrünen Bundesregierung und den Vertretern des Bundesrats, dass sie diese Richtlinie
im Rat der Europäischen Union konsequent ablehnen. Auch das Europäische Parlament muss seine
Zustimmung verweigern.
Wir fordern die Menschen in Deutschland und Europa auf: Informieren Sie sich! Schreiben Sie Bundeswirtschaftsminister
Wolfgang Clement und ihren Europaabgeordneten Ihre Meinung über diese Richtlinie!
Unterstützen Sie den Protest von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen!
Informieren Sie sich!
Den Richtlinienentwurf der Kommission und weitere EU-Dokumente zum Dienstleistungsbinnenmarkt finden
Sie im Internet unter: http://www.europa.eu.int/comm/internal market/de/services/services/index.htm
Ausführliche kritische Analysen des Richtlinienentwurfs und die Stellungnahme des Bundesrats
dazu bieten die Europaabgeordneten der PDS und Attac Deutschland unter:
http://www.pds-europa.de und http://www.attac.de/gats/
Protestieren Sie!
Einen Muster-Protestbrief zur EU-Rahmenrichtlinie sowie die Post- und EMail-Adressen der deutschen
Europaabgeordneten und der Bundesregierung finden Sie hier:
http://www.pds-europa.de
Andre Brie
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