Bolkestein Briefaktion - MdB, Hildegard Wester, SPD

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Berlin, 10. März 2005

Sehr geehrter Herr Reinhard,

Vielen Dank für Ihr Schreiben vom 16. Februar 2005 zu den Verhandlungen über die Europäische Dienstleistungsrichtlinie. In Ihrem Brief haben Sie sich besorgt über den zu Beginn des Jahres 2004 veröffentlichten Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt geäußert,

Damit haben Sie ein Thema angesprochen, mit dem sich die SPD kritisch auseinandersetzt. Sie setzt sich für einen fortschreitenden Integrationsprozess in Europa ein. Die europäische Einigung kann aber nur dann erfolgreich und von den EU-Bürgern akzeptiert sein, wenn Wettbewerb und sozialer Ausgleich gleichermaßen entwickelt werden. Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD (AfA) und der Großteil der Mitglieder der SPDBundestagsfraktion befassen sich seit langem mit der Problematik und haben hierzu Standpunkte formuliert, die auch ich unterstütze.

Der von der Europäischen Kommission vorgelegte Vorschlag für die EU-Dienstleistungsrichtlinie ist Bestandteil der Lissabon-Strategie, die vom Europäischen Rat am 23./24. Mart 2000 angenommen wurde, und die neben einer Vielzahl von wirtschaftlichen und sozialen Zielsetzungen dazu beitragen soll, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität in der Europäischen Union zu steigern und mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Allerdings wollen wir keinen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne und schlechtesten Arbeitsbedingungen! Wie die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD bin auch ich der Meinung, dass eine geänderte Dienstleistungsrichtlinie mindestens die folgenden Anforderungen erfüllen muss:

Bei grenzüberschreitendem Einsatz von Beschäftigten muss grundsätzlich das Arbeitsortsprinzip für alle Sozial- und Arbeitsbedingungen gelten. Die Einhaltung muss von den Behörden am Arbeitsort kontrolliert und durchgesetzt werden können. Das kollektive Arbeitsrecht am Arbeitsort muss für alle Beschäftigten und Unternehmen Anwendung finden. Das Herkunftslandprinzip darf keineswegs der allgemeine Grundsatz sein, sondern kommt höchstens für abgrenzbare Teilaspekte in wenigen Sektoren als Lösungsansatz in Frage. Harmonisierung auf hohem Niveau und eine dem jeweiligen Sektor gerecht werdende Regulierung haben eindeutig Vorrang vor einem chaotischen Standardwettbewerb nach unten.

Beachtung aller europäischen Ziele und des Subsidiaritätsprinzips statt Schaffung einer Einbahnstraße zur Deregulierung und Privatisierung. Die gesamtgesellschaftlichen Interessen dürfen keineswegs unter die kurzfristigen Interessen einer kleinen Gruppe von Unternehmen untergeordnet werden.

Sektorale Unterschiede müssen beachtet werden, denn wir können keine undifferenzierte Gleichmacherei gebrauchen: die Pflege von Menschen erfordert völlig andere Regeln als z.B. die Wartung eines Kopierers.

Für öffentliche Dienstleistungen im Bereich der sozialen Dienste, Bildung und Erziehung und ganz allgemein der Daseinsvorsorge darf kein Privatisierungszwang geschaffen werden, auch nicht, wenn dafür Entgelte erhoben werden. Es muss den Kommunen, Ländern und Staaten selbst überlassen bleiben, ob sie bestimmte Dienstleistungen auch bei Entgeltlichkeit weiterhin gemeinnützigen bzw. öffentlichen Anbietern vorbehalten wollen.

Qualitätsstandards und Regeln im öffentlichen Interesse am Ort der Erbringung müssen weiterhin gegenüber allen Anbietern durchgesetzt werden können. Die diskriminierungsfreie Einführung höherer Standards für die Dienstleistungserbringung muss auf allen Gebieten weiterhin möglich bleiben. Ein europäischer Wettbewerb um die niedrigsten Standards muss ausgeschlossen werden!

Der federführende Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz im Europäischen Parlament hat am 11.11.2004 eine erste Anhörung zur EU-Dienstleistungsrichtlinie durchgeführt. Eine 1. Lesung im Europäischen Parlament wäre grundsätzlich noch vor der Sommerpause 2005 möglich. Nach dem ursprünglich vorgegebenen Zeitplan der Kommission sollte die Dienstleistungsrichtlinie bis Ende 2005 durch das Europäische Parlament und den Rat angenommen werden und im Jahr 2007 in Kraft treten.

Dieser Zeitplan scheint aber in Anbetracht des wachsenden Widerstandes in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten nicht mehr durchsetzbar. Dank der breiten und öffentlichen Kritik, zu der Sie mit Ihrem Schreiben ja ebenfalls beigetragen haben, ist wohl nicht mehr damit zu rechnen, dass der Richtlinienvorschlag über Dienstleistungen im Binnenmarkt in seiner ursprünglichen Fassung verabschiedet werden wird.

Wir wollen Globalisierung sozial und ökologisch gestalten. Nicht nur Handel und Investitionen müssen Schutz genießen, sondern auch Menschen. Deshalb müssen Marktöffnungsschritte, wie der Abbau bestehender Hemmnisse im Dienstleistungsbereich, im Einklang mit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung stehen.

Ich danke für Ihre Anregungen und Ihre konstruktive Kritik bezüglich des Richtlinienvorschlags über Dienstleistungen im Binnenmarkt. Seien Sie versichert, dass die SPD-Bundesfraktion den weiteren Verfahrensverlauf sehr aufmerksam und kritisch begleiten wird.

Mit freundlichen Grüßen

Hildegard Wester


GATS Kampagne, Attac Deutschland
www.gats-kritik.de - Version vom Thu, 07.04.2005

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